Читать книгу Die Lilie in Kardinalrot - Maren von Strom - Страница 6
II – Abgedankt
ОглавлениеDer Fausthieb kam von rechts. D'Artagnan ging sofort zu Boden und blieb benommen liegen. Er blinzelte orientierungslos und mit verschleiertem Blick, nicht sicher, wie er auf dem Tavernenboden gelandet war. Erst sein schmerzendes Kinn, an dem ihn der Schlag erwischt hatte, und das Hämmern in seinem Kopf ließen ihn instinktiv nach Luft schnappen. Gerade rechtzeitig sah er den Angreifer zu einem Tritt ausholen.
Bevor seine Rippen Bekanntschaft mit einem schweren Arbeitsstiefel machen konnten, fing d'Artagnan den Tritt mit den Händen ab. Für den Bruchteil eines Augenblicks stand seinem Kontrahenten ein verdutzter Ausdruck im Gesicht, bevor eine Rolle zur Seite ihn von den Füßen holte. In derselben Bewegung sprang d'Artagnan auf und sah sich den beiden Kumpanen des Landarbeiters gegenüber. Zwei kräftige Männer, jeder einen halben Kopf größer als der Leutnant und mit ihren schlichten Gemütern verdammt wütend auf ihn. Sie hatten Nacken wie Ochsen und Oberarme wie Dachbalken. Offenbar verdienten sie ihr Geld mit ehrlicher, harter Arbeit und wollten eigentlich nur ihren Lohn im Gasthaus Drei Kronen versaufen.
Ein selbst schon recht angetrunkener, ehemaliger Musketier hatten ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, als er von seinem Platz an einem der hinteren Tische aufgestanden, aber dabei kurz nicht mehr Herr über seine Füße gewesen war und deswegen einen dieser braven Männer angerempelt hatte.
Ein empörtes Wort gab das nächste und dann sprach eine rohe Rechte.
Dass d'Artagnan ihren Freund für den Moment überrumpelt hatte, schien sie davon abzuhalten, sich sofort auf ihn zu stürzen und ihn mit ihren Fäusten, groß wie Findlinge, zu bearbeiten. Vielleicht steckte auch noch eine Unze Verstand in ihren Köpfen, sich besser nicht mit einem voll bewaffneten Offizier anzulegen. D'Artagnan durfte zwar den Musketierskasack nicht mehr tragen, aber das Standesrecht auf Degen und Dolch hatte er nicht zusammen mit dem Uniformrock abgelegt. Seine Pistole trug er vom Mantel verborgen bei sich.
Die anderen Gäste sahen interessiert an dem Schauspiel herüber und hatten sich noch nicht für eine Partei entschieden. Eine Schankmagd hingegen war schon auf die Straße gelaufen, man hörte sie draußen nach der Stadtwache rufen. Der Wirt hatte nach einem Schürhaken bei der Feuerstelle gegriffen. Seiner ängstlichen Miene nach zu urteilen, diente die Geste mehr der eigenen Verteidigung als der Schlichtung.
Es wäre von allen Seiten nun klug gewesen, halbherzige Entschuldigungen zu murmeln und die Sache dabei bewenden zu lassen. Aber der letzte Becher Wein schmeckte d'Artagnan noch auf der Zunge und er war verflucht nochmal zu stolz, um den Rückzug anzutreten.
»Kommt doch!«
Die Aufforderung genügte und drei verbitterte Leben prallten aufeinander. D'Artagnan war dieses Mal vorbereitet und wich dem ersten Hieb aus, um dann selbst zuzuschlagen. Bis auf ein Schnauben zeigte sich sein Gegner gänzlich unbeeindruckt. Sein Kumpan sprang ihm bei und nutzte die Gelegenheit für einen weiteren Tritt. Am Knie getroffen, knickte d'Artagnan ein und hatte außerdem völlig den dritten Mann am Boden vergessen. Der war inzwischen wieder auf den Füßen und packte den Leutnant mit beiden Armen von hinten. Der Griff war unerbittlich. Die anderen Beiden grinsten hämisch.
In die übrigen Gäste kam Bewegung. Einige sprangen auf und feuerten die Kontrahenten an, ihnen ein ordentliches Schauspiel zu bieten. Andere brachten sich in Sicherheit, bevor sie selbst unverhofft Teil der Balgerei werden würden. Erste Krüge und Stühle wurden umgeworfen, Beschimpfungen flogen durch die Schenke. Der Wirt sah flehentlich zur Tür, ob seine Magd endlich die Wache alarmiert hatte, doch noch brüllte niemand nach Einhalt und Verhaftung.
D'Artagnan steckte den ersten Schlag mit angespannten Muskeln ein, trotzdem trieb es ihm fast die Luft aus den Lungen. Rein instinktiv wand er sich in der Umklammerung - und kam frei. Es überraschte nicht nur ihn selbst. Das gesamte Drei Kronen hielt den Atem an, als der Tagelöhner ächzend zusammensackte und mit einer blutenden Wunde am Hinterkopf liegenblieb.
»Habt Ihr die Lektion damals in Meung noch immer nicht gelernt?«
Rochefort stellte einen Bierkrug ab und machte einen großen Schritt über den Bewusstlosen am Boden, um sich neben d'Artagnan zu gesellen. Tadelnd maß er ihn, wie ein Lehrer den Schüler. »Kneipenschlägereien solltet Ihr nur mit einem Freund im Rücken anzetteln.«
D'Artagnan schnaubte abfällig, ohne die beiden übrigen Raufbolde aus dem Blick zu lassen. »Dann bleibt besser hinter meinem Rücken, bevor Ihr Euch dieses Mal selbst ein Veilchen holt.«
»Ein Veilchen? Die Meute will Blut sehen.«
D'Artagnan riss gerade rechtzeitig schützend einen Arm hoch, als ein Becher knapp an seinem Ohr vorbeiflog. Das war das allgemeine Signal und wo eben noch die Zuschauer einen Halbkreis gebildet hatten, wogte plötzlich eine prügelnde Menge vor und zurück. Der Leutnant verlor Rochefort aus den Augen, als er sich im Durcheinander der Schlacht unter einem Schwinger mit einem abgebrochenen Stuhlbein wegducken musste. Rückzug war plötzlich eine erstrebenswerte Option geworden.
Vielleicht sprach es während der nächsten Augenblicke für den Ruf des Drei Kronen, dass keine Waffen gezogen wurden; und da dieser Tage jedermann das Allzweckwerkzeug 'Messer' mit sich führte, hätte nur allzu schnell aus einer Schlägerei ein Krieg werden können. Der Kampf war trotzdem lärmend und heftig und griff sogar auf die Straße vor dem Wirtshaus über; eben noch neugierig durch die Fenster spähende Passanten waren auf einmal in Faustkämpfe miteinander verwickelt, bei denen jeder auf jeden einschlug, ohne recht den Grund dafür zu wissen. Der Wirt drückte sich kreidebleich in eine Ecke und jemand musste entdeckt haben, dass sich nicht nur Krüge und Becher, sondern auch Weinflaschen trefflich werfen ließen.
Glas splitterte knapp über d’Artagnans Kopf und Scherben gingen auf seinen Federhut nieder. Er hatte zu lange an einem Ort verweilt und darum ein lohnenswertes Ziel abgegeben. Fluchend gab er auf, weiter nach Rochefort Ausschau zu halten und bahnte sich geduckt einen Weg an umgestürzten Tischen und Stühlen vorbei. Zwei Fronten kämpften miteinander; links gegen rechts, vielleicht auch vorn gegen hinten. Sobald eine von beiden Parteien besiegt wäre, würde die verbliebene den Konflikt gegen sich selbst richten, bis die Stadtwache einschritt.
D'Artagnan stand nicht der Sinn nach Arrest und damit dem Verlust der kümmerlichen Reste seiner Reputation und Ehre, die er sich noch bewahrt hatte. Er stellte einem Kerl ein Bein, der mit gehobenen Fäusten auf ihn zugerannt kam und sah sich in einer Atempause um. Im hinteren Teil des Schankraums führte eine Tür in den Innenhof hinaus; und da war auch Rochefort.
Der Stallmeister schien nicht einen Kratzer abbekommen zu haben, allenfalls sein Mantel war etwas in Unordnung geraten. Er wartete an der Tür, bis d'Artagnan mit weiterem Ducken, Ausweichen und im Vorbeilaufen einen Fausthieb austeilend einen Weg zu ihm gefunden hatte. Ein kurzer Blickwechsel, dann folgte er Rochefort sofort hinaus auf den Innenhof. Aber kaum hatte d'Artagnan die Tür hinter sich gelassen, riss ihn jemand an der Schulter herum und schlug zu. Wieder sah er Sterne und taumelte zurück, wieder war es Rochefort in seinem Rücken, der ihn vorm Fall bewahrte.
Mit einem wütenden Brüllen schüttelte d'Artagnan die helfende Hand ab und zog seine Pistole. Der Angriff des Landarbeiters endete abrupt, als er in die Mündung der Waffe starrte. Kalter Schweiß tropfte ihm von der Stirn, Todesangst in den Augen. Für einen endlos scheinenden Augenblick geschah nichts. Dann krümmte d'Artagnan den Finger am Abzug.
»D'Artagnan!«
Der Befehlston ließ den ehemaligen Musketier innehalten. Sein Finger verharrte weiterhin kurz vorm Auslösen am Abzug, als Rochefort neben ihn trat und gelassen meinte: »Schießt, und Ihr seid binnen einer Stunde in der Bastille.«
»Ihr würdet mich da wieder herausholen, Freund.«
»Ja.« Rochefort nickte knapp und ohne Mitleid für den unglücklichen Raufbold, der schielend noch immer die Pistole anstarrte und einen wimmernden Laut von sich gab.
D'Artagnan brachte mühsam beherrscht zwischen den Zähnen hervor: »Also?«
»Also werdet Ihr mir Euer Leben und mehr als einen Gefallen schulden. Das vereinfacht mir natürlich eine gewisse Angelegenheit.« Rochefort machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nur zu, erschießt diesen Tölpel. Ob er die Schuld wert ist? Noch vermute ich einen Funken Verstand in Euch.«
»Ah, vermutet Ihr?«
»Selbstachtung steht offenbar nicht zur Debatte.«
Der Pistolengriff verfehlte Rochefort nur deshalb, weil er rechtzeitig das Handgelenk d'Artagnans zu fassen bekam und den Schlag ablenkte. Ein Schuss löste sich und verlor sich irgendwo im Himmel über Paris. Der Landarbeiter schrie in Panik und stolperte auf der Flucht über seine eigenen Füße, während hinter ihm Leutnant und Stallmeister verbissen um die Oberhand rangen.
Im Wirtshaus hatte man den Schuss gehört und jetzt versuchte jeder nur noch davonzukommen. Der Kampflärm veränderte sich, zeugte jetzt von nackter Angst ums eigene Leben und Flucht. Endlich stolperte der Landarbeiter wieder zurück in den Schrankraum, zu seinen Freunden. Die Tür zum Innenhof fiel zu.
Als das Klacken im Schloss zu hören war, entließ Rochefort den Leutnant aus dem Schwitzkasten und klopfte ihm auf die Schulter. »Ihr lasst nach.«
D'Artagnan schenkte ihm einen finsteren Blick und hob seine Pistole auf, die er während des Gerangels verloren hatte. »Wollt Ihr Euch doch noch ein Veilchen einfangen? Der nächste Hieb ist kein Schauspiel, um einen Dummkopf zu erschrecken.«
»Ich verzichte, Ihr habt schon genug Federn für uns beide gelassen.« stellte Rochefort trocken fest, während d'Artagnan mit saurer Miene die Blutspur auf seinem Hemdsärmel betrachtete, nachdem er sich übers Gesicht gewischt hatte. Der Musketier sagte nichts mehr dazu, rückte seinen Hut zurecht und erfasste zum ersten Mal richtig den Innenhof. Eine Sackgasse, eingerahmt von efeuumrankten Häuserfronten. Sein Blick blieb schließlich an einem offenen Fenster in einem höher gelegenen Stockwerk des Nachbarhauses hängen. Er seufzte.
»Exakt.« Rochefort wandte sich zu schnell ab, als dass d'Artagnan ihm tatsächlich ein wölfisches Grinsen hätte unterstellen können. Der Stallmeister ging voraus und kletterte an einem stabilen Rosenspalier zum Fenster hinauf. Nach einem prüfenden Blick zog er sich an den Fensterläden ins Haus hinein.
D'Artagnan wartete eine Weile auf entsetztes Kreischen oder zornige Rufe der Bewohner. Als das ausblieb, machte auch er sich an den Aufstieg.
Es gelang dem Leutnant einigermaßen zügig, trotz seines schmerzenden Knies, es Rochefort gleichzutun und in das Haus zu klettern. Gerade rechtzeitig, kaum hatte er den Fuß vom Fensterbrett genommen, musste er sich auch schon ducken, denn die Stadtwache stürmte mit lautem Getöse den Innenhof. Spätestens jetzt wollte niemand mehr etwas mit den Vorfällen um das Drei Kronen zu tun haben.
D'Artagnan lauschte auf den Lärm von draußen, auf die herrischen Zurufe und schlagenden Türen, während er mit einem raschen Blick den Raum um sich einschätzte. Es war ein Schlafzimmer. Nahe des Fensters befand sich ein Bett, die Laken zerwühlt, als wären sie am Morgen hektisch verlassen worden. Eine Kleiderkommode stand am Fußende, ein Schemel in einer Ecke, über den ein Hemd achtlos geworfen war. Es bedeckte halb ein Paar Reitstiefel, die daneben lehnten. Eine Junggesellenbehausung, so schien es. Kein Grund, noch länger hier zu verweilen.
D'Artagnan schlich aus dem Zimmer und traf Rochefort im langgestreckten Flur dahinter an. Das Haus war altes Fachwerk, stabil gebaut, doch wegen der kleinen Fenster recht dunkel. Die Decken waren niedrig, man konnte, ohne sich besonders zu recken, nach den Balken fassen. Die Wände fühlten sich kühl an und trafen in keinem einzigen geraden Winkel aufeinander. Es roch nach Holz und Putz, nach frischer Wäsche und Brot, nach gut bürgerlicher Stube. Rochefort schien sich umzusehen, ob sie wirklich unbemerkt geblieben waren und bedeutete dann, ihm zu folgen. D'Artagnan schloss auf und fragte leise: »Wir sind allein?«
»Nein.« Rochefort nickte zu einer Zimmertür, ein paar Schritte entfernt. Sie war nur angelehnt, ein Schatten bewegte sich unter der Ritze, schien zu lauern. Wer auch immer dort war, demjenigen konnte der Einbruch nicht entgangen sein, nicht der Lärm vom Wirtshaus, der Schuss oder jetzt die lauten Rufe der Stadtwache.
»Verschwinden wir.«
Der Aufforderung hätte es nicht bedurft, Rochefort war schon der halben Treppe ins untere Stockwerk gefolgt, spähte über das Geländer und setzte seinen Weg eilig fort. D'Artagnan humpelte nicht ganz so geschickt hinterher und sah am Treppenabsatz über die Schulter zurück.
Die junge Frau an der Tür erwiderte seinen Blick ohne Scheu und eher skeptisch als überrascht. Sie schien die Tochter des Hauses zu sein, kaum zwanzig Jahre alt. Sie trug ein schlichtes Kleid, das mehr der Nützlichkeit im Alltag als der Betonung ihrer Schönheit diente. Ihr kupferfarbenes Haar war zu einem lockeren Zopf geflochten und rahmte ein schmales Gesicht. Sie musterte den Eindringling abschätzend, ihre grünen Augen im faszinierenden Kontrast zu ihrem Rotschopf. War sie aus Neugier aus dem Zimmer getreten, statt sich versteckt zu halten? Sie wirkte misstrauisch und entschlossen, keine Spur verängstigt - und sie hatte eine Pistole auf d'Artagnan gerichtet.
Er wagte nicht, sich zu rühren. Stattdessen versuchte er sich in seinem charmantesten, entschuldigendem Lächeln und erntete dafür ein missbilligendes Stirnrunzeln. Die Waffe lag ruhig in der Hand der Mademoiselle, sie schien damit umgehen zu können. Noch überdachte sie wohl ihre nächsten Schritte und sagte kein Wort. Sie verlangte keine Erklärung von ihm, sondern schien eigene Schlüsse aus dem zu ziehen, was sie sah und von draußen hörte.
Für einen flüchtigen Moment fragte sich d'Artagnan, wie ihre Stimme wohl klingen mochte. Jetzt funkelte sie ihn empört an, als er frech einen Finger an die Lippen legte, ihr zuzwinkerte und dann wie selbstverständlich die Treppe hinunterstieg.
Die Stimme der Mademoiselle blieb ein Geheimnis, denn sie forderte ihn nicht zum Stehenbleiben auf oder alarmierte die übrigen Bewohner, sie rief nicht die Stadtwache im Innenhof zur Hilfe. Sie jagte ihm auch keine Kugel hinterher.
D'Artagnan fragte sich, wie er unbehelligt die Haustür erreichen konnte. Teufel, er fragte sich, wann er überhaupt die letzten Schritte zur Haustür zurückgelegt hatte und ob diese flüchtige Begegnung nicht nur ein Tagtraum gewesen war! Zerschunden, blutig und verdreckt, hätte er sich selbst nicht bloß mit einem entwaffnenden Lächeln davonkommen lassen.
Rochefort wartete an der Tür und d'Artagnan blinzelte aus seinen letzten Überlegungen gerissen, als er ihn ungeduldig am Arm fasste und damit seine Aufmerksamkeit wieder auf die Flucht lenkte. Ihm schien die junge Frau nicht aufgefallen zu sein und d'Artagnan vergaß über das dringlichere Problem, nicht doch noch verhaftet zu werden, sie zu erwähnen.
Die Tür war zum Glück kein weiteres Hindernis, problemlos ließ sie sich öffnen und nach einem letzten, umsichtigen Zögern traten die Männer auf die Straße.
Alles in allem hatten sie sich weniger als fünf Minuten im Haus aufgehalten - aber d'Artagnan ahnte, dass es sich um fünf der wichtigsten Minuten seines Lebens gehandelt hatte.