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VII - Feindkontakt

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Sorel eilte in fliegender Hast über die Galerie und wich im letzten Moment einer Tür aus. »Pardon!« rief er über die Schulter zurück, während ihn die Flüche eines Kammerdieners verfolgten. Wie verdammt riesig das Kardinalspalais war, wenn man es eilig hatte!

»Achtung!« Der Warnruf galt einem Kameraden, der gerade um genau die Ecke biegen wollte, um die Sorel wehenden Mantels sprintete. »Komme zu spät!« rief er entschuldigend dem verdutzten Gardisten zu und lief weiter. Seine Schritte hallten laut durch die Gänge, am frühen Morgen gehörte er zu den wenigen Leuten, die schon munter auf den Beinen waren. Allmählich kam er ins schwitzen und hatte noch eine weitere Galerie bis zum Arbeitszimmer des Kardinals zu durchqueren.

Sorel schallt sich stumm selbst, während er mit Schwung die nächste Treppe nahm. Er hatte sich ablenken lassen von privaten Angelegenheiten. Sehr einnehmenden, hübschen privaten Angelegenheiten, mit einem bezaubernden Lächeln und vollen Lippen, von denen er sich bis kurz vor Dienstantritt nur schwer hatte losreißen können. Beinahe hätte er darüber Jussacs Befehl vergessen, einen neuen Kameraden abzuholen. Gerade rechtzeitig vorm Wachappell war es ihm doch wieder eingefallen und nun musste er die Beine in die Hand nehmen.

Auf dem letzten Stück fiel Sorel erst in einen lockeren Trab und dann in normales Marschieren zurück, um seinen raschen Atem zu beruhigen. Der Neue musste nicht wissen, dass und warum er beinahe vergessen worden wäre.

An der Flügeltür zum Vorzimmer nickte Sorel den beiden wachhabenden Kameraden, Meunier und Forgeron, zu und trat ein. Ein rascher Blick durch den Raum zeigte das übliche Bild: Ein wertvoller, blankgeputzter Holzboden, ein kunstvoller Wandteppich zur Rechten, verglaste Fenster zur Linken, gepolsterte Stühle für wartende Gäste. Sonst war niemand hier.

»Hm?« Verwirrt ließ Sorel noch einmal den Blick schweifen, aber das Vorzimmer blieb verwaist. Ob er es wagen sollte, bis zu Richelieu selbst vorzudringen? Der junge Mann zögerte. Es wäre höchst unüblich gewesen, wenn ein neuer Rekrut beim Kardinal zum ersten Dienstantritt vorsprach.

»Bin nicht allein verspätet, wie?« murmelte Sorel, halb amüsiert und halb verärgert. Er machte auf dem Absatz kehrt und trat wieder vor die Tür. »He, Meunier! Hat sich in den letzten Minuten jemand hier herumgetrieben, der auffällig nervös, verloren und wahnsinnig stolz auf sich selbst gewirkt hätte?«

Der angesprochene Gardist schmunzelte wissend. »He, Sorel! Wie du an deinem ersten Tag?«

Es hatte längst die Runde gemacht, dass sich heute ein neuer Rekrut in ihren Reihen einfinden sollte. Sorel plusterte sich auf und war trotzdem einen halben Kopf kleiner als die Kameraden. »Ich bin zu Recht stolz auf mich selbst!«

»Na, aber sicher doch.« Meunier hob die Schultern. »Nein, niemand ist hier gewesen.«

»Jussac wird jubeln...« Sorel brauchte nicht viel Fantasie, um sich die finstere Miene des Leutnants vorzustellen. Kein guter Einstieg für den Neuen. Ob es sich lohnte zu warten?

»Da.«

Sorel sah in die Richtung, in die Forgeron plötzlich deutete. Tatsächlich kam festen Schrittes, den Federhut tief ins Gesicht gezogen und darunter äußerst grimmig dreinschauend, ein Mann heranmarschiert. Es brauchte einen Moment bis Sorel ihn erkannte. »Schon wieder Monsieur d'Artagnan?«

Meunier neben ihm schnaubte verächtlich und auch Forgeron verfolgte den Auftritt wachsamen Blickes. D'Artagnan hielt auf sie zu und musste genau verstanden haben, was die Gardisten untereinander austauschten, denn in seinen Augen blitzte es angriffslustig. Vielleicht wäre es beeindruckender gewesen, wenn nicht noch immer ein allmählich verblassendes Veilchen ihn geziert hätte. Unbewusst legte Sorel eine Hand auf den Degengriff.

D'Artagnan bemerkte auch diese Geste und riss sich zusammen. Am Eingang zum Palais hatte ihn erneut Cahusac aufgehalten. Rochefort hatte es offenbar schon wieder versäumt mitzuteilen, dass er eingelassen werden durfte. Nach einem knapp gehaltenen Wortwechsel ließ der Gardist ihn passieren, heute ohne Begleitschutz. Kein Wunder, sein Kindermädchen stand ja bereits am Kabinett und musterte ihn jetzt neugierig.

»Sorel.« grüßte d'Artagnan neutraler Miene und streifte die beiden anderen Gardisten mit einem flüchtigen Blick. Vollstes Misstrauen sprach aus ihrer Haltung. Großartig, so hatte er sich das vorgestellt. Es würden heitere Wochen werden.

»Monsieur le lieutenant.« erwiderte Sorel den Gruß und d'Artagnan stutzte. Leutnant? Wussten sie noch nicht, dass er ab heute als der Geringste der Ihren diente? Für den Moment beließ er die Männer noch in dem Glauben, um zu fragen: »Wo finde ich euren vorgesetzten Offizier?«

Sorel musterte ihn weiterhin abwägend und in seinem jugendlichen Gesicht arbeitete es. Er schien gewitzter zu sein als seine Kameraden, die bockig schwiegen. Sorel vermochte hingegen eins und eins zusammenzuzählen. »Wenn Ihr nicht gerade Hauptmann Luchaire meint, dann ist Jussac in der Wachstube.«

D'Artagnan nickte knapp und rang sich ein halblautes »Danke« ab. Ja, er meinte Jussac. Die Garden des Kardinals zählten mehrere hundert, bald tausend Mann zu Pferd oder zu Fuß, hinzu kamen Fähnriche und Leutnants wie Sand am Meer. Aber der handverlesene Palaistrupp von 60 stets anwesenden Gardisten war in erster Linie Jussac unterstellt. Gleich nach dem Hauptmann natürlich. ...und wo war diese Wachstube?

»Ich führe Euch.« Sorel fing einen überraschten Blick seiner Kameraden auf und lächelte entschuldigend. »Es wird schon in Ordnung sein. Unterwegs treffe ich vielleicht noch jemanden, der sich verlaufen hat.«

Meunier runzelte zwar die Stirn, aber äußerte sich nicht weiter dazu. Auch Forgeron schien Sorels Vermutung, dass der neue Rekrut irgendwo im Palais herumirrte und sich nicht bis zum Treffpunkt durchgefragt hatte, recht einleuchtend zu sein. Neulinge eben. So war es ihnen allen einmal ergangen.

D'Artagnan wartete, bis Sorel die Führung übernommen hatte und folgte einen halben Schritt hinter dem Gardisten. Der junge Mann ging federnd und trug ein vergnügtes Lächeln auf. Stolz, der Kleine, von sich selbst überzeugt. Er schien mit der Welt und sich im Reinen zu sein. Im Gegensatz zu seinem Begleiter, der nicht an sich selbst vor vielen, vielen Jahren erinnert werden wollte und mürrisch forderte: »Sagt mir einfach nur, wo ich lang muss. Ich finde die Wachstube allein.«

»Gewiss, Monsieur le lieutenant, das würdet Ihr. Aber ich bin Jussacs Anweisungen verpflichtet.«

»Anweisungen?«

»Den neuen Rekruten zu ihm zu bringen.«

D'Artagnan gratulierte sich stumm zu seiner Einschätzung. Ja, dieser Sorel war ein rechter Schlaukopf. Wann würde ihm das wohl zum Verhängnis werden? »Ihr werdet schön den Mund darüber halten, bis ich mit Jussac gesprochen habe.«

»Verstanden!« erwiderte Sorel munter. Er warf dem vermeintlichen Leutnant einen Seitenblick zu, aus dem allzu verständliche Neugier sprach. D'Artagnan sah so grimmig zurück, dass der junge Gardist alle Fragen ganz schnell hinunterschluckte und sich nur noch auf den Weg konzentrierte. Besser für ihn.

Die Wachstube schien zugleich ein Arsenal zu sein. Während die Gardisten beim Wachdienst nur eine Pistole diskret unter dem Kasack verborgen trugen, waren für den Ernstfall hier im Saal die Musketen deponiert. Ein gekachelter Kamin dominierte die rückwärtige Wand und spendete Wärme, davor befanden sich Reihen von Holztischen und -bänken. D'Artagnan bemerkte auf einem der Tische eine begonnene Kartenpartie liegen, auf einem anderen ein Würfelspiel. Hier schienen auch Mahlzeiten ausgeteilt zu werden, wie ein paar stehengelassene Schüsseln und Becher zeigten.

Im Moment befand sich niemand auf Abruf hier. Vielleicht hatte gerade der Wachwechsel begonnen oder die Gardisten sammelten sich im Hof zum Morgenappell. Einzig an einem der hinteren Tische, nahe beim Kamin, saß, in ein schmales Buch vertieft, der Leutnant der Kompanie. D'Artagnan gab Sorel stumm zu verstehen, dass er die letzten Schritte durchaus ohne Begleitung bewältigen könnte. Der junge Gardist zog sich umgehend und widerspruchslos zurück, offenbar glaubte er wirklich noch an den höheren Rang des anderen.

D'Artagnan wartete, bis sich die Tür hinter ihm schloss, ehe er durchatmete und dann tiefer in die Höhle des Löwen trat. Jussac gab mit keiner Regung zu erkennen, ob er die Anwesenheit des anderen Mannes bemerkt hatte. Er schien ganz in seine Lektüre vertieft und sah auch dann nicht auf, als d'Artagnan nur noch zwei Schritte von ihm entfernt stehenblieb und die Hände hinter dem Rücken zusammenlegte.

Momente verstrichen, in denen der ehemalige Musketier überlegte, ob er nun entweder dreist auf sich aufmerksam machen sollte oder sich weiter selbst herabsetzte, indem er auf ein Zeichen des gnädigen Herrn Leutnants wartete. Jussac indes blätterte nur um. D'Artagnan konnte den Titel des Werkes nicht lesen, erspähte aber jetzt eine Seite mit der anatomischen Zeichnung eines Hundes und einiger Erläuterungen dazu. Der Text schien auf Latein verfasst zu sein und sofort sank jedes Interesse d'Artagnans daran ins bodenlose. Er räusperte sich.

»Himmelherrgott, was wollt-« Jussac schnauzte über das Buch hinweg, aber er vollendete die Frage mit einem ungläubigen: »-Ihr?!« als er den Störenfried erkannte.

D'Artagnan konnte es ihm nicht verübeln. Er war genauso wenig erfreut darüber, hier stehen zu müssen, jetzt seine Gestalt zu straffen und es in einem möglichst schnellen und schmerzlosen Satz hinter sich zu bringen.

»MeldemichzumDienst, Herr.«

Jussacs Gesichtsausdruck war die Sache beinahe wert. Fassungslosigkeit war noch zu mild ausgedrückt für das, was aus seinem Blick sprach. Der Leutnant blinzelte mehrmals und schien zu überlegen, ob er gerade richtig verstanden hatte.

D'Artagnan schwieg und musterte einen Punkt knapp am linkem Ohrläppchen seines Vorgesetzten vorbei. Eine Kachel am Kamin hatte einen Sprung. Niemand rührte sich.

Schließlich legte Jussac ganz langsam das Buch auf den Tisch und gab dabei zwischen den Zähnen, mühsam beherrscht, von sich: »Wenn das ein Scherz sein soll, beweist Ihr damit einen ganz üblen Humor, und wenn das kein Scherz ist, hasst mich Gott inzwischen genug, um mir Euch als permanentes Ärgernis zu schicken.« Als d'Artagnan nichts erwiderte, stand Jussac auf und trat dicht vor den anderen Offizier. »Sagt, dass es ein Scherz ist!«

Der drohende Unterton war es nicht, der d'Artagnan weiterhin schweigen ließ. Vielmehr gab es nichts zu sagen, der erzwungene Blickkontakt genügte, um Jussac begreiflich zu machen: »Euch hat Rochefort demnach angekündigt.«

Ohne eine Bestätigung abzuwarten, wandte sich der Leutnant brüsk dem Kamin zu, griff nach dem Schürhaken und stocherte in der Glut. Um seiner eigenen Gesundheit willen, äußerte sich d'Artagnan auch da nicht zu. Es wäre ein unrühmliches Ende gewesen, gleich am ersten Tag mit dem Schürhaken erschlagen zu werden. Oder in Notwehr den Vorgesetzten zu durchbohren.

»Welcher Rang?«

»Pardon?«

»Welchen Rang bekleidet Ihr?!« brüllte Jussac den Kamin an. Es musste bis vor die Tür zu hören gewesen sein. Den Leutnant der Gardisten kümmerte es nicht, er war zu wütend. Vielleicht verscherzte er es sich gerade mit seinem zukünftigen Hauptmann? Luchaire hatte in den letzten Monaten oft genug davon gesprochen, seinen wohlverdienten Abschied zu nehmen. Jussac hätte die Beförderung zugestanden, aber natürlich, bei seinem Glück pfuschte ihm jetzt dieser dreckige Gascogner dazwischen.

»...einfacher Soldat.« antwortete d'Artagnan zögerlich dem Rücken des anderen. Er war nicht sicher, ob Jussac ihn gehört hatte, denn der Leutnant stand noch immer aufs äußerste angespannt und starrte in die Glut. D'Artagnan beherrschte sich, nicht allzu ungeduldig Jussacs langsam arbeitenden Verstand ertragen zu müssen. Jetzt hängte er zumindest den Schürhaken zurück. Der Leutnant wandte sich nicht um, als er gepresst befahl: »Meldet Euch beim Zeugmeister und dann zum Appell im Innenhof.«

»Ja, He-«

»Sofort!«

D'Artagnan klappte den Mund wieder zu, seine Kiefer mahlten. Das verlief doch großartig, Rocheforts Plan war nie und nimmer zum Scheitern verurteilt! Ohne weitere Bestätigung, ohne Salut marschierte er aus dem Wachsaal. Er hatte die Tür kaum hinter sich zugeworfen, als von drinnen lautes Poltern zu hören war. Jussac machte seinem Zorn wohl gerade an der Einrichtung Luft. Besser, als an ihm oder dem Stallmeister. Der Lärm entging allerdings auch nicht der kleinen Gruppe von Gardisten, die sich just einfand. D'Artagnan entdeckte unter ihnen Sorel, der fragend zwischen der Tür und ihm hin- und hersah. Früher oder später musste er seinen neuen Kameraden gegenübertreten, sich ihren Spott und ihre Verachtung gefallen lassen. D'Artagnan entschied sich für früher und ging den Gardisten entgegen.

Plötzlich wurde er am Arm gepackt und angeblafft: »Nicht so eilig!«

D'Artagnan riss sich instinktiv los und erkannte Bernajoux, nebst Biscarat. Beide Männer maßen ihn feindselig. Wenn es ihnen nicht um ihren Freund Jussac gegangen wäre, wären sie einen Offizier, für den sie d'Artagnan noch immer halten mussten, niemals derart angegangen.

»Was hattet Ihr da drin zu suchen?« Biscarat übernahm wohl das Reden, während Bernajoux die Muskeln spielen ließ. Auf fast lächerliche Art fühlte sich d'Artagnan an Aramis und Porthos erinnert. Allerdings stand ihm herzlich wenig der Sinn danach, sich erneut an seinem ersten Tag mit alles und jedem anzulegen und Duelle vom Zaun zu brechen. Das hatten sie vor mehr als zehn Jahren schon hinter sich gebracht. Außerdem machte ihm immer noch sein Knie nach der Schlägerei im Drei Kronen zu schaffen.

»Fragt Jussac doch selbst!« warf er aufgebracht zurück und ließ die beiden Gardisten stehen. Unbehelligt ließen sie ihn ziehen, vielleicht zu überrumpelt von diesem Auftritt. Sogar Sorel schien sich hastig nach einem Fluchtweg umzusehen, als ihm aufging, dass d'Artagnan genau auf ihn zuhielt. Der junge Gardist verharrte allerdings tapfer an Ort und Stelle und nickte langsam, als er angebellt wurde: »Zeugmeister!«

Sorel setzte sich in Bewegung und führte d'Artagnan neuerlich an den gewünschten Ort. Er schwieg dieses Mal eisern, ernüchtert, wenn nicht sogar enttäuscht. Bernajoux, Biscarat und sogar der schweigsame Cahusac hatten immer wieder alte Kriegsgeschichten aufgewärmt und ihrem jüngeren Kameraden erzählt; und obwohl oder gerade weil sie Feinde waren, kam in diesen Geschichten auch der Leutnant der Musketiere vor. Die tollkühne Eroberung von Saint-Germain zum Beispiel. Wie ärgerlich es für Seine Eminenz gewesen sein musste, dass der König ihm den vielversprechenden, jungen Soldaten nach diesem Abenteuer vor der Nase weggeschnappt und zum Musketier gemacht hatte. Vielleicht wäre d'Artagnan sonst ein Gardist des Kardinals geworden, statt für Jahre auf diesem Posten als Leutnant festzuhängen.

Von diesen Überlegungen ahnte d'Artagnan freilich nichts, sonst hätte er Sorel bei einem Glas guten Weins vielleicht eine ganz andere Geschichte erzählt. Eine über seine besten Freunde, über den naiven Traum eines Landadeligen. Über unverhoffte Wendungen.

Stattdessen aber haderte d'Artagnan mit dem Schicksal und hieß das Schweigen willkommen.

Die Lilie in Kardinalrot

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