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ОглавлениеHeimat und Kindheit
»Der ist in tiefster Seele treu, der die Heimat liebt wie du.«
Theodor Fontane
Paul Schneider nannte sich einen »einfachen, bäuerlichen Pfarrerssohn«, er war seinem Wesen nach dem Bauerntum verbunden. Seine Kindheit im Pfarrdorf seines Vaters, in Pferdsfeld, Kreis Kreuznach, hat die Liebe zur Natur, zu Tieren und bäuerlichen Menschen tief in seine empfindsame Seele eingedrückt. Hier war sein »Kindheitsparadies«. In einem Gemeindebrief »aus dem Urlaub« schreibt er 1931: »Wie wohl wir daran tun, die Heimaterinnerungen, die Heimatkunde und die Heimatliebe zu pflegen, merke ich in diesen Tagen sonderlich, da ich in dem Lande weile, wo meine Wiege gestanden hat und das mir die Eindrücke der Kindheit vermittelt hat. Das Dörflein, hoch im Wiesengrund des beginnenden Hoxtbachtales gebettet, der machtvoll aufgebaute Soonwald im nahen Blickfeld, die alten, niedrigen Häuschen, die Winkel und Ecken des Dorfes, die Leute, zum Teil noch die alten Gestalten der Kindheit, der plätschernde Röhrenbrunnen jetzt wie einst: wie nimmt das alles die Seele in einer guten und starken Liebe gefangen, wie ruht da Leib und Seele so gern aus im Schoße der Heimat.« 1925 schreibt er in sein Tagebuch: »Heimatluft ist halt Heimatluft, und diese Naturgebundenheit können wir wohl überwinden, aber nie verlieren.«
Pauls Vater, der Pfarrer Gustav Adolf Schneider, geboren am 13. Januar 1858, stammte aus Kaufmannsfamilien, die zur Elberfelder Kirchengemeinde gehörten. Früh verlor Gustav Adolf seine Mutter; deshalb wuchs er im großelterlichen Haus auf, wo seine Tante, die Lehrerin an der Höheren Mädchenschule war, ihm Erzieherin und geistliche Führerin wurde. Durch sie kam er unter den Einfluss Kohlbrügges, doch wurde er von Pastor D. Krummacher1 in der reformierten Gemeinde konfirmiert. – Während des Theologiestudiums hatte er den größten Gewinn von Prof. Tobias Beck in Tübingen. Aber trotz guter wissenschaftlicher und theologischer Bildung war er durch seine Schwerfälligkeit oft in seinem Amt gehemmt. Der Tod seiner Frau im Jahre 1914 machte ihn vollends zum in sich gekehrten Einsamen. Die Erschütterung über den nationalen Zusammenbruch im Jahre 1918 verwand er nie. Nur selten konnten wir einen Blick in seinen inneren Reichtum und seine verhaltene Güte tun. Ich staunte als junges Mädchen über seine praktische Textauslegung. Predigte er aber nicht mehr Gesetz als Evangelium? Das mag auf sich beruhen. Ich hörte Paul stets mit Ehrerbietung und verständnisvoller Nachsicht über seinen Vater reden. Es war ihm wichtig, ein gehorsamer Sohn zu sein; umso mehr hat ihm ein Ereignis im Pferdsfelder Pfarrgarten innerlich zu schaffen gemacht.2 In einer Zeit tiefster Angefochtenheit – in Glaubens- und Berufsnot – kam er im Jahre 1925 in seinem Tagebuch darauf zurück, sodass wir in sein empfindsames Gemüt hineinsehen können.
Da Paul Schneider selbst – das wird in einem seiner beiden Tagebücher deutlich – sich während seiner Studienzeit darum bemüht hat, etwas über seine familiäre Herkunft herauszufinden, bringe ich, Paul Dieterich, hier, ergänzend zu dem im obigen Text Berichteten, einige zusätzliche Informationen. Ich erfuhr sie von Margarete Schneider, genannt Gretel, 3 im Oktober 1979 in von mir damals protokollierten Gesprächen. Die Schneiders stammen aus dem Westerwald. Ein Vorfahre war in der Ortschaft Hachenburg bei Altenkirchen Landwirt und Pferdehändler. Sein Sohn, Johann Peter Schneider, geb. 1754 – der Ururgroßvater von Paul Schneider – war zuerst Hauslehrer bei den Düsseldorfer Freiherren von Bodelschwingh, dann Lehrer in Ratingen bei Düsseldorf. Er heiratete Anna Gertraud, die Tochter der Gutsbesitzer Reinhard und Anna Maria vom Bovert. Das Anwesen derer vom Bovert brannte in einer Nacht im April 1783 ab, die Eltern der Anna Gertraud Schneider erlitten dabei so schwere Verletzungen, dass sie kurz darauf starben. Johann Peter Schneider wurde 1796 Lehrer, Organist und Küster an der Marienkirche in Duisburg. Seine große Liebe zur Musik hat ihm über manche schlaflose Nachtstunde hinweggeholfen. Fünf Kinder hatten Johann Peter und Anna Gertraud Schneider. Das zweite von ihnen, Friedrich Carl Gottlob Schneider, P. S.s Urgroßvater, hat die Befreiungskriege gegen Napoleon 1813/14 als freiwilliger Jäger mitgemacht; er war später Regierungskanzlist in Duisburg. Der erste Sohn aus seiner Ehe mit Catharina Simon aus Duisburg, Johann Ludwig Friedrich Wilhelm Schneider, geb. 1818 – P. S.s Großvater – verlebte eine glückliche Jugend in Duisburg, Cleve und Düsseldorf und widmete sich nach einjährigem Militärdienst dem Kaufmannsberuf. Er war dann Buchhalter in einem Barmer Bankgeschäft. Seine erste Frau starb, sechs Jahre nach der Hochzeit, im Dezember 1855 in Elberfeld an der Schwindsucht. Seiner zweiten Ehe, die er mit Hulda Greiff, der Tochter eines Bankhauskassierers in Elberfeld, einging, war eine noch kürzere Dauer beschieden. Hulda starb nach einem Jahr Ehe, kurz nach der Geburt ihres Sohnes Gustav Adolf.
Gustav Adolf Schneider, geb. am 13. Januar 1858 in Elberfeld, der Vater Paul Schneiders, wurde, da sein Vater bald nach dem Tode seiner zweiten Frau noch einmal geheiratet hatte, bei den Großeltern Greiff und seiner Tante, Maria Greiff, erzogen. Sie war Lehrerin an der Höheren Töchterschule in Elberfeld. Die Großeltern Greiff samt ihrer Tochter Maria lebten gottesfürchtig und reformiert. Besonders gern gingen sie mit Gustav Adolf zu den Predigten des bedeutenden reformierten Theologen Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803–1875), der in Elberfeld und weit darüber hinaus eine rastlose Predigttätigkeit entfaltete.4
Der oben genannte D. Krummacher, Gustav Adolfs Konfirmator in Elberfeld, dürfte der reformierte Superintendent Karl Krummacher (1831–1899) gewesen sein, der Enkel des legendären Friedrich Adolf Krummacher, von dem das bekannte Lied »Stern, auf den ich schaue« stammt. Karl Krummacher war besonders im Aufbau von Jünglingsvereinen führend.
Wir können davon ausgehen, dass Gustav Adolf Schneider in seiner Kindheit und Jugend von einem lebhaften reformierten Christentum geprägt wurde und dass die Einflüsse Kohlbrügges und Krummachers dazu beitrugen, dass er evangelische Theologie studiert hat.
Leipzig, Bonn und Tübingen waren seine Studienorte. Dass er von Johann Tobias Beck in Tübingen die nachhaltigsten Eindrücke empfangen hat, das verband ihn später mit dem Schwiegervater seines Sohnes Paul, Karl Dieterich. Johann Tobias Beck (1804–1878) lehrte seit 1843 Systematische Theologie in Tübingen. Stark hat J. T. Beck das Sittliche am Christentum betont. Nach Becks Auffassung wird der Mensch durch Gottes Gnade nicht nur »gerechtfertigt« sondern er wird durch den Geist Gottes wirksam verwandelt. Es ist denkbar, dass G. A. Schneiders Betonung des Sittlichen in seinem Pfarrdienst eine Wirkung J. T. Becks ist. Und man kann auch vermuten, dass sein Sohn Paul in seiner Jugend dadurch mitgeprägt wurde.
Zwischen G. A. Schneider und den Pietisten im Ort habe eine latente Spannung bestanden, so Gretel Schneider. Dass seine Verlobung mit der Tochter eines Liebenzeller Gemeinschaftspredigers kurz vor der Hochzeit geplatzt sei, habe dazu beigetragen. »Die Pietisten sind zwar meine besten Kirchgänger«, habe er gelegentlich gesagt, »aber die Organisation!« Von ihr hat er offenbar nichts Gutes erwartet. Er habe wohl gefürchtet, die Pietisten kämen mehr aus Achtung vor der kirchlichen Sitte zu ihm in den Gottesdienst. Ihre »Seelenspeise« jedoch würden sie sich bei ihrem pietistischen Prediger holen. Die Predigten ihres Schwiegervaters seien aber ebenso biblisch wie inhaltsreich gewesen, sagte Gretel Schneider. Nur eben nicht sonderlich ansprechend.
Von Gustav Adolf Schneider wurde gelegentlich ein Bild gezeichnet, das M. S. so nicht richtig fand. Aus der Szene im Pfarrgarten von Pferdsfeld, in der Paul sich dem nachfragenden Vater durch eine Lüge entzog, wird bisweilen gefolgert, Gustav Adolf Schneider sei seinen Söhnen gegenüber besonders streng gewesen. Durch Berichte über seine Art, Kirchenzucht zu üben, wird diese Auffassung für viele bestätigt. Manche Story wurde über ihn erzählt: Wie er auf einem vom Pony oder Esel gezogenen Wagen seine körperbehinderte Frau durch die Landschaft führte. Dass er, der Lebensreformer, allmorgendlich in einer Zinkbadewanne mit kaltem Wasser gebadet habe. Solche Geschichten sind dazu angetan, in ihm einen Sonderling zu sehen. Das Klischee, seine Söhne hätten unter ihm zu leiden gehabt, hat M. S., wenn sie die Berichte ihres Mannes wiedergegeben hat, zu zerstreuen versucht. Der ruhebedürftige Mann sei weder skurril noch furchterregend gewesen. Paul habe unter seinem »père« – so nannten ihn die Söhne – nicht sonderlich gelitten. Dieser habe seinen Söhnen durchaus Freiheit gelassen. Mit Vergnügen habe Paul von seinem Kindheitsparadies erzählt. Auch hätten die Gemeinden ihren Pfarrer durchaus geschätzt.
Dass Pauls Mutter ihren Kindern zu einer glücklichen Kindheit verhalf, ist nicht ganz selbstverständlich: Paul kannte sie nur als Leidende. Elisabeth, geb. Schnorr, wurde in Düsseldorf am 8. August 1863 geboren. Sie hatte keinen leichten Weg hinter sich, ehe sie im Jahre 1888 Pfarrfrau in Pferdsfeld wurde. Ihre Eltern waren in der Gründerzeit5 aus einem hessischen Dorf ausgewandert. Sie besaßen in Düsseldorf ein Hotel, sind aber beide früh gestorben. So kamen ihre beiden kleinen Töchter ins Waisenhaus nach Mülheim/Ruhr. Elisabeth, die ältere von beiden, war dann bis zu ihrer Heirat Erzieherin. Nach der Totgeburt ihrer ersten beiden Kinder begann ihr unheilbares Gichtleiden6. Die Tapfere schenkte dann noch drei Söhnen das Leben: Adolf im Jahre 1891, Paul am 29. August 1897 und Hans im Jahre 1901. Paul schrieb einmal über seine Mutter: »Sie blieb die fröhliche Seele unseres Hauses, solange sie immer unter uns sitzen konnte.« Offenbar war sie darauf bedacht, ihre Jungen selbstständig und unbeschwert aufwachsen zu lassen: Da durfte man Raben zähmen, Eichhörnchen fangen, Frösche halten, kurz – an allem erreichbaren Getier sich erfreuen. Mutters Weihnachtsabend war für Paul zeitlebens der Inbegriff alles Schönen.
Bald wurde die Tatkräftige ganz an den Stuhl gefesselt. Um ihr noch den Genuss der Waldlandschaft zu verschaffen, kaufte Vater Schneider ein Eselsgefährt. Der kräftige Paul hebt die Mutter in die Kutsche, der Vater setzt sich auf den Bock, die Buben traben nebenher – das ist sicher ein köstlicher Anblick für die Dorfbewohner gewesen! – Pauls Sangesfreudigkeit und seine gute Stimme ist ein Erbteil seiner Mutter. Unvergessen in ihren Gemeinden ist die gelähmte Pfarrfrau, am Fenster sitzend, mit dem freundlichen Gruß und dem frohen, getrosten Gesang.
Im Sommer 1914 erlag Pauls Mutter ihrem Leiden. Auf dem Grabstein ist zu lesen: »Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet«7.
Der 1918 aus dem Krieg heimgekehrte Paul empfindet ihren Verlust noch schwer: »Seit 1914 wieder die erste Weihnacht, die zweite ohne Mutter zu Hause. Es ist einfacher geworden, stiller, nicht schöner, das warme Gefühl, das sonst die Mutter, die Frau mit dem liebenden Herzen, hereingebracht hat, fehlt.«
Von seiner Frau Elisabeth, geb. Schnorr, Pauls Mutter, konnte G. A. Schneider gelegentlich sagen, sie sei »flott« gewesen. Er meinte damit wohl: Sie war aufgeschlossen und vorwiegend fröhlich. Vielleicht meinte er mit dieser Bezeichnung auch ihren für die damalige Zeit ungewöhnlich kurzen Haarschnitt. Diesen hatte sich Elisabeth zugelegt, da sie wegen ihrer Gicht sich nicht selbst kämmen konnte und diese Mühe nicht anderen Leuten zumuten wollte. Die trotz ihrer zunehmenden Körperbehinderung fromm-fröhliche Frau, die gern die geistlichen Volkslieder aus dem 19. Jahrhundert sang, die sie im Waisenhaus gelernt hatte, muss auf die Gemeinde eine bleibende wohltuende Ausstrahlung gehabt haben. Noch in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts traf ich (P. D.) in Hochelheim alte Leute, die mir sagten, sie hätten als Kinder ihre Wege gern so eingerichtet, dass sie an dem Wohnstubenfenster des Pfarrhauses vorbeikamen. Es sei so schön gewesen, mit der Frau Pfarrer zu reden. Sie hätte ihnen gutgetan.
Aber da war ja noch das gute Sophiechen, dem Paul so sehr zugetan war! Sophie Helmes aus Pferdsfeld war seit den ersten Ehejahren der Eltern die vorbildlich treue Pfarrmagd. Nach Kräften versorgte sie ihre Pfarrfamilie auch später im frauenlosen Haushalt. In der Kriegs- und der Nachkriegszeit bewirtschaftete sie umsichtig Garten und Pfarrland, Hühner-, Schweine- und Kuhstall mit eingeschlossen! Oft und gern half Paul ihr dabei. – Noch als Rentnerin hatte Sophie ihren Platz am Tisch unserer jungen Familie. Dieser Bindung und Verpflichtung setzte die Zerstörung unseres Elberfelder Hauses im Zweiten Weltkrieg 1943 ein Ende. Von da ab wohnte sie wieder in ihrem Heimatdorf; dort starb sie 92-jährig.