Читать книгу Die Lilie in Kardinalrot - Maren von Strom - Страница 9
V - Kameraden
ОглавлениеRochefort musste zugeben, dass d'Artagnan ihn überrascht hatte. Der Gascogner hatte nicht nur den vernünftigen Weg gewählt und dem Handel zugestimmt; nein, noch dazu war nicht ein einziger, ungehöriger Fluch über seine Lippen gekommen!
Selbst Richelieu schien über den Ausgang erstaunt, als er sich nun an seinen Stallmeister wandte: »Bringt ihm nachträglich die Papiere.«
Rochefort neigte den Kopf und nahm vom Schreibtisch den Einberufungsbefehl für d'Artagnan an sich. So schnell der ehemalige Musketier nach dieser Unterredung davongestürmt war, hatte er den offiziellen Teil mit Brief und Siegel gänzlich ausgelassen. Das gab Rochefort die Gelegenheit, noch einige Details mit dem neuesten Gardisten unter vier Augen zu besprechen. »Ich werde ihm einige Stunden geben, um sich zu fangen.«
»Setzt Hauptmann Luchaire in Kenntnis.« Der Kardinal lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen. Mehr Schonung erlaubte er sich nicht. »Nur das Notwendige. Er ist ein guter Verwalter und hervorragender Stratege, aber er muss nichts von dieser Sache wissen.«
»Ja, Eminenz.« Rochefort behielt einen leisen Zweifel über diese Anweisung für sich. D'Artagnan war offenbar auf sich allein gestellt bei seinen Nachforschungen - und dabei, seinen neuen Platz in der Garde einzunehmen. »Gibt es eine Frist, um Mademoiselle de la Nièvre zu finden?«
»Ihr Vater hat die Situation verstanden.«
Rochefort nickte. Das hieß wohl, vorerst hielt der Herzog von Nièvre die Füße still und überließ den Männern des Kardinals die Suche. Richelieu schlug die Augen wieder auf, die kurze Erholungspause hatte ihn zumindest etwas Farbe im Gesicht gewinnen lassen. Rocheforts besorgte Miene schien ihm jetzt lästig zu werden und er winkte ihn mit einem letzten Befehl hinaus. »Unterrichtet d'Artagnan über alle Details, die Ihr für wichtig haltet.«
»Monseigneur.« bestätigte Rochefort und ließ den Kardinal allein. Vor der Tür zum Kabinett hielt er inne und überlegte. Details, die er selbst für wichtig hielt? Richelieu schien seinem Stallmeister völlig freie Hand lassen zu wollen. Gut. Ein erstes Detail konnte er gleich hier und jetzt im Palais angehen.
Bis zur Wachstube der Garde war es kein weiter Weg und nicht einmal den musste Rochefort vollständig zurücklegen; kaum um ein paar Ecken gebogen, traf er auf einer Galerie die Herren Bernajoux, Biscarat und Jussac an. Genau die hatte er gesucht. Oder zumindest einen von ihnen, den Leutnant. In der Regel wussten die drei unzertrennlichen Freunde voneinander stets, wo sich die jeweils anderen aufhielten und deshalb hätte Rochefort nur einen von ihnen auf seinem Posten ausfindig machen müssen, um sich zu Jussac durchzufragen.
Die drei Gardisten standen bei einer der Säulen und schienen vor Dienstbeginn noch einen kameradschaftlichen Plausch zu halten. Jeder konnte leicht sehen, dass die Männer sehr vertraut miteinander waren. Es genügte ihnen kaum ein Wort, kaum eine Geste um einander zu verstehen. Gerade lachten sie gemeinsam, klopften sich gegenseitig auf die Schultern und hatten wohl alle Zeit der Welt für sich gepachtet.
Rochefort beobachtete das Trio im Näherkommen. Bernajoux war der Mundfaule von ihnen und streute nur einzelne Worte in das Gespräch ein. Er überragte seine Freunde um fast einen Kopf und genoss den Ruf, ein rechter Streithahn zu sein. Wann immer man von einem Duell gegen Musketiere gehört hatte, Bernajoux war sicherlich dabei gewesen. Die Raufereien hatten sichtbare Spuren hinterlassen, die mehr erzählten als alle Worte. Oft musste er sich von Biscarat aufziehen lassen, wenn er nur halb so gewandt im Reden wie mit der Klinge wäre, könnte ihm keine Dame widerstehen. Aber mit diesem narbigen Gesicht, ei, da wäre er nur ein halber Lancelot, noch nicht entstellt genug, um wieder faszinierend auf Frauen zu wirken.
Überhaupt, Biscarat! Wie d'Artagnan stammte auch er aus der Gascogne. Seine spanische Mutter hatte ihm nicht nur besonders dunkle, schöne Augen, sondern auch einen strengen Katholizismus im Land der Katharer und fin'amor vererbt. Seine Kenntnisse der spanischen Sprache und Sitten brachten ihm oft wichtige Missionen ein, wenn Rochefort abkömmlich war. Indes war Biscarat vollauf zufrieden damit ein Gardist zu sein und nur zeitweise ein Agent, Diplomat oder einfach nur Dolmetscher.
Jussac begrüßte diese Einstellung sehr, denn so verlor er nicht einen seiner besten Männer an Rochefort. Der Leutnant trug die Uniform der Garden mit Stolz. Sie war ihm über die Jahre eine zweite Haut geworden, die er nicht abstreifen konnte. Er hätte es auch nicht gewollt, die Leibwache des Kardinals war immer im Dienst und wachsam. Oft genug wollten die Kommandanten anderer Regimenter ihn abwerben, lockten ihn mit Beförderungen und zahlreichen Vergünstigungen. Jussac schlug stets aus, seine Treue galt Richelieu und der Kardinal entlohnte ihn dafür mit Achtung vor seinen Verdiensten und gerne auch einer Solderhöhung. Jussac trug viel Verantwortung und oft eine finstere Miene, besonders wenn er den Stallmeister Seiner Eminenz nahen sah. Wie in diesem Moment.
»Jussac!« Rochefort ignorierte das kaum zurückgehaltene Seufzen des Leutnants. Es lag keine Respektlosigkeit ihm gegenüber darin, sondern war der Erfahrung geschuldet, dass der Auftritt des Stallmeisters meistens Scherereien für die Garde bedeutete.
»Rochefort!« rief Jussac in einem begeisterten Ton zurück, als wäre er auf jedes 'Hopp' sofort zur Stelle gesprungen. Tatsächlich ließ er den Stallmeister aber zu sich kommen, ohne selbst nur einen Schritt in seine Richtung zu machen. Man hätte das als großspurig abtun können, aber Jussac unterstand schlicht nicht dem Befehl Rocheforts; an manchen Tagen schien er daran erinnern zu müssen.
»Auf ein Wort.« Rochefort ging an der Gruppe vorbei und winkte Jussac knapp, ihn zu begleiten. Hinter seinem Rücken wurden fragenden Blicke getauscht. Bernajoux und Biscarat schienen zu ahnen, dass es Rochefort verdammt ernst sein musste, wenn er nicht auf die üblichen Sticheleien zwischen sich und Jussac einging.
Der Leutnant bedeutete den beiden Freunden, auf ihn zu warten und folgte dem Stallmeister dann zu einem abseits gelegenen Dienstboteneingang. Dort fragte er: »Was gibt es so dringliches?«
Rochefort erklärte sich allerdings nicht sofort und Jussac runzelte die Stirn. Er kam sich auf den Arm genommen vor, zumal Rochefort jetzt übertrieben nach allen Seiten spähte, ob sie allein waren. Natürlich waren sie das nicht. In diesem Palais war immer irgendwer in der Nähe und tratschte später darüber. Sehr beherrscht sagte der Leutnant: »Der Wachappell wartet.«
Rochefort entspannte endlich seine Haltung und verärgerte Jussac damit noch eine Spur mehr. So wichtig und ernst konnte die Sache also doch nicht sein, wenn der Stallmeister Zeit für unnötige Geheimniskrämerei übrig hatte. Wie gewöhnlich kam Rochefort auch nicht sofort zum Punkt, sondern schlich vage um den heißen Brei herum. »Ich habe ein wichtiges Anliegen an Euch.«
»Ein... Anliegen?« Das klang persönlich. Jussac musterte sein Gegenüber mit neuer Aufmerksamkeit. Rochefort wirkte zwar gelassen, aber der Leutnant kannte ihn schon zu viele Jahre, um nicht skeptisch zu sein. »Keinen Befehl? Wirklich?«
»Ja. Ich muss Euch um einen Gefallen bitten.«
»Was, mich?« Jussac machte keinen Hehl aus seinem Erstaunen und verbesserte sich: Es musste Rochefort sogar verdammt wichtig sein, wenn er eine Bitte an ihn richtete. »Einen Gefallen für Euch?«
»Für mich.«
Darauf folgte Schweigen. Lange Momente starrten sich die Männer nur abwartend an. Als Jussac schließlich einsah, dass keine weitere Erklärung folgen würde, warf er die Hände in die Luft und stieß aus: »Ja, Himmelherrgott! Wenn es in meiner Macht steht, erweise ich Euch also einen Gefallen! Ganz ohne vorher zu wissen, worum es sich dabei handelt.«
»Vertraut mir, es steht in Eurer Macht.« Der Stallmeister schmunzelte einen Hauch zu selbstzufrieden für Jussacs Geschmack. »Besonders in Eurer, monsieur le lieutenant.«
»Jetzt sagt schon, was ist es?« schnaufte besagter Leutnant und war insgeheim doch erleichtert, von Rochefort wie gewohnt an der Nase herumgeführt zu werden. Das hieß wohl, der Kardinal war auch heute morgen noch nicht seinem Schöpfer gegenübergetreten und hätte seine bedauernswerten Kreaturen sich selbst überlassen.
»Ab dem morgigen Tag habt Ihr einen neuen Mann in der Garde.«
Solche Nachrichten überbrachte ihm üblicherweise nicht Rochefort. Es musste mehr dahinter stecken. »Jemanden, den Ihr kennt?«
»Es handelt sich um- einen Freund.« Rochefort überspielte das deutliche Zögern in seinen Worten, indem er rasch anfügte: »Ich bitte Euch um den Gefallen, ein Auge auf ihn zu haben.«
Jussac nickte langsam. »Als Vorgesetzter? Das kann ich tun.« Er hatte ohnehin auf jeden seiner Männer ein wachsames Auge, wie die Glucke über ihre Küken. In diesen Dingen stand er einem Hauptmann Tréville in nichts nach und ein Gardist mehr fiele nicht ins Gewicht. Nur ahnte Jussac missmutig, dass ihm bald gehöriger Ärger ins Haus stand, wenn Rochefort plötzlich einen persönlichen Gefallen aus einer sonst selbstverständlichen Aufgabe machte.
»Danke. Ich stehe in Eurer Schuld.«
Der Stallmeister neigte in der Tat dankbar und ungewohnt erleichtert den Kopf, was Jussac keinen Deut schlauer als vorher, aber umso zorniger machte.
»Ja, verflucht! Das tut Ihr und nicht zum ersten Mal! Aber ich vergesse viel zu oft, die Schuld einzulösen. Irgendwann, Rochefort!«
»Ich werde es mir merken. Vielleicht.«
Ehe Jussac erneut auffahren konnte, wandte sich Rochefort schon zum Gehen. Nicht, ohne eine letzte Bemerkung fallen zu lassen. »Ihr könnt unseren neuesten Gardisten morgen vorm Wachappell am Kabinett Seiner Eminenz in Empfang nehmen.«
»Ich persönlich?!«
»Teil des Gefallens!« warf Rochefort noch über die Schulter zurück, ehe er einen gleichfalls verdutzten wie verärgerten Leutnant zurückließ. Erst nachdem er kräftig geblinzelt hatte, fiel Jussac eine passende Antwort auf diese Frechheit ein. Der Stallmeister war da schon längst außer Reichweite und so bekamen Bernajoux und Biscarat die gesamte Laune ihres Vorgesetzten ab, als er unter gemurmelten Flüchen und Verwünschungen zu ihnen zurückstapfte.
»Rochefort?« fragte Bernajoux nach seiner üblichen Art kurz angebunden und Jussac knurrte zwischen den Zähnen: »Allerdings, Rochefort.«
»Was wollte er dieses Mal?« Biscarat fand mehr Worte, auch wenn ihn das zur Zielscheibe von Jussacs Zorn machte.
»Was wohl?!«
»Ärger?« Bernajoux stand dem Freund sofort bei, um Jussacs Wut gerecht unter ihnen aufzuteilen. Seine krumme Nase zuckte amüsiert.
»Machen! Ärger machen!« Jussac hielt inne und atmete tief durch. Zwar hatte Rochefort ihn vorhin von den anderen Gardisten weg gerufen, aber ein stillschweigendes Geheimnis hatte er ihm am Ende nicht anvertraut. Es war erlaubt, zu berichten. »Rochefort wünscht, dass ich ein wachsames Auge auf einen neuen Rekruten in unseren Reihen haben soll.«
»Wem?«
»Das sagte er nicht.«
Bernajoux schnaubte. »Hilfreich.«
»Außerordentlich! Wir erfahren zum Morgenappell, welches faule Ei uns da ins Nest gelegt wurde.«
Jussac ertappte sich dabei, eine Hand zur Faust geballt zu haben. Er öffnete sie und schüttelte sie aus, ohne sich dadurch wesentlich besser zu fühlen.
Biscarat fuhr sich nachdenklich übers Kinn. »Das klingt nicht gut. Vetternwirtschaft? Jemand, der nicht zum Gardisten taugt und unter deinen Fittichen lernen soll? Der nicht hierher gehört?«
Der Agent in Biscarat schien plötzlich durchzuschlagen und spann diesen Gedanken mit etwas zu viel Eifer weiter. »Oder der Dreck am Stecken hat, der unter Beobachtung steht. Dessen Loyalität nicht sicher ist. Vielleicht stellt Rochefort ihm eine Falle und-«
Jussac musste an dieser Stelle Einhalt gebieten, ehe der Gascogner sich in hitzigen Spekulationen verzettelte. »Himmel, ich weiß es nicht! Wie immer sind wir nur Erfüllungsgehilfen, ohne einen Anspruch auf Erklärungen!«
Biscarat räusperte sich ertappt. »Hat Rochefort gar nichts sonst erwähnt?«
»Er hat ihn zurückhaltend als 'Freund' tituliert.«
»Dann ist es ganz sicher keiner!« meinte Biscarat vergnügt und mit der ihm eigenen Logik. Bernajoux behandelte die Angelegenheit dagegen pragmatischer und bestimmte: »Wir helfen.«
Jussac brachte ein halbes Lächeln zustande. Mit den Freunden zu sprechen, hatte seinen Ärger gedämpft. Auf ihre Unterstützung war Verlass. Es war nie die Rede davon gewesen, dass diese Aufgabe wirklich allein dem Leutnant zufallen sollte.
»Sechs Augen für Rochefort. Der Herr Stallmeister sollte zufrieden sein. Lassen wir es damit vorerst auf sich beruhen. Zum Dienst, Drückeberger!«
Bernajoux und Biscarat wussten, wann aus dem Freund wieder der Vorgesetzte wurde. Sie salutierten pflichtschuldig. Dann trennten sich ihre Wege für die heutige Wache und Patrouille oder, in Jussacs Fall, zu einer Unterredung mit dem Hauptmann. Der Leutnant der Garden bezweifelte, dass Kapitän Luchaire von Rochefort mehr erfahren hatte und tatsächlich konnte sich Jussac eine Stunde später darüber ganz sicher sein: Auch dem Hauptmann war ohne vorherige Absprache dieser Neuzugang eröffnet worden und er war nicht eben froh darüber. Noch immer kein Name, keine Geschichte. Entweder wusste Luchaire es ebenfalls nicht oder vergaß, sein Wissen zu teilen. Stattdessen schob er die Verantwortung gleich an Jussac weiter. Der Leutnant verschwieg, dass Rochefort ihm diese ehrenwerte Aufgabe bereits hatte zuteil werden lassen.
Später berichteten ihm Cahusac und Sorel, dass am Morgen Leutnant d'Artagnan dem Palais einen unerwarteten Besuch abgestattet hatte. Für eine Unterredung mit Seiner Eminenz persönlich! Dieser lästige Musketier – ehemalige Musketier! - kroch ausgerechnet jetzt aus dem Loch, das er sich selbst gegraben hatte! D'Artagnan war bekannt dafür, sich ständig in Hofintrigen verstricken zu lassen. Was mochte es dieses Mal sein? Jussac hoffte nur, unbehelligt davon zu bleiben und dem Mistkerl nicht nachjagen und ihn verhaften zu müssen. Nicht schon wieder.
Die Nachricht war Jussacs Laune nicht eben zuträglicher, aber sie lenkte ihn zumindest von Grübeleien über Rocheforts ungewöhnliche Bitte ab. Bis zum Abend hatte er den neuen Rekruten beinahe vergessen. Er erinnerte sich gerade rechtzeitig genug, um dem jungen Sorel kurz vor Dienstschluss die Anweisung zu geben, morgen am Arbeitszimmer des Kardinals auf... wen auch immer zu warten. Jussac hatte wahrlich besseres zu tun, als persönlich jeden unbedeutenden Fußsoldaten abzuholen!
Vom Dienst erschöpft, brach Jussac schließlich nach Hause auf und versprach sich selbst ein wohltuendes Bad im Zuber, um diesen Tag halbwegs versöhnlich zu beenden.