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Auf der Suche nach dem Gelben Drachenwels in Niederbayern
ОглавлениеAm frühen Morgen treffe ich in Regensburg ein. Ich war noch niemals hier, ich bin gespannt. Regensburg liegt im Mündungsbereich der Flüsse Naab und Regen und obwohl sie mit rund 150 000 Einwohnern eine Großstadt ist, wirkt sie mit ihren zwei Donauinseln wie ein verzauberter Märchenort. Die Historie dieser Stadt bzw. die Besiedlung dieses Landstriches kann man bis ins Jahr 5000 vor Christus nachverfolgen.
Seit 2006 gehören Teile der Altstadt mit ihren prächtig erhaltenen Bauwerken zum UNESCO-Welterbe. Hier lebte ein Papst, hier singen die Domspatzen, und auch der bayerischste Urbayer Franz Josef Strauß … na gut, ich möchte Sie nicht mit »ollen Kamellen« langweilen.
Schon nach den ersten Schritten durch die Straßen überkommt mich ein heimeliges Gefühl. Die Gassen der Altstadt könnten einem Puppenspiel entstammen, viele Menschen tragen Dirndl und Lederhosen, überall hört man bayerischen Dialekt, die Leute lächeln freundlich, Asiatengrüppchen drängeln sich mit ihren Kameras durch die Gassen. Es ist Anfang Juni, die Sonne strahlt, ein paar winzige Schäfchenwolken kriechen gemächlich über den blitzeblanken Himmel. Mir scheint, in Regensburg könnte die Stimmung niemals trüb werden. Das Volksfest Maidult habe ich knapp verpasst, seit gestern wird hier abgebaut. Das macht mir nichts, die Stimmung könnte nicht besser sein.
Michael Härtl empfängt mich am Bahnhof und wir schlendern gemeinsam durch die Gassen, hin zur weltberühmten Steinernen Brücke mitsamt angrenzendem Biergarten.
Die Blaskapelle spielt einen Tusch, wir bestellen Radler, Michael zeigt mir auf seinem Tablet viele Bilder von Fischen; überall herrscht gute Laune. Michael ist leidenschaftlicher Amateurbiologe und seit Kindheitstagen Angler, nun schon in der dritten Generation. Er war es, der 2009 als Erster die Nackthalsgrundel, eine Schwester der Schwarzmundgrundel, der wir uns etwas später noch widmen werden, in einem Donaualtarm klassifiziert hat. Und er war es, der letztes Jahr mit dem Berufsfischer Michael Höllein den neuen tierischen Zugezogenen aufgefunden hatte, der medial für einiges Aufsehen sorgte und wegen dem ich nun hier bin.
Die Rede ist vom Gelben Drachenwels, der erstmals im Mai 2018 in der Donau als Tachysurus fulvidraco identifiziert wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte er natürlich noch gar keinen deutschen Namen. Als gefangener Fisch in der deutschen Wildnis musste somit flugs eine Bezeichnung her, und da fulvidraco auf Deutsch ›Gelber Drache‹ bedeutet, war diese schnell gefunden. Mit etwas Fantasie und zusammengekniffenen Augen sieht er ja auch fast so aus wie der Drache Fuchur aus Michael Endes Die Unendliche Geschichte. Überregional regierten noch andere Assoziationen: Yellow catfish oder Korean bullhead lauten seine Namen in anderen Ländern. Eigentlich ist der Drachenwels nämlich in Korea, Vietnam, China und Sibirien beheimatet. Und seit dem Jahr 2018 auch zwischen Straubing und Regensburg.
Im Zeitraum von Ende Mai bis Anfang Juni herrscht Laichzeit, dann legen die Männchen in stillen Flussarmen Gruben am Boden an, in die die Weibchen ablaichen können. Das Männchen betreibt die Brutpflege und bleibt noch eine Weile vor Ort, bis die Larven geschlüpft sind und sich alleine fortbewegen können. In dieser Zeit sind die Herren so auf ihre Kinder fokussiert, dass sie keine Augen für alltägliche Gefahren wie Fischreusen, die Fangnetze der Fischer, haben. Und falls die Laichzeit nicht durch die zwei sehr heißen Wochen im April vorgezogen wurde, stehen die Chancen gut, heute einen Drachenwels »persönlich« anzutreffen. Wenn nicht, war mein Ausflug wohl umsonst.
Wir trinken aus und fahren zu einem der Donaualtarme unterhalb der kleinen Ortschaft Frengkofen. Hier treffen wir nun auch auf Michael Höllein von der Fischerei Maier. Mit beiden Michaels steige ich in ein sehr langes, hölzernes Fischerboot, welches mich an eine venezianische Gondel erinnert. Unter dem lauten Röhren des Benzinmotors schippern wir damit über den Altarm und wollen einen Blick in die dort von Maier ausgelegten Fischreusen werfen.
Als die ersten Einzelfunde im Mai und Juni 2018 auftauchten, wurde schnell klar, dass sich der Gelbe Drachenwels in den Altarmen der Donau gut etabliert. Eigentlich fangen die Fischer hier Zander, Aale und Barsche. Im Herbst 2018 wurde dann ein Fund von Hunderten der ockerfarben-braun gestreiften Stachelwelse gemeldet.
Doch wie konnten sich die asiatischen Neubürger innerhalb von nur einem halben Jahr verhundertfachen? Das ist selbst bei einer sehr brutfreudigen Spezies doch gewaltig. »Streng genommen haben wir die Drachenwelse schon seit 2014 immer wieder mal hier gefangen«, sagt Michael Höllein. »Wir haben sie jedoch für einen amerikanischen Katzenwels gehalten, der in deutschen Gewässern schon lange vertreten ist.« Die tatsächliche Klassifizierung erfolgte also erst im Mai 2018. Und erklärt somit auch die heimliche Vermehrung dieser asiatischen Art, die bis dato quasi unter dem Radar der Öffentlichkeit möglich gewesen war.
Wenn sie 2014 schon die ersten Male ins Netz gegangen waren, könnte es auch sein, dass sie bereits 2013 in die Donau gelangt waren. Dort waren nämlich weite Teile der Region unterhalb von Regensburg von der Jahrhundertflut betroffen und große Areale Land unter Wasser verschwunden. Es ist möglich, dass dabei auch Zierteiche überschwemmt wurden und damit Fische aus der Zucht in die freien Gewässer überschwappten. Eine andere, wenn auch unwahrscheinlichere Möglichkeit: Überforderte Aquarianer setzten einige Tiere im Bereich um die Gmünder Au aus. Das wäre nicht nur falsch verstandene Tierliebe, sondern auch sehr verantwortungslos: Immer wieder werden wir in diesem Buch über Exoten stolpern, die von ihrer überdrüssig gewordenen Tierhaltern in die Freiheit entlassen worden sind und das penibel austarierte Ökosystem dadurch durcheinanderbringen. Es hätte allerdings eine sehr große Anzahl von Drachenwelsen ausgesetzt werden müssen, um auf den heutigen Bestand zu kommen. So oder so: Der wahre Grund wird wohl auf dem Grund der Gmünder Au bleiben.
Die Drachenwelse scheinen sich auf jeden Fall prächtig zu vermehren und haben aktuell noch keine wirklichen Fressfeinde zu verzeichnen. Im Durchschnitt dauert es sechs bis acht Jahre, bis andere Tiere sich auf den Geschmack einer neuen Art einstellen. Nun hat der Drachenwels auf den Bauch- und Rückenflossen Stacheln, sogenannte Hartstrahlen, die an der Spitze kleine Widerhaken haben, und diese können sehr effektiv im Körper eines Feindes stecken bleiben. Auch an Menschenhänden können sie schmerzhafte, entzündliche Stichwunden verursachen. »Ist das ein so cleverer Schachzug, seinen Feind an sich zu binden, damit er einen nicht frisst?«, frage ich die beiden Michaels. – Nein, aber es spreche sich in der Tierwelt schnell herum, wie schmerzhaft so etwas sein kann. Der Drachenwels ist ein sehr wehrhafter Fisch und ein zappelnder Widerhaken in der Haut ist in jedem Fall unschön. Da hat nach kurzer Zeit keiner mehr Lust, zuzubeißen.
Seine Stacheln kann der Wels übrigens ausfahren und umherbewegen. Die bis zu 35 Zentimeter großen Fische werden dadurch noch ein wenig größer und imposanter, als sie eigentlich schon sind. Am Kopf sitzen vier Paar Barteln. Diese braucht der Drachenwels im trüben Wasser, um sich »zurechtzutasten« und den Geschmack seines Futters zu testen. Mit sauerstoffarmem Wasser scheint er ebenso gut zurechtzukommen. Damit ist er eigentlich perfekt ausgerüstet für ein Leben im Altarm der Donau.
Am erstaunlichsten für mich ist, dass diese Fischart keine Schuppen, sondern glatte Haut hat. Das habe ich noch nie gesehen. Tatsächlich kommt es aber öfters vor in der Tierwelt; Pangasius und Steinbutt zum Beispiel sind ebenfalls schuppenlos.
Die Altarme der Donau gelten als Kinderstube für die meisten heimischen Donaufische. Noch. Denn die Qualität des Wassers nimmt von Jahr zu Jahr ab. Dadurch, dass die Altarme meist nur unzureichend mit frischen Wassermengen aus dem nebenan strömenden Main-Donau-Kanal versorgt werden, sinkt der Sauerstoffgehalt stetig, sodass sich auch die Pflanzenfauna verringert. Wo keine Pflanzen, da sind auch keine Kleintiere, und wo keine Kleintiere, da macht es dem Fisch keinen Spaß, zu wohnen. Zumal er immer schlechter Luft bekommt. Und das fällt auch mir auf, als wir eine Weile über das Wasser schippern: Je mehr wir in die Sackgasse des Altarms hineinfahren, umso modriger und stiller wirkt das Wasser. Um nicht zu sagen: eher tot.
Seit über einer Stunde sind wir nun schon hier draußen. Es ist mittlerweile brütend heiß, die Luft flirrt, mehrere Reusen haben wir bereits aus dem Wasser gehoben, hin und wieder kommen Fische zutage, allerdings kein Drachenwels. Wir alle schwitzen. Doch keine Mücke weit und breit. Wie kann das sein?
Im Jahr 2014 wurde in dieser Gegend über mehrere Tage BTI per Helikopter versprüht: Bacillus thuringiensis israelensis. Vermarktet als biologisches Schädlingsbekämpfungsmittel, welches für andere Arten ungiftig ist, sollte es Niederbayern von den riesigen Zuckmückenschwärmen befreien, die seit einigen Wochen durch die Gegend gezogen waren. Durch das Hochwasser im Jahr zuvor mitsamt den vielen überschwemmten Wiesen und Wäldern schlüpften Mückenlarven aus jahrealten Eiern, die halbvertrocknet an den Gräsern hingen. So waren deutlich größere Populationen als üblich mit vielleicht doppelt oder dreimal so vielen Mücken entstanden. Teilweise waren die hellen Hauswände der umliegenden Ortschaften vollgekleistert mit ihren roten Körpern. So was kommt hin und wieder vor, gerade in von Hochwasser geplagten Landschaften. Das ist ärgerlich, tatsächlich aber natürlich. Aber ist es dann auch natürlich, fünf Jahre später keiner einzigen Mücke mehr zu begegnen?
Wir verlassen den Altarm zur einzigen Öffnung hin und stoßen auf den Main-Donau-Kanal, zu dessen Gunsten die ursprünglichen Donauwindungen abgeschnitten worden waren. Dadurch entstanden viele Altarme. Hier ist es mit der trügerischen Idylle vorbei; mit monotonem Rauschen pflügt der einbetonierte und reißende Wasserstrom durch die Landschaft. Der Kontrast ist hart, es ist ein hässlicher Anblick. Welch irreparabler Übergriff an der Natur, welch Verbrechen am Ökosystem, schießt es mir durch den Kopf. Als Dieter Hildebrandt den umstrittenen Kanalbau 1982 zum Mittelpunkt einer seiner Scheibenwischer-Folgen machte (eine Kabarettsendung, die von 1980 bis 2008 im Ersten ausgestrahlt wurde), war dies ein Skandal. Er benannte neben der Vernichtung von Millionen Quadratmetern Naturschutzgebiet die irritierend große Anzahl bayerischer Regierungsmitglieder in den Chefetagen der entsprechenden Betreibergesellschaften. Die bayerische Staatsregierung indes, allen voran der bereits erwähnte Franz Josef Strauß, protestierten daraufhin wegen angeblicher Unterstellungen und eines »bayernfeindlichen Programms« bei der ARD. Genutzt hat das alles nichts, weder die Proteste gegen das satirische Bühnenprogramm Hildebrandts, noch die Proteste gegen den Bau dieses Kanals, dessen wirtschaftlicher Nutzen bis heute umstritten ist.
Genauso blieben übrigens auch die Einwände einiger Politiker und Tierschützer ungehört, wie man auf den flächendeckenden Einsatz eines Insektizides setzen könne, dessen Langzeitwirkungen bis zum damaligen Zeitpunkt unbekannt waren. Nun war zu diesem Zeitpunkt des verstärkten Mückenbefalls gerade Fußball-WM in Rio. Sicher wollten sich die Leute nicht für den Fortbestand einer Mücke einsetzen, die ihnen damals jeden entspannten Fußballabend in einem Biergarten verdorben hätte. Somit wurde der Beschluss durchgewinkt, weitestgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit, die bald in stichfreier Ruhe unserer Mannschaft beim Gewinnen zujubeln konnte.
Was auf den ersten Blick sehr angenehm für uns Menschen war, hat einige verstörende Nachwirkungen. So finden wir in den Reusen nur sehr, sehr junge Fische oder riesige Zander und Barsche, um die sieben Jahre alt. Die Generationen dazwischen, die zwei- bis vierjährigen adulten Tiere, fehlen fast vollständig. Der Schluss liegt nahe, dass durch die zerstörten Mückenlarven die jungen Fischgenerationen ab 2014 nicht ausreichend ernährt werden konnten. Eigentlich fehlen drei ganze Generationen von Donaufischen in diesem Areal. Und die alten, riesigen Fische können zwar noch laichen, allerdings nicht mehr in der Menge und Qualität, wie dies die jüngeren Fische tun würden und wie es zum Erhalt einer Artenpopulation notwendig ist. Somit sind die Geburtsjahrgänge bis heute deutlich dezimiert. Ein irrer Kreislauf, der sich mit dem Einsatz eines biologischen Pestizidmittels für einen störungsfreien Fußballgenuss auch nicht mehr rechtfertigen lässt. Oder doch?
Die Befürchtung gegenüber dem Auftauchen des Gelben Drachenwelses ist es nun, dass die ohnehin dezimierten anderen Fischbestände der Donaualtarme von den Drachenwelsen gefressen werden, bevor diese schlüpfen können. Gewöhnlich leben sie hier, bis sie stark genug sind, in die fließenden Gewässer des Donaustroms überzusiedeln. Doch mir erscheint in Anbetracht der anderen Themen diese Gefahr nicht mehr als die dringlichste. Sicherlich sollte durch das Auftauchen des Drachenwelses der dauerhafte Bestand der kleinen heimischen Fischarten nicht stärker als üblich gefährdet werden. Theoretisch entsprechen diese jungen Fische der perfekten Fressgröße des Drachenwelses – neben seiner zweiten Leibspeise, kleinen Muscheln und Insektenlarven. Sollte der Drachenwels als Fressfeind dennoch überhandnehmen, könnte sich der Mensch mittelfristig die Gewohnheiten aus dem asiatischen Raum zunutze machen und die Tiere für die Gastronomie zum Verzehr fangen. Als Fischfilet sollen sie sehr schmackhaft sein, allerdings wäre die Ausbeute bei den bis zu 300 Gramm schweren Tieren mit einem Nettofiletgewinn von 90 Gramm dann doch eher ein kleiner Gruß aus der Küche anstelle eines sättigenden Hauptganges. Ob sich der Aufwand durch den Geschmack rechtfertigen ließe und die in ihrem Essverhalten eher traditionellen Mitteleuropäer dafür offen wären, bleibt abzuwarten.
Heute befindet sich jedenfalls kein Gelber Drachenwels in Michael Hölleins Reusen.
Wir tuckern wieder an Land, ich bin fasziniert von diesem beeindruckenden Stück Fauna, auch wenn der eigentliche Grund meines Kommens heute »nicht pässlich« war. Trotzdem: Der Ausflug war nicht umsonst.
Michael Härtl bringt mich zum Zug; mit einem wehmütigen Gefühl fahre ich davon, Richtung Norddeutschland. Mich beschäftigen so viele Dinge, über die wir heute gesprochen haben. Wenn der Mensch die Natur in ihre Schranken zu weisen versucht, indem er ihre Flüsse begradigt und somit Stromschnellen und Hochwasser begünstigt, wodurch es erhöhte Mückenpopulationen gibt, die dann alle ausgerottet werden, um niemanden zu stören, und dies dann zu einem Einbruch der Populationen weiterer Tierarten führt, weil durch die Ausrottung eines Gliedes in der Nahrungskette Nahrung fehlt – wohin führt das noch? Was hängt an dieser Kette alles dran, worüber wir heute, auf unserem kleinen Ausflug, nicht gesprochen haben? Geht es hier wirklich um eine ernstzunehmende Gefahr, die von einem kleinen asiatischen Welsfisch ausgehen könnte oder sollten wir uns nicht lieber den brutalen Nachwirkungen widmen, die durch die Eingriffe des Menschen am Ökosystem seit Jahrzehnten entstehen? Wäre es nicht sogar denkbar, eine neue Fischart begrüßen zu dürfen, die sich trotz aller Unwirtlichkeit in den Altarmen gut zurechtfinden kann, im Gegensatz zu einigen heimischen Arten?
Fest steht: Ich wurde zum Fan dieses schönen bayerischen Flecks Erde, der lieben Menschen, der zauberhaften Natur, der lauten Blaskapellen. Es wäre so schön, könnten wir ihn erhalten. Ich befürchte aber, das wird sehr schwer. Mach’s gut, schönes Nordbayern.