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Schule, Krieg und Studium

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»Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung!

Nur lass mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln!

Lass mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte

mir scheinen sollten, zurückzugehen!«

Gotthold Ephraim Lessing:

Die Erziehung des Menschengeschlechtes, 1780

Zitat aus Paul Schneiders Tagebuch

Von seinem Vater wurde Paul auf den Besuch des humanistischen Gymnasiums in Bad Kreuznach vorbereitet. In einer Pension mit anderen Jungen untergebracht, lebte man zum Samstag hin, der einen wieder in die dörfliche Freiheit und Geborgenheit des Elternhauses zurückbrachte. Um der Mutter in einem milderen Klima Linderung zu verschaffen, ließ Vater Schneider sich im Jahre 1910 nach Hochelheim, Kreis Wetzlar, versetzen. Nun war das humanistische Gymnasium8 in Gießen Pauls Bildungsstätte. Der Schulweg dorthin, teils mit dem Rad, teils mit der Bahn, entbehrte nicht der Spannungen und Abenteuer. Des Dorfes Norm war: »Wenn Pärners (Pfarrers) Paul fortfährt, reicht’s sonst niemand mehr.« Wie sehr der ihm vom Vater zur Konfirmation gegebene Denkspruch ein Leitwort fürs Leben war, erkannten wir erschüttert nach Pauls Sterben: »Christus spricht: Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme« (Johannes 18,37).

Ja, in der Tat, der König der Wahrheit allein hat den Träumer und nach Selbsterlösung Suchenden, den um das soziale Problem Ringenden, nach der rechten Stellung zur Körperkultur und Lebensreform Fragenden in das Licht des Wortes Gottes und in die Freiheit der Kinder Gottes geführt. Es war ein langer, oft banger Weg für ihn und die, die ihn liebten, aber er führte dahin, dass ein Amtsbruder 1937 von ihm sagte: »Paul Schneider hat ein selten feines und waches Gewissen. Sein unbestechlicher Wahrhaftigkeitssinn ließ auch nicht die kleinste Krummheit und Schiefheit des Weges zu«, er führte dahin, dass er mitten in der Bedrängnis des Kirchenkampfes fröhlich ausrufen konnte: »Es ist eine Lust zu leben!«, dass er strahlend vom Predigtdienst heimkehrte: »Diese Predigt durfte ich noch einmal halten«, und dass er gewürdigt wurde, der »Prediger von Buchenwald« zu werden.

Um sich als Kriegsfreiwilliger melden zu können, machte Paul schon 1915 als Unterprimaner9 sein Notabitur10.

Von diesem Notabitur des »Großherzoglichen Gymnasiums zu Gießen« haben wir aus dem Schularchiv – dank der Recherche der Abiturientin Jana Braun – sein Abiturzeugnis vom 29. Juni 1915. P. S. wird bestätigt, dass er die Anstalt seit Ostern 1910 von der Klasse Untertertia an besucht und ein halbes Jahr in der Oberprima verbracht habe. Er beabsichtige, sich dem Studium der »Heilkunde« zu widmen. Folgende Noten wurden ihm erteilt: Betragen: gut; Aufmerksamkeit: im Ganzen gut; Deutsch und Englisch: gut; Griechisch, Geschichte, Geografie, Mathematik und Naturkunde: im Ganzen gut; Latein: Genügend. Ebenso auch im Fach Religion: Genügend(!). Am 2. Mai 1919, also nach dem Krieg, wurde auf dem Abiturzeugnis noch nachgetragen, dass er die Ergänzungsprüfung im Hebräischen mit der Note »gut« abgelegt habe. Offenbar hat es allen Beteiligten mit dem Notabitur pressiert. Schriftliche Klausuren fanden nicht statt. Bei P. S. verzichtete die Prüfungskommission sogar auf eine mündliche Prüfung. Aus P. S.s Noten kann man folgern: Er war ein ordentlicher Schüler, oberer Durchschnitt.

Paul wurde Dragoner11 in Hofgeismar. Als Berufsziel gab er damals Medizin an. Sich fürs Vaterland tapfer einzusetzen war ihm gemäß. An der Ostfront verwundet (Bauchsteckschuß), mit dem Eisernen Kreuz12 ausgezeichnet, kam er 1916 zur Fußartillerie13, und von da ab bis 1918 machte er die Kämpfe vor Verdun, in der Champagne und in Flandern mit. Als Leutnant14 ritt er ein Pferd, seine Liesel, mit dem er sich besonders verbunden fühlte. Aus den Gefahren der Etappe wurde er wie träumend herausgeführt: »Eine blonde Frau und gesunde Kinder standen vor mir, die wollte ich doch gesund erhalten.«

Auf dem Rückmarsch hatte er eine Begegnung mit einem niederrheinischen Mädchen, dessen reines und schlichtes Wesen es ihm angetan hatte. Dieses Erlebnis ließ ihn so schnell nicht los. Es ist kennzeichnend für ihn, wie es ihn umtrieb und belastete, ob er dem Mädchen nicht doch Hoffnungen gemacht hätte, und er nicht ruhte, bis er ihr Verständnis fand und das gute, klare Verhältnis von einst sich auf unsere jeweiligen Familien übertrug. Diese Arbeiterfrau trauerte mit mir um den »allzeit hochverehrten und geliebten Paul«.

Man wüsste gern mehr darüber, wie Paul Schneider den Weltkrieg erlebt, was er dabei durchgemacht, empfunden und gedacht hat. Aber es existieren darüber keine schriftlichen Aufzeichnungen. In dem ersten der beiden Tagebücher, die uns erhalten sind, finden wir nur eine kommentarlose Auflistung der Kriegseinsätze, die er, zuerst an der Ostfront, dann vor allem in Frankreich und Flandern, bis zuletzt mitgemacht hat. In der Eintragung vom 19. Dezember 1918 deutet er lediglich an, wie er die Demobilisierung15 erlebt hat. »Wie gegrüßt wurde …, was alles gesprochen wurde, man mag’s nicht aufschreiben.« Er reibt sich daran, wie einige Soldaten mitten in der Niederlage sich »mit ihren Maitressen« ein luxuriöses Leben machten. »Froh war ich, als ich den Entlassungsschein in der Tasche hatte.« Zu Weihnachten 1918 kehrte P. S. nach Hochelheim zum vereinsamten und vom Kriegsausgang tief bekümmerten Vater zurück.

Hier eine kurze Erinnerung an historische Vorgänge im Zusammenhang mit dem Ende des Ersten Weltkriegs:

Die Entscheidung in Richtung Niederlage fiel für Deutschland und Österreich, als am 6. April 1917 die USA Deutschland und kurz darauf Österreich den Krieg erklärten. Zugleich wurde immer deutlicher, dass eine deutsche Niederlage die Regierung der Hohenzollern in Deutschland stürzen und revolutionären Einflüssen aus Russland Tür und Tor öffnen würde. General Erich Ludendorff setzte in dieser Situation auf eine letzte Großoffensive im Frühjahr 1918. Von ihr erhoffte er den Sieg der deutschen Waffen und die Rettung Deutschlands aus höchster Gefahr. Zugleich setzten die alliierte Kriegspropaganda, Missernten und Hunger (Steckrübenwinter 1917!), Mangel an Kleidung, auch an Verbandszeug im Heer, Seuchen, Typhus, Ruhr, Tuberkulose dem deutschen Volk bedrohlich zu.

Die große Offensive gegen die alliierten Gegner Deutschlands, die am 21. März 1918 losbrach, scheiterte an starken französischen und englischen Gegenangriffen, die von amerikanischen Truppen unterstützt wurden. Dazu kam die erschreckende Wirkung englischer Panzer, der sogenannten Tanks, auf deren Abwehr das deutsche Heer nicht vorbereitet war. Die deutschen Truppen wurden weit zurückgeworfen. Die Heeresleitung musste alle weiteren Offensivpläne aufgeben. Ein Kompromissfriede war nun nicht mehr denkbar. Österreich, das als Deutschlands Verbündeter den Weltkrieg mit durchgestanden hatte, kündigte, unter dem Eindruck der unumgänglichen Niederlage, am 27. Oktober 1918 die Waffenbrüderschaft mit Deutschland, um einen sofortigen Waffenstillstand und Separatfrieden zu suchen.

Erst jetzt, aber nun ganz plötzlich und fast panisch, drängten General Ludendorff und Paul von Hindenburg auf einen schnellen Waffenstillstand, der freilich, in dieser Eile geschlossen, einer Kapitulation gleichkam. »Unter diesen Umständen ist es geboten, den Kampf abzubrechen, um dem deutschen Volk und seinen Verbündeten nutzlose Opfer zu ersparen. Jeder versäumte Tag kostet Tausenden von braven Soldaten das Leben«, schrieben sie mit Hindenburgs Unterschrift an die deutsche Regierung. Diese konnte nun nur noch um Waffenstillstand bitten. »Wir sind dem Diktat des Gegners preisgegeben«, sagte Hindenburg in einem letzten Kriegsrat am 9. November 1918. Deutschland müsse den Waffenstillstand annehmen, wie immer er ausfalle.

Die deutsche Waffenstillstandsdelegation unter der Leitung des Zentrumsabgeordneten Matthias Erzberger, der am 8. November 1918 im Wald von Compiègne von dem französischen Marschall Foch die Bedingungen des Waffenstillstands16 aufdiktiert wurden, fügte sich, starr vor Entsetzen, in das Unvermeidliche. Zugleich fand in Deutschland im November eine weitgehende Revolution statt. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, USPD (radikal-linke SPD), rief am 9. November in Berlin den Generalstreik aus. Der letzte kaiserliche Reichskanzler, Prinz Max von Baden, verkündete – ohne dass der Kaiser sie bestätigt hätte – die Abdankung der Hohenzollern und übergab sein Amt an den Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, SPD, Friedrich Ebert. Philipp Scheidemann, der sozialdemokratische Staatssekretär, rief die Republik aus. Kaiser Wilhelm II verzichtete daraufhin auf seinen Thron, entband Offiziere und Beamte von ihrem Eid und ging in die Emigration nach Holland. Derweilen drohte mit Kriegsende und akuter Hungersnot immer aggressiver der Einfluss des Bolschewismus aus dem Osten. In dieser Situation blieb der deutschen Delegation keine andere Wahl: In der Nacht vom 10. auf den 11. November unterzeichnete sie den Waffenstillstandsvertrag.

Die Verluste an Menschen waren auf beiden Seiten der kriegführenden Parteien unvorstellbar hoch. Etwa drei Millionen Soldaten waren auf deutscher und österreichischer Seite gefallen, dazu kamen von der verbündeten Türkei etwa vierhunderttausend Tote. Russland beklagte mindestens zwei Millionen Kriegstote, Frankreich fast anderthalb Millionen, England eine Million, die USA hunderttausend Tote. Auch waren durch Luftangriffe im Lauf der Kriegsjahre immer mehr Zivilpersonen betroffen. Der Krieg war zuletzt »total« geworden.

Wie hat Paul Schneider diese Niederlage emotional erlebt? Wir müssen davon ausgehen, dass es ihm ging wie fast allen Personen, die aus evangelischen Pfarrhäusern kamen. Sie hatten den Krieg als von Franzosen, Engländern, Russen aufgezwungen verstanden, hatten sich »für König, Volk und Vaterland!« freiwillig zu den Waffen gemeldet – oft mit der Motivation »Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde« (Johannes 15,13). Sie hatten die Worte »Gott mit uns« auf dem Koppelschloss des deutschen Soldaten ernst genommen. Nun, in der Niederlage, nach so vielen Verlusten und unter derart schmählichen Bedingungen, bedrückten sie Zorn und Trauer. Sie hatten größte Mühe, die Niederlage in ihrem Glauben an den gerechten Gott unterzubringen und zu verarbeiten.

Dazu kam das Ende der Monarchie in allen Teilen Deutschlands samt dem Abschied vom Kaiserreich. Die Monarchien waren – bei allen gelegentlichen Konflikten zwischen Hofprediger und Monarch – nach dem Modell des »landesherrlichen Kirchenregiments« durch Jahrhunderte wesentliche Stützen und Schutzmächte der Kirchen gewesen. In mehreren Teilen Deutschlands versuchten jetzt – freilich mit kurzfristigem Erfolg – Kommunisten, die Regierungsgewalt an sich zu reißen. Sozialdemokratie und Zentrum gingen weithin aus den harten und zum Teil blutigen Konflikten als politische Sieger hervor. Beide Kräfte standen den im evangelischen Pfarrhaus Aufgewachsenen fern. Dazu kamen der Versailler Friedensvertrag, der am 28. Juni 1919 unterzeichnet werden musste, die maßlosen Reparationsforderungen der Siegermächte, die Deutschland fast bis zum Ende des Jahrhunderts in eine Art Schuldknechtschaft versetzen sollten und durch die an einen Neuaufbau deutscher Wirtschaft nicht zu denken war; die Abtretung von Elsaß-Lothringen, des oberschlesischen Industriegebiets, der Provinzen Posen und Westpreußen, des Memellandes, des Saargebiets und der deutschen Kolonien sowie die Beschränkung des deutschen Heeres auf hunderttausend Mann. All das hat den national eingestellten Deutschen tief deprimiert.

Noch heftiger waren der Schmerz und die Empörung über den Artikel 231 des Versailler Vertrages, die These von der alleinigen Schuld Deutschlands am Weltkrieg, mit der begründet wurde, dass allein Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle entstandenen Verluste und Schäden verantwortlich seien. Vor allem dieser »Kriegsschuldparagraf« demütigte die Deutschen und gab bald alten und neuen nationalistischen Bewegungen Auftrieb. Auch in kirchlichen Kreisen wurde »die Kriegsschuldlüge« als Schmach empfunden. Sie vor allem bewirkte es, dass Nationalisten in völliger Verdrehung der Tatsachen die »Dolchstoßlegende« aufbrachten. Dieser zufolge ist die »Heimat«, besonders kommunistische und sozialdemokratische Politiker, der heldenhaft kämpfenden deutschen Armee mit einer Art »Dolchstoß« in den Rücken gefallen. Dadurch hätten sie ihren endgültigen Sieg verhindert. Hauptsächlich die Dolchstoßlegende trug dazu bei, dass Politiker, die im November 1918 den Waffenstillstand geschlossen hatten, bald als »Novemberverbrecher« bezeichnet wurden.

Nach dem Kriegsende war es aus mit Pauls Neigung zur Medizin, mit »reinem Willen zum Pfarrerberuf« wollte er beitragen zur Gesundung des Volkes. Aber wie stand er zur Theologie? »In der Schule hatte mir ein liberaler Religionsunterricht das Mysteriöse, priesterlich Geheimnisvolle, mich immer wie Aberglauben Anmutende an der Religion bzw. dem Inhalt der neutestamentlichen Geschichten genommen, sodass mir das theologische Studium je und dann in freundlichen Farben erschien« (Tagebuch). So fing denn Paul in Gießen bewusst mit dem Studium der liberalen Theologie17 an. Ein Freund18 berichtet darüber: »Wir hatten vom Gymnasium her eine innige Freundschaft, die in den Gießener Semestern fast zu zerbrechen drohte infolge des radikalen Liberalismus, dem Paul sich völlig verschrieben hatte. Es verging kein Tag ohne heftige theologische Auseinandersetzung auf dem Weg zur und besonders von der Universität zum Bahnhof und im Zug. Paul konnte darüber das Aussteigen vergessen, und oft musste ich ihn dazu ermahnen. Er führte das Gespräch dann vom Trittbrett weiter und sprang vom fahrenden Zug ab. Pauls Eifer für die ›Wahrheit‹ ging bis zum Äußersten, er hätte ihm sogar die Freundschaft geopfert, wenn er es für nötig gehalten hätte. Ich glaube aber heute, dass unsere Kämpfe die Vorbereitungen seines späteren Wandels waren, der dann ebenso klar und stark zutage trat.«

In Gießen lernte der Student Schneider vor allem von den Professoren Hermann Gunkel und Wilhelm Bousset, die beide anerkannte Religionswissenschaftler und Häupter liberaler Theologie waren. Hermann Gunkel19 erforschte vor allem Formen und Gattungen der alttestamentlichen Texte. Professor Wilhelm Bousset20 war ein bedeutender Kenner der Religionsgeschichte, vor allem des Urchristentums und der frühen Kirche.

Vater Schneider war Wingolfit21; Paul trat in Gießen und Marburg in diese Studentenverbindung ein. »Ist die Verbindung die Opfer an Zeit und Geld wert? Entspricht dem auch der Gewinn? Diese Frage und Hang zur Einsamkeit, Scheu vor der Gesellschaft lassen mich beinahe zurückschrecken. Aber ein innerstes Pflichtgefühl, das mich heißt, die angeborene Neigung zum Träumen und zur Bequemlichkeit zu überwinden, hält mich doch der Farbe schwarz-weiß-gold treu. – Wenn du unentschlossen bist zwischen zwei Dingen, so wähle das dir weniger Bequeme« (Tagebuch). – In Gießen wurde er in den ersten Semestern dann auch tüchtig in das Verbindungsleben mit hineingezogen. Daneben trieb ihn der Niederbruch Deutschlands 1919 dazu, sich immer wieder mit Kommunismus und Sozialismus22 zu beschäftigen. »Der Bolschewismus23, ein Widerspruch in sich selbst, da ein Zustand, der nur durch die Liebe des Einzelnen zur Allgemeinheit und seinen guten Willen bedingt sein kann, mit Gewalt eingeführt werden soll. Und dieses gewaltsame Einführenwollen kann letztlich nicht dafür zeugen, dass die Vertreter dieser gewaltsamen Einführung, der Putsche und Streiks, diese Vorbedingung des sozialen Staats erfüllen. Das Proletariat 24 soll herrschen, bis alles sozialisiert ist. Aber allein durch die äußere Sozialisierung tritt doch nicht ein Umschwung der Gesinnung ein, und so müsste die Sozialisierung zu einer dauernden Diktatur des Proletariats 25 werden, womit nichts erreicht wäre, weil bei diesem noch weniger als bei den Bürgern die Vorbedingung sozialer Zustände, sittlicher sozialer Gesinnung gegeben ist. Versittlicht das Volk, macht die Menschen besser, dann nähern wir uns ganz von selbst dem sozialen Staate!« (Tagebuch). – Im Wintersemester 1920 war Paul in Marburg. Hier herrschte im Wingolf ein strammer Korporationsgeist26; Pauls Reformpläne, die auf Beseitigung des Frühschoppens hinzielten und dem Turnen mehr Raum geben wollten, fanden keinen Anklang. Er belegt einen Turnlehrerkursus und legt 1921 das staatliche Turnlehrerxamen ab. Er übt Orgel und gibt Nachhilfestunden.

Der Frühling 1920 führt Paul nach Tübingen. Die Wohnungsnot ist groß, er bittet im Weilheimer Pfarrhaus um Aufnahme. Er erlebt nun zum ersten Mal einen großen Familienkreis und ist in die Familiengemeinschaft aufgenommen. Sein bescheidenes, ruhiges, dann wieder jungenhaft übermütiges Wesen erinnert an den gefallenen Theologensohn27.

In einer unveröffentlichten, reich bebilderten »Chronik der Familie Dieterich«28 beschreibt Marie Luise Dieterich, die ältere Schwester von Margarete, der späteren Frau Paul Schneiders, dessen Auftreten und Verhalten im Weilheimer Pfarrhaus: »Der letzte Student, der um Quartier bat, war Paul Schneider, ein Pfarrersohn aus Hochelheim, Rheinhessen. Er hatte sich mit einem Studienfreund auf den Weg nach Tübingen gemacht. Beide gewannen in den benachbarten Pfarrhäusern Kilchberg und Weilheim einen behaglichen Unterschlupf und verloren dabei ihr Herz. Einen froheren Menschen wie Paul Schneider gab es auf der ganzen Welt nicht, und das ganze Haus und seine Bewohner nahmen ihn so gern auf, als wäre er ihr Eigener. Selbstverständlich begleitete er unsere Jüngste morgens nach der Stadt, sie in die Arbeitsschule, er ins Kolleg; selbstverständlich saß er abends am Esstisch, wo ihm alles schmeckte, Aufgewärmtes vom Mittag oder frisch gekochte Pilze. Dafür half er beim Gießen im Garten, schüttelte die ersten Zwetschgen vom Baum. Er holte auch auf Bitte die Elsternnester von der hohen Tanne herunter und sang und sang, dass es durch’s weite Tal schallte. Sonntagmorgens setzte er sich gern ans Klavier, um einen Choral zu spielen, und war gern Zuhörer in der Kirche, um hintendrein mit Vater die Predigt zu diskutieren. Schade, dass das Sommersemester so kurz war, aber das zarte Band hielt und riss nicht ab.«

Zwei junge Menschen gehen täglich den Weg zur Stadt, er zur Uni, sie, gerade der Schule entwachsen, in die Frauenarbeitsschule, treffen sich über Mittag im Kahn auf dem Neckar – und sind versonnen und versponnen in ein unausgesprochenes Glück. Beim Abschied meint er sprechen zu müssen – es ist noch zu früh. Zwei Jahre gehen ins Land, bis sie sich ganz finden und von da an Hand in Hand durch vier Jahre Brautzeit wandern; der »eine Stab des andern und süße Last zugleich«! Immer mehr bietet eins dem andern Heimat, kann eins das andere seelsorgerlich tragen.

Das Weilheimer Pfarrhaus, aus dem Margarete, gen. Gretel, Schneider, geb. Dieterich, kommt: Ihr Vater, Karl Dieterich (1856–1927), stammt aus einer württembergischen Familie, in der seit seinem siebenten Vorfahren, dem Ulmer Münsterprediger und Professor Chunrad Dieterich (1575–1639), von dem heute noch ein in Stein gehauenes Denkmal im Ulmer Münster steht, viele Glieder Pfarrer waren, besonders unter den direkten Vorfahren des Karl Dieterich.

Das hat ihn keineswegs dazu bewogen, ein angepasster »gehorsamer Sohn« seiner württembergischen Landeskirche zu sein. Er, der bei J. T. Beck in Tübingen biblische Theologie studiert hatte, kümmerte sich während seiner Vikarszeit so hingebungsvoll um die zahlreichen Armen seiner Umgebung, dass das Württembergisch Königliche Konsistorium von seiner einseitigen Parteiname für die Unterlegenen durchaus nicht erbaut war. Nachdem er bei der Predigt über das Wort Johannes des Täufers »Wer zwei Röcke hat, der gebe dem, der keinen hat« (Lukas 3,11) demonstrativ seinen Talar ausgezogen und einer armen Frau gegeben hatte mit der Empfehlung, sie möge sich aus dem Stoff ein Kleid nähen, griff das Konsistorium ein, verbot ihm vorerst das Predigen und ließ vorsichtshalber die Kirche versiegeln. Was den feurigen Theologen dazu bewog, zwischen den Dörfern in Feldscheunen zu predigen.

Seine Mutter besuchte den konfliktbereiten Sohn, wollte ihn zum Einlenken bewegen. Ohne Erfolg. Als sie dann an diesem heißen Tag zu einem entfernten Bahnhof eilen musste, brach sie aus leiblich-seelischer Überanstrengung zusammen und starb in den Armen des Sohnes.

Karl Dieterich verließ daraufhin Württemberg und wurde Hauslehrer bei einem Adeligen in Ungarn. Nach längerer Zeit kehrte er nach Württemberg zurück, wurde von der Landeskirche wieder gütig in den Pfarrdienst aufgenommen und heiratete als Pfarrverweser von Gomadingen die Tochter des Nachbarpfarrers, Marie Rüdiger (1864–1943), Paul Schneiders spätere Schwiegermutter. Sie gebar ihrem Mann zehn Kinder, deren jüngstes Margarete, Gretel, 1904 zur Welt kam. Er war dann Pfarrer in Auenstein bei Heilbronn, später in Wildberg im Schwarzwald, schließlich in Weilheim bei Tübingen.

Von Karl Dieterich hat sein Sohn Karl Dieterich, geb. 1900, gelegentlich gesagt, er sei in seiner Jugend theologisch konservativ und politisch progressiv gewesen; im Alter jedoch eher theologisch liberal und politisch nationalkonservativ. Das zeigen auch seine zahlreichen Gelegenheitsgedichte, in denen er, besonders während des Ersten Weltkriegs, eine streitbare nationale Gesinnung offenbarte. Sein Leben lang half er den Armen, wo er nur konnte. Der leidenschaftliche Prediger ließ sich auch mit siebzig Jahren nicht pensionieren. Sein Tod im Februar 1927 erfolgte nach einem Zusammenbruch vor dem Altar, nachdem er mit seinem bescheidenen Kirchenchor noch ein Weihnachtsoratorium aufgeführt hatte. Zweieinhalb Jahre vorher, im Juli 1924, hatte ihm sein Schwiegersohn P. S. zur Frage, ob er sich pensionieren lassen solle, geschrieben: »O bitte, Vater, tu noch ein Weilchen mit, es ist doch so schön, für Gottes Sache zu streiten … Ich habe immer so die Idee, als sollte es für Pastoren und Streiter unseres Gottes gar keine Pensionierung geben, als sei das nur etwas für Weltmenschen, als müssten die Streiter Gottes in den Sielen sterben. Ein Christ und Glaubensmensch wird ja geistlich immer jünger und frischer und geläuterter und bewährter für den Dienst seines Herrn«.29 Karl Dieterich war als künftiger Schwiegervater für Paul Schneider ein interessanter, anspruchsvoller und gewichtiger Gesprächspartner. Im Übrigen war er ein musisch vielseitig tätiger Mann, besonders was das Dichten und das Dirigieren des Chores betrifft; auch der Ahnenforschung gab er sich hin.30

Noch wichtiger als Gegenüber wurde für P. S. Karl Dieterichs Frau Marie, Gretels Mutter. Sie zog ihre zehn Kinder auf und betreute ihren epileptischen Sohn Konrad bis zu dessen Tod im Jahr 1940. Sie war von lebenserfahrener Güte und wurde für P. S., der seine eigene Mutter so früh verloren hatte, bald eine Art Ersatzmutter, was seine zahlreichen Briefe an sie zeigen, in denen er sie auch zur Mitwisserin seiner kirchenpolitischen und politischen Konflikte machte. Immer wieder drückt er in seinen Briefen dieser zweiten Mutter seine große Dankbarkeit aus.

So schreibt er besonders eindrücklich im Blick auf beide Schwiegereltern am 18. Februar 1927, fünf Tage nach dem Tod des Schwiegervaters, an Marie Dieterich: »Wie bist Du eine so starke, liebe und tapfere Mutter! … Wie müssen wir Kinder alle Dir dankbar sein, dass Du, die Nächstbetroffene, so aufrecht und gottvertrauend uns vorangehst! So bist Du doch noch bei uns, nachdem der liebe Vater von uns gegangen ist. Darf auch ich mich ja zu seinen Kindern zählen? So viel Vertrauen und Liebe habe ich ihm ja zu danken. Vielleicht ist unter dem, was mir von Menschen geschenkt wurde, Vaters Vertrauen das Größte und Beste geworden nebst Gretels herzinniglicher und Deiner mütterlichen Liebe und nebst der doch wieder so andersartigen Liebe meiner Eltern … Ich darf es Dir vielleicht hier sagen, was ich mit Worten Dir nicht hätte sagen können, weil ich meine, es tröste Dich: dass ich Vater lieb gehabt habe; Ihr seid mir ja beide wahrhafte Eltern geworden.«31

Was Gretel, die Jüngste, betrifft, so zeigen frühe Fotografien, dass sie einen natürlichen Charme hatte. Wie schön sie war, sehen wir auch auf einem bemerkenswerten Holzschnitt des Künstlers Fritz Franck, der sie als »Eva mit dem Apfel« beim Oberufener Paradeisspiel darstellt, das in den frühen Zwanzigerjahren in verschiedenen Stadtkirchen durch das Studentenwerk aufgeführt wurde. Jeder, der sie kannte, erinnert sich gern ihrer frischen, direkten Herzlichkeit. Es fällt nicht schwer, sich zwischen ihr und dem Studenten Paul im schönen Tübingen eine Liebesgeschichte vorzustellen.

Gretel und Paul haben, da sie sangeslustig waren und beide gute Stimmen hatten, unterwegs gern miteinander gesungen. Etwa ihr Lieblingslied »Ännchen von Tharau« und andere. Gretel lebte, so sagte sie im Gespräch, in ihren jungen Jahren gern nach dem Vers von Ludwig Uhland:

Singst du nicht dein ganzes Leben,

sing doch in der Jugend Drang,

nur im Blütenmond erheben

Nachtigallen ihren Sang.

Von Heims32 »Ethik« ist Paul tief erfasst, sein bisheriges Leben in seiner »Eitelkeit« liegt vor ihm, die innere Unruhe und Sehnsucht nach der Ruhe in Gott nimmt zu. Im Wintersemester 1921 ist er wieder in Marburg. An einem Vorweihnachtstage dringt ein Strahl des ewigen Lichts33 in seine Seele, es hebt ein großes Freuen an, und er zehrt lange von diesen »seelischen Erregungen und Bewegungen«; das Wissen davon, dass Gott Licht werden lassen kann, bleibt in ihm.

Innerhalb des Wingolf kam es immer wieder zu Konflikten, bis die Verbindung im Sommer 1921 »diesmal aus eigener Initiative das Band zwischen sich und mir zerschnitt, da ich Kommentformen und Institutionsformen, ›die Grundlagen des Verbindungslebens‹, als reformbedürftig angegriffen habe. In der Hauptsache war es der Trinkkomment34. Ich von mir aus hätte drum ruhig in der Verbindung bleiben können, bin nun aber doch froh, Zeit und Kraft für andere Dinge frei zu haben« (Tagebuch). Aus dem Gießener Wingolf trat Paul 1933 aus. Er verweigerte in Ablehnung des Arierparagrafen35 – in einer »christlichen« Verbindung – den arischen Nachweis.

Die Frage, wie Paul Schneider zur Studentenverbindung Wingolf stand, und besonders die Frage, ob er aus ihr ausgetreten ist, wurden in den letzten Jahren mehrfach von Wingolfiten bearbeitet. Deutlich ist, dass P. S. in Marburg nach erheblichem Zögern in die Verbindung eingetreten ist.36 Im Tagebuch finden wir am 4. Oktober 1919 die Information, er habe sich im Wingolf aktiv gemeldet und er trage nun »das grün-weiß-goldene Band und Mütze. War’s recht für mich? Ich weiß es heute noch nicht. Allzu reges geistiges Leben ist, glaube ich, in der Verbindung nicht drin. … Es wäre das Turnen in den Vordergrund zu rücken, Frühschoppen wäre zu beseitigen, Fernbummels in Wanderungen umzuführen und endlich den Bierkomment abzuschaffen.« Er stellt dann fest: »Merkwürdigerweise sind es Leute, die einen weniger straffen Korporationsstandpunkt vertreten, an die ich mich anschließe.«

Offenbar hat im Gießener Wingolf in den Jahren 1919 bis 1921 eine verstärkt christliche und soziale Richtung vermehrt Zulauf bekommen. Das hat dort zu einer zunehmenden Innerlichkeit geführt. Einen anderen Eindruck macht der Marburger Wingolf in diesen Jahren. Die Trinksitten sind in Marburg intensiver gepflegt worden, als sie in Gießen überhaupt erlaubt waren. Bierspiele, d. h. Wetttrinken, waren beim Wingolf in Gießen verboten, nicht aber in Marburg.37 Mit Blick auf seine Erfahrungen mit dem Marburger Wingolf schreibt P. S. am 4. Juni 1920 an den Wingolf Gießen, er bitte um Verständnis dafür, dass er aus dem Wingolf austreten müsse. Es sei ihm klar geworden, wie fremd er dem Korporationsgedanken sei. Sie wüssten ja, dass er von Anfang an ein Mitläufer, wenn nicht gar ein Hemmschuh gewesen sei. Schließlich lässt er durchblicken, er werde sich in Marburg der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft« anschließen.

Im Dezember 1920 finden wir in P. S.s Tagebuch »Gedanken für Gießener Kneipe«. Offenbar war er trotz seines Austritts doch bei der »Weihnachtskneipe« des Wingolf dabei. Er wollte dabei folgende Gedanken vortragen: Er habe den Marburger Wingolf verlassen müssen, weil dort die Korporation »Alleinherr und Tyrann« und das Christliche zur Farce geworden sei. Das sei wohl nicht nur in Marburg so. »Was gilt uns höher? Christentum oder Korporation? Ist das Christentum uns nur das Kleid, um unserer Korporation Form damit zu umfangen?« Erst wenn sie durch den Heiligen Geist zu lebendiger Gemeinschaft gelangen wollten, hätten sie das Recht, sich »christliche Verbindung Wingolf« zu nennen. P. S. bot dem Wingolf seinen Wiedereintritt an. Er fügte hinzu: »Je mehr wir zu einer Bruderschaft von Christen zusammenwachsen, umso unwesentlicher wird uns das Korporationskleid.«

Am 16. Januar 1921 teilt P. S. dem Wingolf-Konvent in Gießen mit, dass er wieder in Marburg aktiver Wingolfit sei. Ausführlich begründet er, was ihn damals zum Austritt veranlasst habe: Er habe die strenge korporative Zucht als zu freiheitsverkürzend empfunden und habe in ihr »das menschliche und das christliche Moment« vermisst. Auch habe er darin das »Züchten von Klassengeist und ein Hemmnis unserer sozialen Entwicklung« gesehen.

Er sehe jetzt aber in der korporativen Freiheitsbeschränkung eine Erziehung zur Selbstüberwindung und zu gemeinschaftlicher Arbeit. Er stehe durchaus auf dem Boden der Korporation. Dass ihm »eine persönliche Vorliebe für gewisse freideutsche und Wandervogelgepflogenheiten« bleibe, für die er sich auch künftig – natürlich ganz im korporativen Rahmen – »aus Gründen der Vernunft und der Gesundheit einsetzen werde«, das stehe auf einem anderen Blatt. Solange die Korporation sich keine Übergriffe in ihr fremde Gebiete wie z. B. »in allgemeinmenschliche, auch allgemeinstudentische Fragen, und vollends auf das religiöse Gebiet« leiste (P. S. meint wohl: solange sie das Gewissen des Einzelnen achte), bejahe er durchaus die Unterordnung. Er fügt hinzu: »Gesundheit und gesunde Grenzen der Korporation scheinen mir überall da gewährleistet zu sein, wo der Religion, bei dem christlichen Wingolf dem Christentum, der erste Platz eingeräumt wird.«

Den Gießenern teilt er mit, auf ungefähr die gleiche Erklärung hin habe ihn der Marburger Wingolf wieder aktiviert. Offenbar wurden aber in Marburg P. S.s kritische Auffassungen über das Verbindungsleben bald nicht mehr akzeptiert. Am 14. Juni 1921 schreibt er an seine Mutterverbindung in Gießen: »Liebe Brüder! Herzlichen Gruß zuvor! Ich teile Euch hierdurch mit, dass der Marburger Wingolf mir den Rat zum Austritt erteilt hat mit der Begründung, dass er andere Ansichten habe als ich. Es handelt sich um meine Stellungnahme gegen den Trinkkomment und Bierkonsum des Marburger Wingolf. … Ich bemerke noch, dass ich selbst mein Bleiben im M. W.38 durchaus für möglich gehalten habe. Ich hoffe, dass durch den Zwischenfall mein Verhältnis zu meiner Mutterverbindung keine Beeinträchtigung erleidet. Mit Brudergruß, Euer Paul Schneider.«

Gretel Schneider hat 1979 diesen freundlichen »Hinauswurf« ihres späteren Mannes aus dem Marburger Wingolf so erklärt: »Die Wingolfiten hatten sich in einem Dorf, in welchem ein Wingolfit Pfarrer war, unmöglich aufgeführt, sodass der Pfarrer selbst sie aufgesucht und sie um anständiges Benehmen gebeten hatte. P. S. hat dieses Benehmen später bei einer Wingolf-Sitzung kritisiert. Er kritisierte auch den Trinkzwang, der ihm teils wegen seiner freiheitsberaubenden, teils wegen seiner krankmachenden Wirkung zuwider war. Darauf hat ihn der Marburger Wingolf – höflich, aber bestimmt – vor die Tür gesetzt.«

P. S.s Geschichte mit dem Wingolf zeigt, wie schwer er sich mit einer christlichen Gemeinschaft tat, in der – nach seinem Empfinden – das Leben im Geist Jesu Christi nicht den Vorrang hatte. Auch, dass er als Christ keine freiheitsberaubenden Zwänge und kein Herren-Gehabe ertragen wollte.39

Wie sehr Paul, im Idealismus und Liberalismus40 steckend, von Glaubens- und Lebensnot umgetrieben war, können wir nur ahnen. Er war dem Abgrund nahe genug, das erzählte er. »Das unbegreifliche, unfassbare Leben ist größer als wir, und aller Trotz und alle Kraft hilft nicht dagegen. Es ruht nicht eher, als bis es uns niedergeworfen und zusammengebrochen hat. Das Leben sagt: Nicht wie du, sondern wie ich will. Und so bekommt der Mensch mit der Zeit eine ganz andere Orientierung. Durch Zusammenbruch und Tod und Leere muss es hindurchgehen, durch Verzweiflung und bittern Schmerz … Aber das Neubauen, das macht den Menschen dann selig und froh, und erst allmählich muss er sich an diese Freude gewöhnen … Auch zu dieser Freude muss man stark sein, um sie nicht zu verlieren im Überschwang.« So wollen »seine Flügel immer wieder wachsen«. Das eine oder andere Stück seiner Kräfte taucht aus dem »Strudel« wieder hervor, und er hofft zu Gott, »dass er mich noch einmal zusammenleimt zu einem ganzen Kerl«. (Brief an den künftigen Schwiegervater, Juli 1921.)

Nun begann die »Paukarbeit« für das erste Examen. »Die Kunst des Lebens will täglich neu erlernt sein. Hier gibt es nie ein Fertigsein, ein ›über dem Berg‹. Unser Leben muss sein ein ständiger Kriegsdienst, ein ›Immer-auf-dem-Posten‹. Ohne diese ständige Bereitschaft werden die Anfechtungen Herr über uns, wir verlieren die Orientierung, und unversehens sind wir der Depression erlegen. Wenn du glaubst, du ständest, siehe wohl zu, dass du nicht schon tief gefallen bist.41 – Ich habe vielleicht zu kleingläubig, einseitig die Notwendigkeit der Körperpflege betont. Ich habe Askese42 getrieben und wurde doch nicht Herr über mich und mein Wohlbefinden. Du hast die Gesundheit des Leibes und der Seele noch zu sehr an der Oberfläche gesucht und nicht zuerst im Gebet an der tiefsten, an der Urquelle!« (Tagebuch Februar 1922). Er müht sich um das vernünftige Maß zwischen körperlicher und geistiger Arbeit. »Noch bin ich ein Suchender, noch frage ich, wie viel Zeit darf ich dem Turnen, der Arbeit mit dem Spaten, der Hacke widmen. Eben glaubte ich ein gesundes Maß zu haben, … und schon habe ich dieses Maß wieder verloren. Kann mir Gott nicht Kraft geben, so viel er will, so viel ich bedarf, und jedes vernünftige Maß über den Haufen werfen? So bleibt mir also nur, mein Leben ganz auf Gott, den Übervernünftigen und Wunderbaren, Allmächtigen und Grundgütigen zu legen. Von ihm will ich mir sagen lassen, was ich zu tun, wie ich zu leben habe, und auf alle eigenen Maßstäbe verzichten. Herr Gott, zeige du mir mein Ziel, das Ziel meines Lebens und meiner Arbeit! Für dieses Ziel gilt es dann alle Kräfte einzusetzen, ihm dienstbar zu machen, und so manches jetzt so Dunkle muss dann licht werden. Diese befreiende Ausschau schenke mir, mein Gott und Vater!« (Tagebuch).

Nach der bestandenen Prüfung lautet die Eintragung: »Ich glaube, ich muss immer treu, fleißig und auch mühevoll arbeiten, aber dann lässt es mir Gott auch gelingen« (Tagebuch).

P. S. hat – nach Auskunft seiner Frau – mit sogenannten Zwischensemestern acht Semester Theologie studiert. Er hatte also während des Studiums keine Semesterferien. Denn während dieser fanden die »Zwischensemester« statt. Solche hatte man eingeführt, um Weltkriegsteilnehmern ein rasches Studium zu ermöglichen.

Durch das Erlebnis und den erfreulichen Ausgang des Examens, das Anfang April 1922 in Koblenz stattfand, fühlte sich der nun knapp 25-jährige P. S., wie er an seine künftige Schwiegermutter schrieb, »doch wesentlich erleichtert und auch gestützt.«43 Er fügt hinzu: »Das ist gewiss die Reaktion auf meine frühere Skepsis und Unterschätzung von Kirchenregiment, Amt und Examen als bloß äußerlicher Formen. Ohne diese kritische Verachtung ist mir jetzt wohler. Nun steht man doch nicht mehr ganz so allein, sondern fühlt sich getragen und gehoben von der geschichtlich gewordenen Größe seiner Kirche, auf deren Zeugnis und Befähigung man nun nächst der göttlichen Stimme in der eigenen Brust seinen Dienst am Wort und Reich Gottes aufbauen darf.«

Paul Schneider – Der Prediger von Buchenwald

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