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Ausgebüxt und eingestiegen: Die unverfrorenen Waschbären aus Kassel

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Kassel, meine Heimat. Hier komme ich her, hier bin ich aufgewachsen. Dass es nicht zum üblichen Prozedere eines Eigenheimbaus gehört, vor dem Einzug eine Fachfirma mit der Aufrüstung gegen tierische Eindringlinge zu beauftragen, lernte ich erst mit meinem Umzug nach Hamburg. (Wobei es in der Hansestadt ohnehin eher unüblich ist, eigene Häuser zu bauen, aber das ist eine andere Geschichte.)

In dieser Geschichte geht es um die Waschbären, die seit Jahrzehnten zum Kasseler Stadtbild gehören. Überlegungen, die possierlichen Raubtiere in das Stadtwappen zu integrieren, gibt es. Auch befassen sich immer wieder Künstler – nicht nur zur fünfjährigen Weltkunstausstellung documenta – mit den cleveren Bärchen.

Mit einer enormen Bevölkerungsdichte von 60 bis 140 Tieren pro Quadratkilometer ist Kassel die unangefochtene Waschbärenhauptstadt Europas. Doch nicht alle Kasseler freuen sich über diesen Superlativ, zumindest nicht die aus Wilhelmshöhe, dem Vorderen Westen, Kirchditmold und Harleshausen, denn hier sind die kleinen Racker am stärksten vertreten: auf den baumstarken Grundstücken, gesäumt von breiten Straßenzügen rund um die Hessenschanze oder im verwunschenen Bergpark Wilhelmshöhe mit dem stattlichen Herkules, der märchenhaften Löwenburg und den unzähligen Schlupfwinkeln. Hier, wo weite Waldflächen mit ihren malerischen Wasserläufen nahtlos an die Stadt anschließen und an schönen Tagen viele Ausflugsfreudige anziehen, die nach ihrem Aufenthalt die Mülleimer prallvoll mit Köstlichkeiten hinterlassen.

Mehr als zwei Drittel der Kasseler Waschbären leben dauerhaft in der Stadt, davon ca. 45 Prozent in Häusern und Gebäuden, bevorzugt auf Dachböden, in Zwischendächern, unter Giebeln und in erkalteten Schornsteinen.

Und sollte es sich nicht um Waschbärenmütter handeln, die in der zweimonatigen Aufzuchtzeit mit ihren 20 bis 30 Jungen des Nachts lautstark fangen spielen, bekommen das die menschlichen Hausbewohner oft erst mit, wenn das Pipi schon durch die Decke tropft. Und das ist schlecht, denn: Leiden die Tiere an dem bei den Kasseler Waschbären sehr verbreiteten Spulwurm, ist dieser gleich mit eingezogen und eine Komplettsanierung für mehrere Tausend Euro unumgänglich. Dem lästigen Spulwurm widmen wir uns übrigens im nächsten Kapitel.

Ohnehin ist es dann längst zu spät: Dieser Ort ist bereits gebrandmarkt, als Top-Übernachtungsherberge im Lonely Planet der pelzigen Einwanderer. Sie haben ihn unwiderruflich markiert, Sanierung hin oder her.

Der Mensch muss davon ausgehen, dass die Waschbären von nun an immer und immer wieder versuchen werden, ihr einmal erobertes Heim neu zu beleben. Die räuberischen Bären haben diebischen Spaß daran, verschlossene Schlupfwinkel und verriegelte Durchgänge erneut zu knacken. Das gelingt zum einen mit Gewalt – ihre Vorderfüßchen sind kräftig und geschickt –, zum anderen verschaffen sie sich mit List und Wagemut Zugang über steile Häuserkanten und rutschige Dächer. Geduldig kratzen sie sich durch verschlossene Mauerwerke, mitunter monatelang, heben Ziegel an, legen diese nach dem Durchschlüpfen fachgerecht auf ihre alte Position zurück, bauen Höhlen im kuscheligen Dämmmaterial und richten sich ihre Toiletten, sogenannte Latrinen, ein. Oft gibt eine spähende Vorhut der ganzen Bande Bescheid, wenn alles hergerichtet ist. Diese folgt in Scharen und kommt meist lautlos über Nacht. Über die Jahre haben sie sich die Mechanismen einmal geknackter Abwehrsysteme gemerkt. Dieses Wissen können sie jederzeit abrufen und bauen unaufhörlich darauf auf. Sie sind hochintelligent und treiben die Waschbär-Abwehrfirmen vor sich her. Diese sind angehalten, immer komplexere Abwehrsysteme zu entwickeln, um die Tiere dem Menschen vom Leib zu halten.

Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen?

Die Waschbären waren nicht immer da. Eigentlich ist ihre Heimat Nordamerika, wo sie bereits von den nordamerikanischen Ureinwohnern, den Algonkin, als Aroncon (dt.: ›der mit seinen Händen reibt, schrubbt und kratzt‹) verehrt wurden. Es existieren Sagen der Ureinwohner über die Waschbären, deren besondere Augenmaskierung die Algonkin sogar für ihre Gesichtsbemalung übernahmen. Aus dem Namen Aroncon entstand schließlich das englische racoon, welches hierzulande als »Waschbär« übersetzt wurde. Mittlerweile ist weitläufig bekannt, dass das »Waschen« der Beute nichts mit einem Säuberungsvorgang zu tun hat. Die Reinlichkeit ihrer Nahrung ist den Waschbären sogar herzlich egal. Der Vorgang wird lediglich von in Gefangenschaft lebenden Bären ausgeführt, um das Tasten und Erfühlen von Krebsen, Fischen oder Pflanzen in fließenden Gewässern zu imitieren.

Um 1900 wurden die ersten Waschbären nach Deutschland gebracht. In Zuchtfarmen fristeten sie ein schnödes Dasein, bevor ihr dichter Pelz die Hälse feiner Damen schmücken sollte. Schnell büxten einige der cleveren Wesen aus – zuerst in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, später auch in Berlin. Hier kam es übrigens auch zum bekanntesten Zwischenfall der deutschen Waschbärengeschichte: In einer lauen Sommernacht 2017 alarmierten besorgte Anwohner ob eines ohrenbetäubenden Knalls mit begleitendem Lichtblitz die Feuerwehr. Man fürchtete eine Bombendetonation. Wie sich jedoch herausstellte, handelte es sich um einen zweifachen Kurzschluss des Heizkraftwerks Reuter West der Firma Vattenfall, der durch einen in den mehrfach gesicherten Hochspannungsbereich eingestiegenen Waschbären verursacht worden war, welcher genüsslich an einem 110-Kilovolt-Transformator geknabbert hatte.

Notiz am Rande: Dem Waschbären geht es gut, der Strommulti rätselt weiterhin, wie der Einbruch gelingen konnte.

Übrigens ist das Mysterium des spurlosen Einbruchs gar nicht so ungewöhnlich, wie ein anderer Fall beweist: Im Mai 2019 verschaffte sich ein unerschrockenes Pelzbärchen über Nacht Zugang zum Waschbärengehege des Heidelberger Zoos und beschloss fortan, mit seinen gefangenen Kollegen in Eintracht zu leben. Immerhin gibt es dort regelmäßig Essen und für eine so liebenswerte Pflege durch die Betreuer passte sich der Neubewohner sogar in seinem Tages- und Nachtrhythmus an die Zoo-Öffnungszeiten an. Da es aufgrund geltendem EU-Recht dem Zoo untersagt ist, ein invasives Tier in die Freiheit zu entlassen, bleibt »Fred«, wie ihn die Heidelberger nennen, fortan genau dort, wo er jetzt bereits ist: in seinem freiwillig gewählten Exil.

Zurück zu unserer Geschichte: Die Invasion hatte ihren Ursprung im Jahr 1934. Wilhelm Sittich Freiherr von Berlepsch war der Hauptverursacher dieser Bewegung, weil er sich mit Nachdruck für eine Einwilderung der pelzigen Kleinbären stark machte, die die deutsche Fauna und Flora bereichern könnten. »Ein Schaden an der heimischen Natur durch die insektenfressenden Tiere ist mehr als unwahrscheinlich«, sagte Berlepsch und setzte sich so über kritische Stimmen wie etwa jene von Heinrich Hagenbeck, Tierparkdirektor von Hagenbecks Tierpark, hinweg. Berlepsch erhielt nach einigem Hin und Her die Genehmigung von der preußischen Landesjagdbehörde. Ob dies alles wirklich unter persönlichem Einsatz des Behördenleiters, Reichsjägermeister und späterer Reichsluftmarschall Hermann Göring, geschah, ist nicht einwandfrei nachzuweisen. Fakt ist, dass auf diesem Wege zwei aus Pelztierfarmen befreite Waschbärenpärchen in der Revierförsterei Asel am Edersee in Hessen ausgesetzt wurden und sich fortan artig vermehrten. In den Kriegswirren ließ die Aufmerksamkeit, die den Bären einst galt, nach, und hier und da sorgten Bombenabwürfe dafür, dass Pelzfarmen neuen Waschbären die Wälder eröffneten – wie im Edersee-nahen Wolfhagen. Die Aufmerksamkeit für die Waschbären nahm dann erst in den 1950er-Jahren wieder zu, als immer mehr wilde Waschbären immer beharrlicher die Nähe zum Menschen suchten, die diese Gesellschaft fortan als Belästigung wahrnahmen.

Natürliche Feinde wie Wölfe oder Luchse gab es damals nicht mehr. Daher durften die bis dahin unter Naturschutz stehenden Tiere 1954 erstmals mit spezieller Jagdlizenz geschossen werden, um dem wilden Treiben Einhalt zu gebieten. Doch der Schuss ging – wie man so schön sagt – nach hinten los. Denn durch sein behändes Eingreifen schoss der Mensch die Bestände in ungeahnte Höhen: Mit steigender Zahl an getöteten Waschbären stieg die Geburtenrate rapide an – cleverer Evolution sei Dank. Lag der Bestand 1956 gerade bei 285 Bären, stieg er in den Siebzigerjahren bereits auf über 20 000 Exemplare. 2005 schätzten Experten die Waschbären-Population schon auf 200 000 bis 400 000 Tiere deutschlandweit.

Noch immer wird der Waschbär gejagt. 2016 wurden trotz Schonfrist ca. 28 000 Tiere erlegt. Allerdings wird der Bestand mit mehr Umsicht dezimiert als in den letzten Jahrzehnten. Mittlerweile haben die Verantwortlichen begriffen, dass die beste Bekämpfung nicht Töten, sondern Prävention heißt. Es gilt, Gebäude gegen eine Eroberung der cleveren Kletterer hinreichend abzusichern und darüber hinaus etwaige Fressquellen in und an den Häusern (wie Komposthaufen und Müllbeutel, die über Nacht an die Straße gelegt werden) auszutrocknen. Aktuell werden Zwangssterilisation oder das Auslegen von Anti-Baby-Pillen diskutiert. Derweil haben sich die Waschbären weit über Mittel- und Ostdeutschland ausgebreitet. Eine Ausrottung ist längst nicht mehr möglich.

Seit dem 13. Juli 2016 steht der Waschbär auf der EU-Liste der invasiven Arten. Das bedeutet, dass er heimische Tierarten gefährdet oder in ihrer Population stören kann. Hin und wieder kommt es tatsächlich vor, dass Waschbären Füchse aus ihren Bauten vertreiben und sich dort selbst einrichten. Oder dass sie Graureiher in ihrer Brutzeit stören, weil deren Eier eine Delikatesse für sie darstellen, für die sie die Nester plündern. So manches Mal haben sie auch schon freilaufende Hunde angefallen, sobald diese zu nah an die Aufzuchtverstecke der Waschbärenmütter herangekommen waren.

Waschbären werden in der Regel nicht zahm. Sie können es aber effektiv vortäuschen: Die jahrelange Nähe zur Zivilisation hat sie zutraulich gemacht und längst haben sie den Menschen als nahrungsspendende Quelle entdeckt. Mittlerweile sind sie Allesfresser. Egal, ob ordinärer Haushaltsmüll, Kompostabfälle, Kartoffeln aus dem Vorgarten oder eben das Dämmmaterial unter den Dachgiebeln: Alles wird verwertet! Und der freudigen Verwüstung sind dabei keine Grenzen gesetzt. Allerdings kamen der Wolf und in einigen Gebieten auch der Luchs zurück, was für die Zukunft eine natürliche Dezimierung der Bestände vermuten lässt.

Aus heutiger Sicht lässt sich sagen: Der Plan von Freiherr von Berlepsch ist voll aufgegangen. Die Waschbären sind aus unserer heutigen Fauna nicht mehr wegzudenken.

Oder wie die vielzitierte Pionierin der deutschen Waschbärforschung, Dr. Walburga Lutz, schon 1981 in ihrer Dissertation schrieb: »Es ist müßig zu fragen, ob die Einbürgerung zu begrüßen oder zu verurteilen war, nachdem nahezu das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland besiedelt ist. Die Einbürgerung selbst ist erfolgreich verlaufen und nicht mehr rückgängig zu machen. Wir sollten deshalb mit dem Waschbären zu leben lernen.«

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