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Auf der Pirsch nach dem Hirsch in Schaffhausen: Das Sikawild

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Als ich anfange, über das Sikawild im Schweizer Kanton Schaffhausen zu recherchieren, beschließt meine Freundin Anna kurzerhand, dass man das prima mit einem Kurzurlaub am Bodensee verbinden könne. Wir packen also unsere Siebensachen, Anna klettert in ihren liebevoll restaurierten, in die Jahr(zehnt)e gekommenen Campingbus und fährt von München aus los, ich selbst steige am nächsten Tag in Hamburg in den Nachtzug. Als ich am nächsten Morgen aus dem Bahnhof Basel komme, wartet Anna bereits bestens gelaunt auf dem Bahnhofsvorplatz mit einem frisch gekochten Kaffee auf mich.

Zusammen fahren wir bei schönstem Sommerwetter die knapp 140 Kilometer in den Kanton Schaffhausen. Vor uns liegen drei gemeinsame Tage nur für uns, Sonne und Camperleben. Wir freuen uns sehr, ein Gefühl von Freiheit, Ausgelassenheit und Sommerwind schwirrt um unsere Nasen, wir kurbeln die Fenster herunter, singen zur Musik und tuckern mit 80 km/h unserem Ziel entgegen.

Die erste Nacht verbringen wir an einem wunderschön ausgestatteten Campingplatz direkt am Rhein im Kanton Schaffhausen, und kurz nach der Ankunft offenbart sich dann der Unterschied zwischen einem zwanglosen Urlaub und einer Recherchereise, sprich: zwischen Anna und mir. Denn während sie in ihre Badesachen springt und sich auf einen entspannten Sommertag am Rhein mit Pommes, ihrem Buch und Eis freut, packe ich Proviant, Mückenspray, Kamera und meinen Notizblock in den Rucksack und stapfe Richtung Schaffhauser Wald, um dem hier lebenden Sikawild zu begegnen.

Das Sikawild wurde vom Menschen eingebracht, dabei war es vor einer ganz schön langen Zeit schon einmal heimisch in Mitteleuropa. Genau genommen vor sieben Millionen Jahren. Damals hörte es – hätte der Homo sapiens denn schon gelebt und sprechen können – auf den Namen Ur-Rothirsch. Als ob vor sieben Millionen Jahren schon jemand den Namen hätte aussprechen können; und als ob das Sikawild dann darauf gehört hätte …

Der Ur-Rothirsch lebte also bereits dort, wo man Deutschland und die Schweiz überhaupt erst vage vermuten hat können, beschloss aber irgendwann, dass das nicht der Nabel seiner Welt sein sollte. Die Ur-Rothirsche trotteten los und wie das immer so ist, bildeten sich irgendwann einzelne Grüppchen. Die einen blieben hier und wurden später – mit »später« meine ich die heutige Zeit, also vor etwa 10 000 Jahren bis zum heutigen Tage – zu den Rothirsch-Beständen in West- und Mitteleuropa. Eine andere Gruppe wanderte gen Osten und entwickelte sich in den Millionen Jahren aufgrund klimatischer Bedingungen, Untergrundbeschaffenheiten und Fressfeinden zu den kleinen, gedrungenen Sikahirschen, die mit maximal 80 Kilogramm bei den Männchen deutlich kleiner und leichter sind als das hier lebende Rotwild. Die kleinen Sikahirsche fanden Heimat im späteren China, in Korea, Sibirien, Japan und Taiwan. Und die dritte Gruppe hatte noch Energie, um weiterzuwandern und schaffte es schließlich – wahrscheinlich über die Beringstraße – hinüber nach Nordamerika. Dort bildeten sie sich zu Wapitis aus, die vom Körperbau den Sikahirschen immer noch recht ähnlich sind.

Da die asiatischen Sikahirsche mit ihren hübschen weißen Flecken auf dem rotbraunen Sommerkleid so niedlich aussahen und weil die Herren mit ihren großen Geweihen eine prima Jagdtrophäe an den Treppenaufgängen der Forsthäuser abgaben, ihr Fleisch zudem noch mild-würzig schmeckte, wurden die Sikahirsche vor mehreren Jahrhunderten zahlreich nach Europa und in die restliche Welt wie zum Beispiel nach Australien, Madagaskar und Neuseeland exportiert und meist in Gehegen angesiedelt. Einige Populationen leben bis heute in Deutschland, und in der Schweiz ist die einzige freilebende Kolonie in Schaffhausen anzutreffen. Die Ursprünge dieser Kolonie entstammen wohl Gatterflüchtlingen von der anderen Rheinseite; sie fühlten sich hier gleich wohl. Die Sikahirsche sind eigentlich scheu und nachtaktiv, allerdings gewöhnen sie sich auch schnell an besiedelte Gebiete und kommen schon mal bis auf zehn Meter an einen Menschen heran. Es könnte ja etwas zu futtern abfallen. In dem Gebiet in Schaffhausen, in das ich heute gehe, werden keine Treibjagden mehr unternommen. Seitdem sind die Tiere deutlich zutraulicher geworden. Mittlerweile wird immer wieder von tagaktiven Populationen berichtet, weshalb ich mein Glück am späten Nachmittag versuche. Unsere Reise war zu kurzfristig, um eine Führung mit einem Förster organisieren zu können. Alleine darf man aus versicherungstechnischen Gründen nicht auf diese Hochstände steigen. Und ich selbst wäre doch ein zu großer Angsthase, um es trotzdem zu machen. Aber durch einige Erkundungen im Vorfeld habe ich einen heißen Tipp bekommen, vielmehr Koordinaten, an denen es sehr gut »erkletterbaren« alten Baumbestand gibt. Und das ist doch viel abenteuerlicher als in einem kleinen Häuschen auf sicherer Höhe auf das Wild zu warten. Nach zweieinhalb Stunden und unter Zuhilfenahme meines mobilen Navis erreiche ich die Stelle – und direkt vor mir steht ein wunderbarer Laubbaum, der regelrecht zum Klettern einlädt.

Ich steige flink hinauf und nehme Platz in einer ausladenden Astgabel, etwa zweieinhalb Meter über dem Boden. Früher hätten wir uns hier ein Baumhaus gezimmert, wenn es nicht so tief im Wald gewesen wäre. Behutsam packe ich Kamera, Feldstecher, Teekanne und Notizen aus und verstaue sie in einer Baumkuhle. Zur Sicherheit gebe ich meiner Freundin noch die Koordinaten durch; vielleicht hat sie ja Lust, mich zu retten, sollte ich vom Baum fallen.

Zu Beginn bin ich noch zappelig, doch nach und nach breitet sich in mir Ruhe aus. Nichts passiert, alles ist ganz friedlich. Ich kann mir vorstellen, dass das stille Warten auf Aktivität ein Teil der Faszination ist, die ein Jäger bei seiner Arbeit empfindet. Es ist wie eine Achtsamkeitsmeditation, begleitet von Vogelgezwitscher, Windrauschen und sich langsam und bedächtig bewegenden Baumkronen. Weit hinten sehe ich ein laut gackerndes Pärchen über den Waldweg gehen, sie halten sich an der Hand und küssen sich immer wieder, sie sehen mich nicht. Ganz still sitze ich hier und mache keinen Mucks. Es ist, als ob ich eins werde mit der Astgabel, mit dem Wald, mit all dem Drumherum.

Überall, wo das Sikawild lebt, gibt es immer wieder Diskussionen über einen Totalabschuss. Dies liegt unter anderem an größeren Rindenschäden durch genüssliches Abknabbern, welches gerade junge Bäume nachhaltig schädigen kann. Auch heimisches Wild »schält« – so lautet der korrekte Begriff – junge Laubbäume, weswegen viele Gegner Probleme in der vermehrten Zerstörung und zu große Gesamtschäden von beiden Wildarten ausgehen sehen. So gibt es seit Jahren sehr engagierte Diskussionen zwischen Förstern, Jägern und Sikawildbefürwortern im Arnsberger Wald in Nordrhein-Westfalen. Hin und wieder wurde die Hoffnung geäußert, der Wolf könne sich schnellstmöglich wieder in den Wäldern Nordrhein-Westfalens ansiedeln, damit der Artenbestand auf natürliche Weise dezimiert und so in Schach gehalten wird. Das ist bisher noch nicht passiert. Und ob man dem Wolf erklären kann, dass er vorzugsweise das gebietsfremde Sikawild reißen soll und vom heimischen Rotwild bitte die Zähne lässt, bleibt abzuwarten. Wohl aber hat sich der wiedererstarkte Luchs als Reißer des Wildes bemerkbar gemacht. Die Zahlen sind aber noch zu gering, um eine deutliche Bestandsminderung zu erwirken.

Im Schaffhauser Wald ist man nun dazu übergegangen, in Aufforstungen Eschen, Fichten und Douglasien einzeln zu ummanteln, damit sie überhaupt die Chance haben, gesund zu wachsen.

In einigen Regionen wird Sikawild immer noch in Gehegen gehalten und für den Fleischverzehr gezüchtet. Es eignet sich sehr gut für eine deftige grobe Bratwurst, die man vor allen Dingen zur Winterzeit auf Weihnachtsmärkten in Revierförstereien zu essen bekommt.

Seit einer Stunde sitze ich nun schon unbeweglich auf meinem hölzernen Thron, ich bin regelrecht verwurzelt mit dem Baum, da knackt es leise unter mir im Gehölz. In meinen Augenwinkeln sehe ich ein weißgetupftes Getier, das am Boden schnüffelt. Ganz langsam drehe ich den Kopf und wir blicken uns einen Moment an, der Sikahirsch und ich. Sein Geweih ist noch nicht sehr groß und es hat erst zwei Verästelungen. Er wird es im April oder Mai abgeworfen haben; bis zur nächsten Brunftzeit im September wird es wieder groß sein, damit er bei seinen Rivalen einen guten Stand hat und die Damenwelt beeindrucken kann. Er ist allein unterwegs und ich staune, dass mir wirklich ein Sikahirsch als erstes wildes Tier in diesem Wald über den Weg läuft. Die Hirsche sind meist allein unterwegs, nur die jungen Männchen rudeln sich in Jungsgruppen zusammen. Die Sikakühe leben am liebsten mit ihren Mädels in Zehnergruppen zusammen. In der Brunftzeit, also im September, beginnen die Revierkämpfe der Männchen, und wer die Damen am meisten beeindruckt, darf einen Harem von vier bis sechs Weibchen gründen – aber nur, wenn er denn auch gut riecht. Und das erreicht das Sikamännchen, indem es sich eine Kuhle scharrt, diese mit seinem Urin füllt, und sich anschließend ausgiebig darin suhlt. So parfümiert und eingesalbt schmelzen die Damen dahin und sind zutiefst beeindruckt, sofern er auch noch einen guten Kampf abliefert. Das übliche Einparfümieren gibt es also nicht nur in der Menschenwelt, sondern es spielt auch in der Sikawelt eine wesentliche Rolle.

Sobald der Haremsclub steht, muss er immer wieder gegen rivalisierende Hirsche verteidigt werden. Bei den Kämpfen krachen die frisch gewachsenen Geweihe aneinander, dass es nur so knallt, und auch wenn der Hirsch seine Damen erfolgreich verteidigen konnte, fängt der Stress jetzt erst an, denn er hat eine Mission. Bei sechs Damen ist er ganz schön beschäftigt, weshalb er in der Brunftzeit rund 30 Prozent seiner Körpermasse verliert. Wer hat schon Zeit zu fressen, wenn es um nichts weniger als den Erhalt der eigenen Art geht.

Das Sikawild ist in Deutschland als potenziell invasiv eingestuft. In allen Ländern wird immer wieder darüber diskutiert, ob es auf die Black List der unerwünschten Arten aufzunehmen ist. Noch ist dies nicht erfolgt, weder in der Schweiz noch in Deutschland. Der Grund für die Überlegung sind nicht nur ihre Fressgewohnheiten – Wurzeln und Stämme heimischer Bäume –, sondern auch die mögliche Hybridisierung mit heimischem Rotwild. In einem wissenschaftlichen Experiment von Forschern der britischen Universität Sussex und des Museums für Naturgeschichte im französischen Obterre wurde herausgefunden, dass sich die Sikadamen nämlich sehr gerne mit den Rothirschmännchen paaren. Und das, obwohl sich der Paarungsruf eines Sikahirsches als trillerndes Pfeifen mit anschließendem Brummen sehr von dem tiefen Röhren eines Rothirsches unterscheidet. Diese unterschiedlichen Laute werden sich aber erst ausgebildet haben, nachdem sich die Populationen voneinander getrennt hatten, damals vor Millionen von Jahren. Und im evolutionären Gedächtnis der Sikadamen hat das tiefe Röhren ihrer Urahnen immer noch einen Platz im Herzen, sodass einer Paarung nichts im Wege steht. Andersherum, also von Sikahirsch zu Rothirschdame, funktioniert die Paarung übrigens erst, wenn sich das Wild über längere Zeit aneinander gewöhnt hat und die Laute des jeweils anderen (das Sikawild hat zehn verschiedene Klangrufe!) kennengelernt hat. Die Sorge der Sikagegner besteht nun darin, dass sich Nachkommen aus diesen beiden Arten zu einer komplett neuen, urheimischen Art entwickeln und das eigentliche Rotwild nach und nach ausstirbt. Diese sogenannten Hybride, also eine Mischung aus zwei Arten innerhalb einer Familie, gälten mit ihrer Geburt höchstwahrscheinlich als neue heimische Tierart, und nicht wie das Sikawild als Neozoen. Einige von diesen Mischwesen soll es bereits an mehreren Orten geben und sie sind auch als eigenständige Gattung fortpflanzungsfähig. Eine neue Art unterstünde dann natürlich auch dem heimischen Jagdrecht samt aller Schonfristen und Auflagen, und dass es dazu kommt, möchte man vielerorts unterbinden. In Schaffhausen gibt es kein Rotwild; hier besteht diese Gefahr nicht. Im Arnsberger Wald konnte man bislang auch noch keine Hybride feststellen, allerdings kann es grundsätzlich sein, dass solche Nachkommen optisch gar nicht erkennbar sind, sondern nur über genetische Tests klassifiziert werden können.

Kurz bin ich abgeschweift und habe fast vergessen, darüber zu berichten, was sich seit ein paar Minuten unter mir abspielt. Eigentlich spielt sich aber auch nichts ab. Der Sikahirsch schaut mich immer noch an, ich schaue den Sikahirsch an, wir beide sind unbeweglich und neugierig. In Zeitlupe strecke ich meine Hand aus und taste nach dem Feldstecher. Bei einem Abstand von zehn Metern nützt mir dieser nicht viel, aber meine Kamera, die darunter liegt, würde mir sehr helfen und mich beim späteren Campingdinner mit meiner Freundin als erfolgreiche Tierrechercheurin glänzen lassen. Sehr langsam hebe ich den Feldstecher an und strecke die andere Hand nach dem Fotoapparat aus. Dafür muss ich nicht nur meine Hand, meinen Arm, meine Schulter, sondern auch meinen Kopf und Körper vorbeugen, um näher heranzukommen. Nur noch ein kleines Stück, dann habe ich sie in der Hand, die Kamera, den gleichen Weg noch einmal zurück und nur ein winziger Klick, dann ist es geschafft; der Beweis einer geglückten Recherche im Schaffhauser Wald würde doch sicher auch meinen Verlag beglücken. Es knackt, es knackt lauter, irgendwas spielt nicht mit an meinem Körper, ich verliere das Gleichgewicht, rutsche seitlich über den Baumstamm, klammere mich mit beiden Armen fest, finde das Gleichgewicht wieder, doch mit einem lauten KLONG! plumpst die Thermoskanne vom Baum auf den Boden. Verdammt! Der Hirsch ist nicht mehr da, war ja auch klar, bei dem Lärm. Ich sehe ihn noch 20 Meter weiter in aller Gemütlichkeit, fast schon Dickfelligkeit hinfortschlurfen. Richtig erschreckt habe ich ihn wohl nicht. Alles, was mir bleibt, ist unsere Erinnerung, ein Stückchen Rinde unter dem Daumennagel und ein eingeschlafenes Bein, das mir nun das Herabklettern schwer macht. Das stille Sitzen, es ist wohl nicht meins. Es reicht jetzt aber auch. Ich ergreife meine Thermoskanne, schultere meinen Rucksack und mache mich auf die lange Wanderung zurück zum Campingplatz. Ich habe genug gesehen, ich habe genug zum Schreiben. Jetzt mache ich Urlaub.

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