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Die großen Fragen
ОглавлениеDie pädagogisch-psychologische Forschungslandschaft ist heterogen und gelegentlich etwas unübersichtlich. Früher ist der rasche Wandel von Forschungsthemen und Paradigmen und deren geringe Kontinuität als Anzeichen der Profillosigkeit der Disziplin beklagt worden (z. B. Weinert, 1996a, 1996b). Die Dynamik und die Vielfalt von Themen lassen sich aber positiv werten, als notwendige Anpassungen an sich ändernde Herausforderungen. Im Folgenden werden fünf Aspekte herausgehoben, die wir als Ankerpunkte einer auf das Lehr-Lern-Geschehen fokussierten Pädagogischen Psychologie ausgemacht haben: (1) den Theoriebezug und die Methodik, (2) den Schulbezug, (3) die Domänspezifität des Lernens, (4) die Rolle der Lehrenden und (5) der Umgang mit Differenz.
Theorien und Methoden. Der Ausgangspunkt pädagogisch-psychologischer Forschung ist durch Probleme der pädagogischen Praxis vorgegeben. Theorien und Modelle, die der empirischen Forschung zugrunde liegen, beziehen sich auf dieses Praxisfeld. Die Forschungsmethoden müssen sich den Besonderheiten des Forschungsgegenstandes anpassen. Mit der Ausweitung des experimentellen Methodenkanons darf allerdings kein Aufweichen der methodologischen Strenge einhergehen. Andererseits führt ein alleiniges Beharren auf den labor-experimentellen Forschungsansätzen zu einer Marginalisierung in der wissenschaftspolitischen Diskussion:
Viele Wissenschaftler in der Psychologie betrachten die auf pädagogische Fragen angewandte Forschung als weniger wertvoll als die angebliche »Grundlagen-Forschung« ohne klaren Anwendungsbezug, selbst dann, wenn die angewandte Forschung wissenschaftlich begründet und theoretisch motiviert ist […]. Daher werden möglicherweise manche der potentiell nützlichsten Forschungsvorhaben niemals realisiert werden, weil sie zu wenig Prestige zu versprechen scheinen. (Sternberg & Lyon, 2002, S. 76–77)
Die Schule nicht verlieren. Das wichtigste Feld der pädagogischen Praxis ist die Schule. »Schule und Psychologie sind in den letzten Jahren aufeinander zugegangen« (Ewert & Thomas, 1996, S. 112). Das war auch dringend notwendig, denn ohne die Schule fehlte der Pädagogischen Psychologie nicht nur ihr wichtigstes Anwendungsfeld, sondern vor allem auch die Möglichkeit der Theorienbildung und Hypothesenprüfung in diesem Praxisfeld.
Man mag dagegen einwenden, dass sich die Pädagogische Psychologie doch auch mit Fragen der vorschulischen Bildung, der Fort- und Weiterbildung im Erwachsenenalter und der außerschulischen Bildung befasst – und damit das Primat der Schule längst nicht mehr gegeben sei (Spinath et al., 2012). Dies ist aber keineswegs der Fall. Auch die pädagogisch-psychologischen Beiträge zur frühen Bildung, Fort- und Weiterbildung im Erwachsenenalter, ja sogar zur außerschulischen Bildung orientieren sich an den durch Schule vorgegebenen Zielen und Standards und der Analyse der individuellen, sozialen und institutionellen Bedingungen erfolgreichen Lernens.
Domänspezifität des Lernens. Die kognitionspsychologische Expertiseforschung hat den Blick auf die besondere Bedeutung der Lerninhalte (und des Vorwissens) für das Lernen gelenkt. Damit ist auch eine stärkere Beachtung der Unterrichtsfächer verbunden (Mayer, 2001, 2003a) und eine Abkehr von den inhaltsunabhängigen »großen« Theorien des Lernens und Lehrens. Es ist naheliegend, dass in diesem Zusammenhang eine (Wieder-)Annäherung an die Fachdidaktiken eingefordert wird (Weidenmann, 2000). Konsequent werden in den US-amerikanischen Handbüchern die wichtigsten schulischen Kompetenzbereiche des Lesens und Schreibens, der Mathematik und der Naturwissenschaften sowie des Zweitspracherwerbs ausführlich behandelt (Alexander & Winne, 2006; Mayer & Alexander, 2017). Das gilt auch für das Handbuch der Pädagogischen Psychologie von Schneider und Hasselhorn (2008).
Die Rolle der Lehrenden. Die Auffassung von der Rolle der Lehrenden hat sich gewandelt: von der Kontrolle und Steuerung des Lernprozesses über die Gestaltung von Lernumgebungen bis hin zur aktivierenden Lernbegleitung. Der Wandel spiegelt den Übergang von den behavioristischen zu den kognitivistischen und zu den konstruktivistischen Auffassungen von Lernen und Lehren wider. Unversöhnlich sind diese Auffassungen nicht ( Kap. 5.1).
»Teachers make a difference« hatten Good, Biddle und Brophy (1975) getitelt, denn Lehrerinnen und Lehrer können das Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler tatsächlich durch geeignetes unterrichtliches Handeln in entscheidender Weise fördern. Dabei gilt: Für unterschiedliche Unterrichtsziele und -inhalte und in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen sind unterschiedliche Unterrichtsmethoden unterschiedlich gut geeignet. Untersuchungen über die professionelle Kompetenz von Lehrpersonen haben wichtige Erkenntnisse über die Dimensionen der Unterrichtsqualität und über individuelle Voraussetzungen erfolgreichen Lehrens erbracht.
Umgang mit Differenz. Das ist eine der zeitlos großen Fragen der pädagogischen Praxis: Wie geht man mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen um, wie mit individuellen Unterschieden in Herkunft, Kultur und Geschlecht? »Die Individuallage des Educandus im Unterricht berücksichtigen heißt, die Ziele und Methoden den interindividuellen Differenzen der Lernkapazität anpassen«, so Weinert (1967, S. 29) lapidar. Und Ausubel (1968) schreibt:
Wenn ich die gesamte Pädagogische Psychologie auf nur ein einziges Prinzip zu reduzieren hätte, würde ich folgendes sagen: der wichtigste Einzelfaktor, der das Lernen beeinflusst, ist das, was der Lernende bereits weiß. Ermittle dies und unterrichte ihn entsprechend. (Ausubel, 1968/1974, vi)
Was heißt »anpassen«, was heißt »entsprechend«? Beim Umgang mit Differenz lassen sich zwei grundsätzliche Vorgehensweisen unterscheiden: Eine integrative (inklusive) Behandlung und, dem entgegengesetzt, die leistungshomogenisierende (separative) Differenzierung der Lernenden. Beide Vorgehensweisen sind bei Leistungsabweichungen nach »oben« wie auch nach »unten« denkbar und üblich. In der US-amerikanischen Tradition wurde vornehmlich die Strategie der Inklusion verfolgt. Dann müssen unterschiedliche Formen des remedialen Lernens zum Einsatz kommen, etwa im Rahmen des sogenannten adaptiven Unterrichtens ( Kap. 6.1). Eine andere Möglichkeit, auf Differenz und Heterogenität zu reagieren, besteht in der Schul- bzw. Schulsystemdifferenzierung, wodurch die institutionellen Rahmenbedingungen des Lernens verändert werden. Weil diese Form der Differenzierung in Deutschland weit verbreitet war, hat es vor allem in den 1970er Jahren eine intensive bildungspolitische Debatte über das gegliederte Sekundarschulwesen gegeben (Fend, 1982; Helmke & Weinert, 1997a) – in der Folge der neueren internationalen Vergleichsstudien wird gelegentlich daran erinnert.