Читать книгу Amor Amaro - Schrebergarten des Todes - Marco Toccato - Страница 6
1 Böses Erwachen
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ans Kleinerts Anwältin, Gundel Tauchtnichts holte ihn gerade mit Mühe aus einem tiefen Tagtraum zurück.
Die sehr junge Richterin im Landgericht hatte bereits dreimal dieselbe Frage an ihn gestellt und er reagierte nicht.
„Herr Kleinert, waren auf dem Kamerabild Füße vorbeigehender Personen zu sehen oder nicht?“
Nun, da er wieder unter uns weilte, hatte er die Frage gehört und antwortete.
„Ja Frau Vorsitzende, aber nur die Füße und auch nur dann, wenn die dazugehörige Person in einem Bogen von der Tür der Frau Leindeetz unmittelbar vor unserem Carport sehr, sehr nahe daran entlang vorbeigegangen wäre und auch dann hätte man sie nicht erkennen können.“
Hans saß Loretta Leindeetz in ihrer vollen Präsenz gegenüber und volle Präsenz ist hier keine leere Phrase. Sie wog über 100 Kilo, hatte grellrot gefärbte Haare mit einem breiten Ansatz, wo grauweiße Haare beziehungsweise die nackte Kopfhaut zu sehen waren - sie hatte Haarausfall.
Seit den bereits geschilderten Ereignissen [1] hatte sie ihre Körperlichkeit um einige weitere Kilos ausgebaut. Offensichtlich hatte sie für die Verhandlung versucht, ihren grauweißen Ansatz mit Bordmitteln zu übertünchen, jedoch mit wenig Erfolg. Bordmittel eben, trotz ihrer guten Einkünfte, hatte sie für Friseure oder so was kein Geld.
Ihr Gesicht war blass und teigig. Das Makeup war grell, konnte aber ihre poröse Gesichtshaut nicht überdecken. Von den Mundwinkeln zogen sich Lappen nach unten Richtung Kinn. Schwere, faltige Lider verdeckten ihre Augen halb.
„Loretta is back!“ und mit ihr ihr schwäbelnder Ehemann, Dr. Volkhart Einfried. Er sah mal wieder aus wie ein fünfundsiebzigjähriger Oliver Hardy - Sie wissen, der Dicke von Dick und Doof - in der Kluft von Crocodile Dundee, mit einer seitlich an den Beinen bis runter zu den Füßen geschnürten, speckigen, ehemals hellbraunen Lederhose, einem Hut ähnlicher Konvenienz der Marke „Wasser weg vom Kopf“ und einer olivgrünen, dicken Bomberjacke.
Hans zog für sich eine psychotherapeutische Notbehandlung unmittelbar nach der Gerichtssitzung in Erwägung. Er hoffte, dass er es bis zum Ende aushalten würde, was schwerer war, als Außenstehende glauben mögen. Hans hatte schon immer Schwierigkeiten die Leindeetz anzusehen, nicht aus Schüchternheit, sondern wegen der starken Ablehnung, die sich durch ihren Anblick bei ihm einstellte. Er verursachte ihm körperliche Schmerzen.
Damit nicht genug, saß neben der Leindeetz ihre unerbittliche Kampftucke Walter Feknius1, angetan mit einem rosa Oberhemd und einer älteren braunbeige schräggestreiften Krawatte unter einem karierten Pullunder.
Feknius schmierte entweder der Richterin Honig um's Kinn, einen Bart hatte sie nicht oder er brach urplötzlich ohne Anlass in fürchterliches Gezeter gegen Hans aus:
„Sie werden schon noch sehen, was passiert, wenn ich Sie bei der Staatsanwaltschaft anzeige!“ kreischte er Hans tuntig an. Hans meinte Speichelspritzer im Gesicht zu spüren, obwohl Gerichtssäle Gott sei Dank breit sind, weil deren Schöpfer genau an derartige Situationen gedacht hatten.
Sogar der Gerichtsreporter der Westfälischen Nachrichten, Manfred Bielefeld erschrak heftig ob des Ausfalls seines Kollegen. Feknius ist Gerichtsreporter im nahegelegenen Haspen und schreibt auch bei Facebook über alle möglichen juristischen Kinkerlitzchen, so gut es sein Journalistenhirn zuließ. In einem ging es um eine Hausmeisterin, die im Haus an etlichen Stellen Kameras angebracht hatte. Loretta Leindeetz musste natürlich ihren Senf hinzugeben und schrieb:
Loretta Leindeetz: der Hammer, aber kenn ich. Mein unmittelbarer Nachbar hat uns auch mal mit einer Kamera überwacht, das Gericht musste den Abbau anordnen. Er hat aber noch vier Wochen gebraucht, um es wirklich zu tun. tja, Kontrolletti-Mentalität.. aber dein Fall toppt ja alles! ☺
Hans hatte sie aufgefordert, diesen falschen und ehrabschneidenden Kommentar zu löschen und auch Feknius gebeten, diese Äußerung bei sich zu entfernen. Beide wollten nicht und Hans war gezwungen, vor Gericht zu gehen. Da für ihn der Hehler genauso Schuld hat wie der Stehler, musste er zwangsläufig beide verklagen.
Dabei ging es eigentlich gut los. Hans und Kerstin waren ins Landgericht gegangen. Ihre Anwältin kam kurz darauf und sie hatten sich in eine Nische mit einer Bank gesetzt, von der aus sie den Eingang des Gerichtssaals sehen konnten.
Während sie auf den Beginn der Verhandlung warteten, also noch vor Hans‘ bösem Erwachen, saßen sie auf einer Bank im Flur des Landgerichts und er hatte eine Zeitung in der einen und einen Kugelschreiber in der anderen Hand.
„Mh, was sagt man sonst noch für ‚fett‘, Zweiundzwanzig senkrecht mit sieben Buchstaben?“ und Frau Tauchtnichts antwortete ohne zu überlegen „Adipös!“ ausgerechnet als Loretta und Einfried an ihnen vorbei gingen. Die Leindeetz hatte es gehört und schnaubte empört.
Doch auch an Hans war diese kurze Episode nicht spurlos vorüber gegangen. Er war in eine Art Dämmerzustand verfallen, aus dem er nun leider erwachte.
Hätte er geahnt, dass das Auftreten beider so unerträglich schlimm für ihn sein würde, hätte er es bei der Klage nur gegen die Leindeetz belassen. Den Feknius hatte sie gut im Griff. Wie der berühmte pawlowsche Hund2 war er konditioniert. Ihm lief Wasser im Mund zusammen und er fiel verbal über den Erstbesten her, auf den sie zeigte, diesmal zeigte sie gewissermaßen auf Hans.
Feknius kann man sich wie Gollum aus „Der Herr der Ringe“ vorstellen. Glatze mit einem Kranz von farblich nicht zu bestimmenden, am ehesten feldmausbraunen Haaren über den Ohren, furchteinflößende, feuchte, basedowsche Augen, umgeben von faltenreicher, dunkler Haut. Seine Lippen wirkten durchaus lüstern beziehungsweise gar nicht mal so unlüstern. Irgendwie kinskiesk schoss dann und wann seine Zunge hervor und leckte blitzschnell über die Oberlippe. Seine Gesamterscheinung wirkte reptilienartig. Hans war mal wieder in einem Tagtraum versunken und sah darin den geifernden Feknius mit dem Kopf eines Warans vor sich mit einer züngelnden, gespaltenen Zunge. Ihm war schlecht. ,Hoffentlich ist das bald zu Ende‘, schoss es ihm durch den Kopf.
Stellen Sie sich also Gollum neben Jabba the Hut aus Starwars mit knallroter Perücke vor. Dieses Dreamteam saß Hans im Landgericht Kronenburg gegenüber und direkt daneben Jabbas äh Loretta Leindeetz‘ Anwalt, Thorsten Pilotzky. Direkt vor dem Gerichtsgebäude hatte er für sein Prescher-Cabrio einen Parkplatz ergattert. Hans überlegte, wieviel seine Kämpfe gegen die Leindeetz zu dem Auto beigetragen haben mögen; der Satz Räder und die Motorhaube werden’s schon gewesen sein.
Pilotzky hatte wie immer lange, nach hinten gegelte Haare, die ungewaschen wirkten. Seine Stimme war etwas „verschmiert“, wenn er mal wieder die Leiden der Leindeetz, verursacht durch Hans‘ angeblich schnöde, erbarmungslose Angriffe auf sie, schilderte. Er spielte Betroffenheit und heischte um Mitgefühl für seine Mandantin wie ein drittklassiger Komödiant einer Wanderbühne. Leider hatte Hans den Eindruck, dass von dem Geseiere einiges bei der Richterin hängen blieb.
Und die sagte auch sofort: „Wenn man die Füße sehen konnte, handelt es sich um Überwachung!“
Er verstand die Welt nicht mehr. An jeder größeren Bushaltestelle gibt es Kameras, im Bus, in Läden, in Stadien und an anderen öffentlichen Orten laufen täglich Millionen von Menschen unter Kameras her und wenn die Leindeetz noch zum Laufen in der Lage wäre, wäre sie auch davon betroffen und seine Kamera, die zum Schutz seines Autos gedacht war, soll ausgerechnet Loretta Leindeetz überwachen? Er war froh, wenn er ihr aufgeschwemmtes Gesicht nicht sah.
Was musste man tun, um solche Feststellungen von Richtern zu bekommen? Pilotzky wusste das offensichtlich. Hans flehte:
„Frau Vorsitzende, wenn Frau Leindeetz derart nah an unserem Carport entlang gehen würde, dass einer ihrer Füße in den Bereich der Kamera käme, würde sie unser Grundstück berühren, jedenfalls eine ihrer Hüften und ein Arm wären dann über der Grenze.“ Die Leindeetz schnappte empört, doch sowohl Einfried als auch Pilotzky grinsten, die Richterin schmunzelte und Kerstin lachte los.
„Die Kamera war ausschließlich auf die hinteren Stoßstangen unserer Autos gerichtet. Wir hatten zweimal Schäden an den Autos und beide Male war es Fahrerflucht. Einmal gab es einen Zeugen und die Leindeetz hat den Schaden dann nachträglich ,ohne Anerkennung einer Rechtspflicht‘, wie sie schrieb, gezahlt. Wie hätte ich denn sonst mein Eigentum schützen können?“
„Das Persönlichkeitsrecht ist eben höher zu bewerten, als Ihr Recht am eigenen Eigentum!“
Und so ging es weiter, leider nicht besonders gut für Hans. Seine Anwältin hatte ihre Gebühren stark nach oben optimiert. Sie hatte angegeben, mit der Materie Internet und Social Media vertraut zu sein und einen wahnsinnigen Streitwert erzeugt.
Hans hatte eigentlich nur beabsichtigt, dass der falsche Kommentar gelöscht wird oder er Gelegenheit bekommt, darunter eine Gegendarstellung zu formulieren. Denn ,… das Gericht musste keinesfalls den Abbau anordnen‘. In einem anderen Rechtsstreit hatte Hans einen für ihn sehr günstigen Vergleich errungen und Pilotzky, das Schlitzohr hatte noch nachgeschoben, dass die Kamera, die gar nichts mit der Sache zu tun hatte, verschwinden müsse. Hans hatte eingelenkt, um seinen restlichen Vergleich nicht zu gefährden. Der Abbau wurde also nicht angeordnet, sondern erfolgte freiwillig auf Grund der Einigung.
Nachdem jetzt also die Richterin Hans‘ Anwältin eine Flause nach der anderen aus ihrer Klage rausformuliert hatte, schlug sie einen Vergleich vor, in dem vereinbart würde, dass die Leindeetz die falsche Darstellung durch eine richtige in Ordnung bringen würde.
Hans bat darum, eine Pause zur Beratung mit seiner Anwältin und zur Formulierung eines passenden Textes für die Richtigstellung zu bekommen. Die Parteien saßen demgemäß im Flur an die dreißig Meter auseinander. Die Leindeetz hielt Hof und informierte Manfred Bielefeld, den lokalen Gerichtsreporter. Ihm war es leider nicht möglich, sich auch ein Bild beim Kläger zu verschaffen. Er wollte sicher nicht die Abstimmung der Gegendarstellung zwischen Hans und seiner Anwältin stören.
Als Hans hinter seiner Frau Kerstin und seiner Anwältin zurück in den Gerichtssaal gehen wollte, kreuzte sich sein Weg mit dem von Feknius, der ihm nun den Vortritt ließ. ,Der will mir nur auf den Hintern gucken!‘ ging es ihm durch den Kopf und er beeilte sich … nicht nur deshalb, sondern auch weil er an Dr. Volkhart Einfried, Lorettas Lebenspartner vorbeigehen musste. Ein Anblick, den er sich ebenfalls gerne erspart hätte.
Kennen Sie das, dass es Ihnen schlecht wird, wenn Sie bestimmte Personen sehen?
Einfried zeigte wieder sein Lächeln, dass debil-selbstzufrieden wirkte und saß da breitbeinig in seiner Lederhose, die genau wie er, längst bessere Tage gesehen hatte. Unten die unvermeidlichen neongrünen Laufschuhe und über dem Hosenbund der fette Bauch, auf dem sich die Hosenträger zum Gürtel spannten. Die Beklagtenseite stellte eine komplette Freakshow3!
Nachdem nun der Textvorschlag von Richterin, Loretta und Hans‘ Anwältin durchgekaut und abgestimmt war, wurde der Vergleich geschlossen und alle verließen das Gericht.
Feknius, die Natter, meinte sich bei der Richterin für ihre wunderbare Prozessführung bedanken zu müssen. Wenig später auf der Straße fragte Hans ihn, was er mit einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft gemeint hätte.
Erneut flippte die Kampftucke aus und schrie auf offener Straße: „Das werden sie schon sehen, wenn ich mit Ihnen fertig bin!“ Diesmal bekam Hans wirklich Speichelspritzer ab. Es war so laut, dass Pilotzky fünfzig Meter entfernt beim Einsteigen in seinen Prescher innehielt und sich umdrehte, um zu schauen, was da passierte. Loretta humpelte auf Einfried gestützt auf der gegenüberliegenden Straßenseite zufrieden grinsend einher. Die Knie wollten wohl nicht mehr so recht und mehr als hundert Meter zu gehen, war ihr nur schwer möglich. Gleich an der nächsten Kreuzung nahmen beide ein Taxi um den weiten Weg von etwa 700 Metern bis in die Innenstadt zu bewältigen.
Hans‘ Anwältin riss erschrocken den Mund auf, aber den hatte sie manchmal auch auf, als sie ohne große Gegenargumente von der jungen Richterin abgefertigt wurde. Hans wird in Zukunft wohl nicht mehr ihren juristischen Rat suchen. Ihm war klar geworden, dass sie den Streitwert hochgepuscht hatte, um ein gutes Honorar zu erzielen und das war es dann auch.
So oder so, er hatte erreicht, was er eigentlich wollte und das Honorar zahlte seine Rechtschutzversicherung, bei der er sowieso schon gekündigt hatte.
Richtig schlimm war für ihn das Ende des schönen Tagtraums, in dem die unselige Loretta und der noch unseligere Einfried aus dem Weg waren.
Irgendwie waren ihr vermeintlicher Tod und Einfrieds Weggang so real, dass er immer noch nicht sicher war, ihn nur geträumt zu haben. Hans rief mich an, weil er das mit mir besprechen wollte.
„Grüß dich, Amor! Kerstin und ich kommen gerade aus dem Landgericht. Die Leindeetz muss ihren Beitrag bei Facebook richtigstellen und damit habe ich, was ich wollte, aber du musst mir helfen, etwas zu klären. Kommst du heute Abend zum Essen zu uns? Kerstin freut sich und wir werden sicher was Leckeres auf den Teller bringen.“
Klar, sagte ich zu. Ich bin der pummelige Privatdetektiv Amor Amaro und fühlte mich mit meinen sechsundsechzig Jahren im allerbesten Alter – eigentlich hatte ich Udo Jürgens nie gemocht aber sein Lied – na egal.
Mein Haar ist schwarz, grau und dicht. Man sieht schnell, dass ich aus Südeuropa stamme, genauer gesagt aus dem kleinen Örtchen Noto4 auf Sizilien. Meine Eltern sind als Gastarbeiter 1957 nach Kronenburg gekommen und meine Schwester Maria und ich waren dabei.
„Klar Hans, ich habe Lust auf Rotwein und werde einen passenden mitbringen. Wie immer so gegen sieben?“
-:-
Irgendwo im Süden Kronenburgs stand ein sehr schlanker Mann mit spärlichem Haarwuchs an einer Werkbank. Auf eine Spanplatte hatte er vier Ösen geschraubt. Daran war eine weiße Ratte mit dünnem, rotem Zwirn gefesselt, jedes ihrer Beine an eine der Ösen.
Das Tier wand sich, wollte sich befreien, doch seine Bemühungen waren aussichtslos. Sobald etwas in seine Nähe kam, versuchte es verzweifelt, es mit seinen dünnen, spitzen Zähnen zu fassen. Ein sehr ungleicher Kampf, Ratte hin oder her!
„Du wirst schon sehen, was ich mit dir machen werde, mein Freund! Du wirst staunen, was ich mit Leuten wie dir alles anstellen kann.“ Er meinte nicht die Ratte! Während er das mit eiskalter, fast singender Stimme sagte, senkte sich ein Skalpell auf den Bauch des sich windenden Tieres.