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ОглавлениеEINE KÜCHE VIELER REGIONEN
Westslawische Volksstämme siedelten sich einst im Gebiet des heutigen Polens vor allem in den fruchtbaren Regionen um die Flüsse herum an. Hier konnten sie Ackerbau treiben und Vieh halten. Der Name Polen leitet sich denn auch von den Polanen ab, die sich zwischen Oder und Weichsel, vor allem um Posen und Gnesen herum, niederließen. Deren Name wiederum geht auf »pole« für Feld zurück.
In der fruchtbaren Region Großpolen rund um Gnesen, der ersten Hauptstadt des polnischen Königreiches, ist man stolz auf das hier prächtig gedeihende Gemüse, vor allem auf den berühmten Spargel. Andere Siedler zog es an die Küste, die zwar kargere Böden hatte, dafür aber reich an Fisch war. So ist viel Fisch, von Fischsuppe über eingelegten Hering bis zu geräuchertem Aal, in der Küche Pommerns zu finden. Ergänzend wurde die Kartoffel hier zu einem wichtigen Teil des Speiseplanes, denn sie gedieh in den Böden optimal. Die Gebiete der Tatra wiederum waren das Revier von Jägern und Viehzüchtern. Daher sind neben Fleisch Milchprodukte traditionelle Nahrungsmittel der Region und noch heute kommt der berühmte Oscypek, ein geräucherter Schafskäse, von hier. Lange Zeit entwickelten sich die einzelnen Gegenden unabhängig voneinander und die so gewachsenen regionalen Unterschiede lassen sich bis heute noch finden. Eine exakte Einteilung dieser kulinarischen Regionen vorzunehmen ist schwierig, doch es sind mindestens zehn an der Zahl, die sich unterscheiden lassen: Podhale, Masowien, Großpolen (Wielkopolska), Schlesien, Podlasie, Kleinpolen, Kurpie, Kujawien, Ermland-Masuren und die Pommersche Seenplatte. Auch von außen wurde die polnische Küche beeinflusst. Die Ansiedlung von Armeniern im 14. Jahrhundert auf Betreiben der Politik hin sowie jüdische Zuwanderer bereicherten den polnischen Speiseplan ebenso wie die Teilung des Landes, die außerdem zu kulinarischen Einflüssen aus Preußen, Russland und Österreich-Ungarn führte. Doch wenn auch das Land Polen zwischen 1795 und 1914 als eigenständiger Staat von den Landkarten verschwand, lebte es im Herzen seiner Bewohner weiter. Und ein Stück der eigenen Identität findet und bewahrt man immer auch in den Bräuchen und Gerichten. So ging das Wissen um traditionelle Rezepte nicht verloren, sondern wurde eher noch gestärkt. Daran konnten dann selbst später im kommunistischen Polen Misswirtschaft, Rationierungen und die überall aus dem Boden schießenden Milchbars mit ihren spartanischen Angeboten nichts ändern.
TYPISCH POLNISCH
Wenn von typisch polnischer Küche die Rede ist, so denkt wohl fast jeder an Bigos, Borschtsch und Piroggen. Bei allen regionalen Unterschieden sind diese Klassiker heute quer durch die polnische Landschaft zu finden, aber eben auch mit regionalen Variationen.
Bigos, jener bäuerliche Schmortopf, der getrost als polnisches Nationalgericht gelten kann, basiert auf frischem und gesäuertem Weißkraut und Fleisch und/oder Wurst. Bigos hat seinen Weg vermutlich von Litauen aus quer durch Polen gemacht. Je nach Saison und Vorratskammer wird er mit Pilzen, Tomaten, Tomatenmark, Trockenpflaumen, saurer Sahne und unterschiedlichen Fleisch- und Wurstsorten zubereitet. Da hat nicht nur jede Region, sondern auch jede Familie und jedes Restaurant ein eigenes Rezept zu bieten.
Beim Borschtsch verhält es sich ähnlich: Die Rote-Bete-Suppe, über deren Urheberschaft sich Russland und die Ukraine streiten, zeigt sich in Polen in vielerlei Abwandlungen. Oft mit Fleischbrühe, manchmal mit Pilzbrühe, meist mit Kartoffeln, manchmal mit Nudeln. Weißkohl darf bei vielen ebenfalls im Borschtsch nicht fehlen. Während man in Russland unvergorene Rote Beten verwendet, setzen polnische Köche und Köchinnen meist auf eingelegte Rüben. Aber eines ist sie definitiv immer, diese Lieblingssuppe der Polen: rot!
Und dann sind da noch die Piroggen. So wie die Schwaben die Maultaschen, die Chinesen die Dumplings und die Italiener die Ravioli schätzen, so erfreuen sich die Polen an ihren »Pierogis«. Die gefüllten Teigtaschen kommen mal süß, mal herzhaft daher und eignen sich als Hauptspeise ebenso wie als Dessert oder als schneller Imbiss zwischendurch. Ursprünglich waren die Piroggen als bäuerliches Essen meist mit Kartoffeln und Quark gefüllt, mittlerweile sind auch Hackfleisch, Pilze, Speck und allerlei Gemüse als Füllung beliebt. Piroggen haben es sogar zum unverzichtbaren Bestandteil festlicher Menüs und Büfetts gebracht. Und aktuell haben sie ein ganz neues kulinarisches Publikum gewonnen: Sie stehen im Mittelpunkt der polnischen Streetfood-Szene und erobern auch Deutschland im Sturm.
Diese drei Gerichte können natürlich nur stellvertretend für das stehen, was typisch polnische Küche ausmacht. »Viele Suppen« lässt sich da noch als wichtiges Merkmal hervorheben. »Viele Milchprodukte« und »ausgiebiges, reichhaltiges Frühstück« dürfen sicher ebenfalls nicht fehlen. Ja, leicht ist sie wohl nicht, die traditionelle polnische Küche, eher deftig und üppig. Und so hat auch sie in den vergangenen Jahren den Trend des »light« und »fettarm« über sich ergehen lassen müssen. Doch wie sieht sie heute aus? Wie erlebt die junge Generation »typisch polnisch«?
VON DER TRADITION ZUR MODERNE
Es ist keine Frage: Auch in Polen sind Pizza, Döner, Spaghetti, Hamburger und Sushi längst angekommen und haben sich ihren Platz in der Food-Szene erobert. Wie bei uns herrscht dort ein buntes Nebeneinander, sowohl was Restaurants angeht als auch beim heimischen Speiseplan. Doch so wie bei uns nach wie vor Bratwürste, Rouladen, Zwiebelrostbraten, Maultaschen, Knödel, Grünkohl, Hackepeter oder Sauerkraut die typisch deutsche Küche vertreten, so hat sich auch Polen sein kulinarisches Erbe bewahrt.
Heute lässt sich in Polen ein ähnlicher Trend wie bei uns in Deutschland beobachten: Bewährte Rezepte, wie sie Oma schon kannte, sind wieder in. Doch diese Traditionsliebe geht durchaus Hand in Hand mit dem Bewusstsein, dass sich so manche fettreichen und schweren Rezepte der polnischen Küche anpassen und ernährungsbewusst umsetzen lassen. Regionalität und Saisonalität haben einen ganz neuen Stellenwert gewonnen und man besinnt sich auf die Zeit vor der Machtergreifung der künstlichen Aromen und Konservierungsstoffe. Man will nicht »naturidentisch« kochen, sondern natürlich.
Dabei gehen auch polnische Food-Blogger und YouTuber mit gutem Beispiel voran und präsentieren traditionelle Gerichte in neuen Variationen. Das Bewusstsein der Regionalität hat einen hohen Stellenwert und auch in den Gasthöfen und Restaurants sind regionale Spezialitäten wieder deutlicher im Fokus, als sie es in den vergangenen 20, 30 Jahren waren. Dieser Trend »Back to the roots« wird außerdem zunehmend von touristischen Veranstaltern unterstützt. So lassen sich beispielsweise kulinarische Entdeckungsreisen und organisierte Food-Tours zu gastronomischen Highlights oder bodenständigen Insidern buchen.
Die Regionalität wird dort gepflegt, wo sie gelebt wird, aber wer sich heute in Sachen angesagter moderner Food-Szene in Polen umschauen möchte, der hat es trotzdem relativ einfach: Die Hotspots lassen sich hauptsächlich auf zwei Städte eingrenzen. Egal ob es um Sterneküche geht, um Food-Märkte oder angesagte Szenelokale, der Weg führt vor allem nach Warschau und mittlerweile auch nach Krakau.
STREETFOOD UND FOOD-MÄRKTE – DIE SZENE LEBT UND GENIESST
Bei einem Besuch von Warschau auf einen Bummel durch die Hala Koszyki zu verzichten ist schon fast ein kulinarischer Frevel. In der restaurierten alten Markthalle locken zwischen hippen kleinen Läden mehr als 18 Restaurants und Bars mit verschiedensten kulinarischen Angeboten. Internationales Schlemmen ist angesagt, aber ebenso moderne polnische Küche.
Wer Food-Märkte liebt, sollte sich den Targ Sniadaniowy nicht entgehen lassen. Jedes Wochenende verwöhnen sowohl polnische als auch äthiopische, koreanische und viele andere internationale Anbieter die Besucher. Es herrscht eine Art Picknickatmosphäre auf diesem Markt, der an wechselnden Standorten in Warschau stattfindet. Vor allem tagsüber kommen Jung und Alt, Hipster und Geschäftsleute hierher. Man kommt leicht ins Gespräch miteinander, wenn einem danach ist, oder man hält ganz einfach entspannt die Nase in die Sonne und lässt es Leib und Seele gut gehen. Am Abend schlägt die Stunde des Nocny Market mitten im Herzen Warschaus, ganz in der Nähe des Bahnhofs. Hier ist die Szene unter sich und feiert in lockerer Atmosphäre ein Multikulti-Streetfood-Festival. Aber auch hier gibt es lange Schlangen vor den Food-Trucks, die polnische Spezialitäten anbieten. Immer ganz vorne mit dabei sind Piroggen, DAS polnische Fastfood schlechthin. Die gefüllten Teigtaschen sind wohl das beste Beispiel für den kulinarischen Siegeszug der traditionellen polnischen Küche in die Streetfood-Generation hinein. Ähnlich locker geht es im Krakauer Bezogródek Food Truck Park zu: Chillen bei Musik, Gesprächen und dem Genuss von Burgern, Baguettes, Striezeln und Piroggen. Auch die auf polnischen Streetfood-Märkten so beliebten Ofenkartoffeln mit unterschiedlichsten Füllungen kann man hier finden.
DIE POLNISCHE KÜCHE GREIFT NACH DEN STERNEN
Als das Warschauer Restaurant Atelier Amaro vom Guide Michelin 2013 mit einem Stern ausgezeichnet wurde, war es die erste Ehrung dieser Art für ein polnisches Restaurant und damit ein Meilenstein für die polnische Gastronomie. Küchenchef Wojciech Modest Amaro bewies und beweist noch immer, dass auch in der hohen Kunst der Kulinarik polnische Produkte und traditionelle polnische Rezepte überzeugen können. Das Amaro setzt bei der Menügestaltung mit mehreren Gängen (hier »moments« genannt) auf polnische Kräuter und Gewürze und auf heimische Hausmannskost in modernem Design.
Doch das Amaro ist keine einsame Sternschnuppe am polnischen Kochkunst-Himmel: Das Restaurant Senses, ebenfalls in Warschau gelegen, wurde 2016 auch erstmals mit einem Stern geschmückt. Bottiglieria 1881 in Krakau zog Mitte 2020 nach. Dass Anfang 2021 dann die Zahl der Sterne über Polen wieder auf zwei sank, ist den Auswirkungen der Corona-Pandemie geschuldet: Das Senses musste schließen und hofft auf eine Rückkehr in altem Glanz. Neben den beiden Sternerestaurants führt der Guide Michelin aber noch weitere Restaurants als erstklassige Empfehlungen auf. 37 sind es mittlerweile und alle sind sie entweder in Warschau oder in Krakau zu finden.
EIN STÜCKCHEN KULINARISCHES POLEN IN BERLIN
Wer sich auf polnische Art kulinarisch verwöhnen lassen möchte, muss sich nicht unbedingt auf den Weg nach Polen machen – wenngleich das natürlich unbedingt zu empfehlen ist. Auch in Deutschland haben es sich viele Köche zur Herzenssache gemacht, die Werbetrommel für die polnische Küche zu rühren.
Zum Hotspot hat sich dabei Berlin entwickelt, wo neben Restaurants vor allem Streetfood-Imbisse bei der jungen Kulinarikszene hoch im Kurs stehen. Berlin ist eine multikulturelle Metropole und die Gruppe der Polen und polnischstämmigen Deutschen ist sehr groß und wächst. Über 100.000 Menschen mit polnischem Hintergrund leben hier mittlerweile, sodass Berlin nicht zu Unrecht von vielen liebevoll als westlichste Stadt Polens bezeichnet wird. Piroggen und Bigos haben ihren Platz im kulinarischen Angebot der Bundeshauptstadt erobert, wozu nicht zuletzt innovative Konzepte wie die des Restaurants Breslau im Prenzlauer Berg, des Lebensmittelladens und Cafés Mały Książę in Kreuzberg, des Imbisses Tak Tak in Berlin-Mitte und des Caterers Filafood im Prenzlauer Berg beigetragen haben.
UND JETZT SIND SIE DRAN
So haben Sie nun also die Wahl, wie Sie die heutige polnische Küche kennenlernen wollen: Vielleicht wählen Sie die Reise direkt ins Herkunftsland und besuchen Food-Märkte, Milchbars und Restaurants in Warschau, Krakau oder irgendwo auf dem Land. Alternativ steht ein Bummel durch Berlin oder ein suchender Blick ins örtliche Restaurantverzeichnis zur Auswahl. Oder aber Sie lassen sich von einem polnischen Koch- und Genussexperten ganz persönlich in die großen und kleinen Geheimnisse und Rezepte seiner Heimatküche einweihen. Dazu brauchen Sie jetzt nur weiterblättern!