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Miss Marples Rückkehr

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Nein, ich wollte wirklich nicht in diesen Fall verwickelt werden. Und schon gar nicht Schumann in die Quere kommen. Aber ich ahnte, dass es bereits zu spät war. Schließlich, redete ich mir ein, betraf mich das gestohlene Bild direkt, da ich ja die Texte für den Katalog verfassen und gemeinsam mit Ferdinand Wedel, dem Kurator des Braunschweiger Museums, die Gemälde sichten sollte. Bisher lagerten die schon etwa dreißig Gemälde im Museumsmagazin. Strates vier Bilder galten als besondere Schätze.

Strates Beerdigung lag erst einen Tag zurück, aber ich fühlte mich an diesem sonnigen Maitag ausgelaugt und wenig aktiv. Nachdem ich mich von dem Gedanken gelöst hatte, womöglich tatsächlich meine alte Freundin an mir vorüberfahren gesehen zu haben, ging ich zu meiner Lieblingsbäckerei an der Ecke, deckte mich mit Brötchen und zwei Stück Apfelkuchen ein und verbrachte den restlichen Tag eher lustlos an meinem Computer. Die Arbeit am Katalog dehnte sich wie Kaugummi. Seltsamerweise versuchte niemand, mich anzurufen, und nur der nervige Frostauer schickte mir eine SMS, in der er seiner »großen Freude« Ausdruck verlieh, mich wiedergesehen zu haben.

Das einzige Telefonat, das ich führte, war mit Ferdinand Wedel. Wir waren für den nächsten Tag verabredet, aber ich wollte ihn um eine Verlegung bitten. Ich mochte Wedel, den ich noch aus seiner Studentenzeit in Köln kannte, aber das Treffen mit ihm in Braunschweig lag wie ein Berg vor mir. Wir wollten gemeinsam die Bilder begutachten und die »Spreu vom Weizen trennen«, wie Ferdinand meinte. Auch überlegte er, »ob wir ein paar Fälschungen oder Kopien entdecken«.

Der Junge meinte das wohl nicht ganz ernst. Das ließ sich nicht mal eben en passant feststellen. Aber man konnte nie wissen. Ich war mir fast sicher, dass sich unter den mehr als einhundert für diese Ausstellung gemeldeten Werken aus Privatbesitz auch eine Fälschung und einige als Original angemeldete Kopien befanden. Wie dem auch sei, diese Schau würde einen interessanten Einblick in die Höhepunkte einiger Privatsammlungen geben. Ich hoffte sogar auf einige Überraschungen, wie ich sie vor einigen Jahren in einem Schloss im Ith erlebt hatte und im Haus meiner Patentante, wo viele Jahre unerkannt ein Ruisdael hing. Jetzt zierte er einen der Säle des Kölner Wallraf-Richartz-Museums.

Wedel war ein Idealist. Gerade dreißig Jahre alt, sein erster großer Auftrag versetzte ihn in Euphorie, und nun war eines der Bilder für die Ausstellung gestohlen, der Besitzer tot, wahrscheinlich ermordet. Ich war mir unsicher, ob Wedel schon Wind vom Verschwinden des Biondo bekommen hatte, und malte mir seine Reaktion aus, wenn er die grausame Wahrheit erfuhr. In einem »Tatort« oder im Kino mit Pierce Brosnan als Kunstdieb waren solche Geschichten über raffinierte Kunstdiebe vielleicht noch recht unterhaltsam, und die Täter waren nach neunzig Minuten gefasst. Doch in der Realität bedeutete dies einen Alptraum.

Aber Wedel wusste schon Bescheid, als ich ihn gegen Mittag anrief und ihn bat, unseren Termin auf den übernächsten Tag zu schieben. Er wirkte sehr gedämpft.

»Die Polizei war auch schon bei mir, Anna. Aber ich konnte ihr nichts zu dem Biondo sagen. Ist nicht meine Kunstrichtung. Ich bin ja eher für die Neuzeit zuständig. Okay, lass uns den Termin auf übermorgen legen. Ich werde dann auch noch die beiden Ausstellungsmacher dazuholen, Frau Rietmüller und Herrn Wegener.«

Na toll. Die beiden mochten mich nicht besonders. Ihre Ideen für die Hängung der Leihgaben hatte ich eher grässlich gefunden und ihnen meine Ansicht leider auch unverhohlen mitgeteilt. Rüdiger Wegener ging auf die sechzig zu. Es sollte sein letztes großes Projekt sein. Er war auch für die Werbung für die Ausstellung zuständig. Frieda Rietmüller war eine auf »forever young« getrimmte Mittfünfzigerin mit engen Röcken, High Heels, grellblond gefärbtem Haar und einem stets rosa geschminkten Mund. Wegener sah noch recht gut aus mit seiner weißen Mähne und seinen stahlblauen Augen. Doch er liebte zynische Kommentare und lachte am liebsten über seine eigenen, meist misslungenen Witze. Auf diese Begegnung freute ich mich wenig. Aber wie sagt Scarlett O’Hara immer so treffend? »Morgen ist ein anderer Tag.«

Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Mein Gewissen ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Sollte ich Strates Brief Kommissar Schumann zeigen? Zu früh, entschied ich. Irgendwie musste ich selbst herausfinden, wo die von Strate avisierten Dokumente abgeblieben waren. Zu ärgerlich, dass ich das Bild nicht überprüfen konnte. Verblasste Farben, rissiger Rahmen. Was sollte mir das sagen? Und warum war bloß dieses eine Bild gestohlen worden? Hatte der Eindringling nur Zeit gehabt, den Biondo mitzunehmen? Die Flamen waren wertvoller.

Hinter dieser Tat, so vermutete ich, könnte ein Auftrag stecken. Warum aber Strate töten? Hatte er den Dieb überrascht? Der Täter hatte offenbar gewusst, dass Strate morgens oft einen Spaziergang unternahm und danach allein im Haus war. Wahrscheinlich hatte jemand die Gepflogenheiten des Professors genau ausgekundschaftet. Wie gut, dass Ernestine Wiegand an jenem Morgen offensichtlich später als üblich ins Haus gekommen war. Sonst wäre sie vielleicht auch ein Opfer des Räubers geworden.

Mit meiner Entscheidung, erst einmal mein eigenes Ding zu machen, folgte ich wieder genau meinem alten Prozedere: Schumann nicht sofort involvieren, sondern erst selbst handeln. Ich redete mir allerdings ein, dass es ja diesmal wirklich ganz harmlos sei – mal eben schauen, ob diese Dokumente irgendwo im Haus lagen. Und selbst wenn das Bild verschwunden war, hätte ich Material für einen kleinen Text. Immerhin besaß ich ein Foto des Biondo. Auch wenn das Bild selbst nicht wiederauftauchte, wäre es verewigt. Wie die Reporterin eines Sensationsblattes sah ich vor meinem inneren Auge schon eine aufregende Story im Katalog.

Ich hatte nicht vor, Schumann ins Handwerk zu pfuschen. Aber ich konnte ihn auch nicht nach weiteren Informationen fragen. Ob Richard besser über die Ergebnisse des Gerichtsmediziners Bescheid wusste? Er hatte gewisse Quellen. Seit dem Fall mit den keltischen Masken ging er regelmäßig mit Schumanns rechter Hand, dem liebenswürdigen Hartmut Brink, ein Bier trinken. Und wer weiß? Bei einem oder zwei Bier lässt sich gut plaudern … Brink interessierte sich für Kultur und hatte Richard vor einem Jahr sogar zwei sehr schöne Stiche der Residenzstadt Hannover abgekauft. Das hatte mir Richards neue Assistentin Beate Krause kürzlich berichtet, die ich beim Einkaufen getroffen hatte.

Wahrscheinlich wusste Schumann nicht, dass sein getreuer Hartmut Brink sich mit Richard angefreundet hatte. Schumann lebte in seiner sehr begrenzten Welt zwischen dem Polizeipräsidium und seiner kleinen Wohnung, die er sich vor zwei Jahren gekauft hatte. Er besaß seitdem einen kleinen Hund, einen Mischling aus Mallorca, den ihm seine Ex-Frau Dagmar geschenkt hatte. Gringo, so hieß der kleine Kerl, durfte gelegentlich sogar mit in Schumanns Büro. Er war der Liebling aller Mitarbeiter. Das hatte ich am Rande gehört. Ich selbst hatte Gringo noch nie gesehen. Das könnte sich ja demnächst ändern, falls Schumann sein Versprechen für ein Treffen halten würde.

Auch am nächsten Morgen grübelte ich während meines eher kargen Frühstücks, bestehend aus einem Kaffee und einem Toast mit Honig, über meine nächsten Schritte nach. Dann löste ich mich aus meinen Gedanken und stand vom Küchentisch auf. Als Erstes musste ich diese Dokumente finden, möglichst vor meinem Treffen mit Wedel. Heute fühlte ich mich sehr viel energischer trotz der wenigen Stunden Schlaf.

Ehe ich mich recht besann, saß ich in meinem Auto und fuhr in Richtung Kirchrode zu Strates Haus. Es war sicherlich viel wert, dachte ich unwillkürlich. Wer würde es erben? Ein ziemlich großes Haus für den alten Einsiedler, und sicher quollen fast alle Zimmer über von Büchern und Bildern. Keine leichte Aufgabe, diesen Haushalt aufzulösen. Ich sprach aus Erfahrung. Noch immer kämpfte ich mit dem Nachlass meiner Patentante.

Der weiße Bau mit dunkelrotem Ziegeldach und zwei hohen Schornsteinen lag in einer Seitenstraße der Tiergartenstraße. Im kleinen Vorgarten blühten Stiefmütterchen und die letzten Osterglocken. Vor der Tür wehte ein zerfetztes Polizeiband in der morgendlichen Brise. Keine Neugierigen standen auf der Straße, nur eine Katze strich an mir vorbei, in einem der Häuser schrie ein Kind, ein Hund kläffte. Ein paar Autos parkten am Straßenrand, Menschen sah ich keine.

Langsam ging ich auf das Haus zu. Ich kam mir wie ein Eindringling vor, was ich streng genommen ja auch war. Vorsichtig schaute ich mich um. Kein Polizist weit und breit. Ich holte tief Luft und klingelte. Nur wenige Sekunden später hörte ich ein Schlurfen und Räuspern. Dann öffnete sich die schwere rostrot gestrichene Haustür, und Ernestine Wiegand spähte durch den Spalt. Sie erkannte mich sofort.

»Ach, das Fräulein Anna!«, rief sie, als sei ich immer noch Strates Studentin. Damals war ich ihr, seinerzeit eine Frau von knapp vierzig, mehrmals begegnet. Sie hatte schon Heinrich Strate umsorgt und sich danach um seinen Sohn gekümmert.

»Guten Tag, Ernestine. Es tut mir leid, dass ich Sie störe.«

»Oh herrje, das tun Sie doch gar nicht! Kommen Sie rein. Die Polizei hat das Haus freigegeben, und ich putze und sortiere ein wenig. Ende der nächsten Woche kommt ein Umzugsunternehmen, das alles ausräumt.«

»Und dann? Was wird aus Ihnen und aus dem Haus?«

Ernestine lächelte. Ihr kleines Gesicht mit den vielen Runzeln und den schmalen braungrünen Augen erinnerte an einen Kobold. »Das Haus soll verkauft werden. Das Geld daraus, das weiß ich von dem Herrn Professor selbst noch, geht in eine Stiftung für die Erforschung seltener Erbkrankheiten. Dafür hat er sich in den letzten Jahren interessiert, warum, weiß ich auch nicht.« Sie zupfte an ihrem Schürzenband. »Ja, und ich ziehe Anfang Juni zu meinem Neffen nach Würzburg und werde mich um seinen Haushalt und seine beiden Kinder kümmern. Er ist Arzt und sehr beschäftigt, und seine Frau arbeitet in einem Immobilienbüro. Aber bitte kommen Sie doch ins Wohnzimmer!«

Die kleine Frau schubste mich fast in den Raum. Alles aufgeräumt, die Teppiche aufgerollt, auf den kleinen Beistelltischen nur noch wenige Silberrahmen mit leicht vergilbten Fotos. Eines zeigte Strate im Kreis von sechs Studenten, darunter war ich. Daneben Bredehoff, Liebherr und Christine Windstetten. Der eine der beiden anderen auf dem Foto musste Konstantin Severin sein, der heute als Gutachter arbeitete und in Berlin lebte. Ich hatte ihn seit fast dreißig Jahren nicht mehr gesehen und legte keinen Wert darauf, ihn je wiederzutreffen. Er war als Student schon ein arroganter Wichtigtuer gewesen. Den anderen konnte ich nicht mehr einordnen.

Ernestine plumpste mit einem abgrundtiefen Seufzer auf das dunkelblau bezogene Sofa. »Das ist alles so schrecklich!« Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche und schnäuzte sich dramatisch. Und ehe ich mich versah, erzählte sie mir noch einmal die Ereignisse von jenem Morgen vor fast zwei Wochen. Ihre Stimme zitterte, als sie vom Eintreffen des Krankenwagens und vom Auftauchen der Polizei berichtete. Ihr Redestrom hörte gar nicht mehr auf. Zwischendurch servierte sie mir einen ziemlich lauwarmen Kaffee mit sehr viel Zucker und leicht säuerlicher Milch und dazu die mir schon bekannten trockenen Kekse.

»… und dann haben sie mich immerzu gefragt, was denn gestohlen worden sei. Das eine Bild war weg, dieser Italiener. Und noch zwei silberne Kerzenleuchter. Aber mehr nicht.« Ernestine atmete tief ein. »Wegen so was bringt man doch keinen um!«, empörte sie sich.

»Vielleicht haben Sie den Einbrecher gestört?«, fragte ich. »Er hat Sie kommen gehört und ist abgehauen.«

»Aber warum hat er Professor Strate umgebracht?« Ernestines Augen füllten sich mit Tränen. »Er hätte doch einfach die Sachen nehmen und verschwinden können!« Sie sah mich an. »Nein, da muss etwas anderes dahinterstecken. Ich sehe ja nicht umsonst Krimis im Fernsehen. Da kommen solche Fälle immer wieder vor. Der Raub ist nur vorgetäuscht, und dieses Bild hat er mitgenommen, um es als Gemäldediebstahl darzustellen. Der Professor hat mir einmal gesagt, dass der Biondo nicht das wertvollste der vier Bilder für die Ausstellung war.« Ihre Augen blitzten, nicht nur wegen der Tränen.

Aber es war wohl wertvoller, als Strate immer geglaubt hatte, dachte ich unwillkürlich, vor allem, weil es angeblich nur wenige erhaltene Bilder dieses Malers aus dem 15. Jahrhundert gab.

»Ich kannte den Professor nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob jemand ein persönliches Motiv hatte, ihn umzubringen«, sagte ich. »Aber darüber sollten Sie mit Kommissar Schumann reden. Die Polizei hat bisher keinerlei Details verraten.«

»Es kann nicht ums Erbe gehen«, murmelte Ernestine vor sich hin. »Das ist alles lange geklärt. Die Bilder gehen an diverse Museen, seine alten Bücher an die Leibniz-Bibliothek in Hannover, das Haus samt Mobiliar wird verkauft und der Erlös an diese Stiftung gehen. Ein entfernter Neffe, der in New York lebt, erhält einen Teil.«

»Und Sie? Bekommen Sie auch etwas?«, wagte ich zu fragen.

Ernestine errötete. »Ja, aber nicht so viel, als dass ich dafür morden würde!« Sie lachte. »Ich darf mir zwei Stiche im Treppenhaus aussuchen. Und bekomme wohl auch ein bisschen Geld. Strate hat mir vertraut und mit mir über sein Testament gesprochen.«

»War der Neffe denn bei der Beerdigung?«, fragte ich neugierig.

Ernestine schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Er ist wohl viel unterwegs. Der Professor sagte mir mal, sein Neffe sei Autor. Was er allerdings schreibt, kann ich Ihnen nicht sagen. Sachbücher, glaube ich.«

Sie sah mich an. »Der Professor hat Sie immer sehr geschätzt. Schade, dass Sie ihn so selten besucht haben. Er war schon ein wenig einsam. Dabei hat er eigentlich ganz gerne Menschen um sich gehabt. Allerdings nicht täglich und nicht zu viele auf einmal. Gelegentlich sind ehemalige Studenten von ihm vorbeigekommen. Sie waren ja auch vor ein paar Monaten hier. Und vor einigen Wochen ist wohl mal ein Kollege vom Professor hier gewesen. Allerdings weiß ich nicht, wer das war. Ich hatte frei an dem Tag und habe am nächsten Tag dann das benutzte Teegeschirr in die Spülmaschine gestellt. Der Herr Professor hat nie auch nur einen Finger im Haushalt gerührt.« Ernestine sah einen Moment verbittert aus, lächelte aber dann wieder und fügte hinzu: »Nur Frau Windstetten kam regelmäßig vorbei, etwa alle drei Wochen. Sie hat ja auch bei ihm studiert. Erstaunlich, dass sie nicht bei dem Begräbnis war. Sie hat sich gut mit dem Professor verstanden.«

Christine? Sie hatte mir nie erzählt, dass sie so eng mit Strate in Verbindung stand. Als ich sie einmal nach ihrer Beziehung zu ihm befragt hatte, ehe ich ihn das erste Mal wegen möglicher Leihgaben kontaktierte, hatte sie nur den Kopf geschüttelt: »Ich sehe ihn nur hin und wieder bei seinen gelegentlichen Vorträgen.« Also hatte sie mich glatt belogen. Warum wollte sie mir nicht ehrlich sagen, dass sie noch Kontakt zu ihm hatte? Aber sie war es immerhin gewesen, die mich über Strates Tod informiert hatte. Das hätte mich stutzig machen sollen. Woher hatte sie es so früh gewusst?

»Haben Sie Frau Windstetten über den Tod des Professors informiert?«, fragte ich.

Ernestine überlegte. »Das weiß ich nicht mehr. Dieser Tag war so schrecklich. Vielleicht. Ich erinnere mich nicht mehr so gut.«

Mich bewegte die Frage, warum Christine nicht zur Beerdigung gekommen war, wenn sie so oft bei Strate gewesen war. Ich wollte sie danach fragen, sobald sie sich bei mir melden würde. Zu Ernestine sagte ich: »Ja, ein furchtbares Ereignis. Ich hätte meinen alten Professor auch gerne öfter gesehen. Aber ich war leider ziemlich viel unterwegs, was jetzt nachträglich natürlich keine gute Entschuldigung ist.« Eine Weile saßen wir schweigend zusammen. Dann kam ich endlich zum wahren Grund für meine Stippvisite in Strates Haus.

»Ernestine, wäre es möglich, einen Blick in das Arbeitszimmer des Professors zu werfen? Vielleicht finde ich dort etwas, was mir bei der Einordnung der drei verbliebenen Leihgaben hilft. Ich sitze ja am Katalog zur Ausstellung, und wir möchten seine Bilder auf jeden Fall zeigen.«

Ernestine sah mich etwas skeptisch an. »Die Polizei hat sich sehr gründlich dort umgesehen. Auf dem Schreibtisch liegen nur noch ein paar Kugelschreiber und sein altes Tintenfass. Was auf den Blättern stand, die um seinen … Leichnam auf dem Boden lagen, weiß ich nicht. Die Polizei hat sie mitgenommen.« Sie schluckte. »Der Safe im Arbeitszimmer war nicht angerührt, aber als der Polizeiexperte ihn geöffnet hat, wurden darin ein paar Wertpapiere, etwas Bargeld und ein Notizbuch gefunden, das offenbar dem Vater des Professors gehört hat.« Ernestine war wirklich erstaunlich gut unterrichtet. Sie schüttelte den Kopf. »Also, ich weiß wirklich nicht, woran der Professor zuletzt gearbeitet hat. Er hatte ja immer noch viele Anfragen für Artikel und Vorträge.«

Ich spürte, dass Ernestine mich nicht in Strates Arbeitszimmer lassen wollte. Zwingen konnte ich sie nicht. Etwas enttäuscht stand ich auf. Aber Ernestine schien sich plötzlich anders besonnen zu haben, sprang auf, nickte mir zu und eilte mir voraus.

Sie öffnete die Tür zum einstigen Heiligtum ihres Arbeitgebers und flüsterte: »Ich geh da nicht rein! Ich sehe ihn immer noch dort liegen. Aber machen Sie mal.« Sie putzte sich die Nase. »Die gestohlenen Kerzenleuchter standen übrigens auf dem Tisch im Eingang, altes schweres Silber, Barock, wie der Professor immer sagte. Aus England. Ich sag ja, das war ein Raub. Die Leuchter sind ziemlich viel wert.« Eine einzelne Träne kullerte an ihrer Nase entlang. Sie wischte sie hastig weg und verließ mich.

Ich betrat den Raum, der trotz seiner Holztäfelung, der dicht gefüllten Bücherregale und des großen Armsessels kalt und leblos wirkte. In den Regalen Fachliteratur, dicke Bände, Kataloge von diversen Ausstellungen aus allen großen Museen der Welt, sorgfältig geordnet nach Künstlern und Epochen. Eigentlich hätte ich jetzt, wie man das in Filmen sieht, jedes Buch schütteln müssen, um einen eventuell darin verborgenen Zettel zu entdecken. Doch weder hatte ich die Zeit noch glaubte ich, dass Klas Strate die Dokumente in einem der Werke über die Antike und Ägypten, über Renaissancemaler und barocke Bauwerke abgelegt hatte. Sicherlich waren es nicht nur einige wenige lose Blätter, die er mir hatte schicken wollen. Ehrlich gesagt hätte mich das Notizbuch von Heinrich Strate interessiert. Der Mann galt als einer der renommiertesten Kunstsammler seiner Zeit und als Entdecker angeblich verschollener Meisterwerke. Vor etlichen Jahrzehnten hatte er ein völlig verschmutztes Gemälde in einer Hamburger Galerie erstanden, es restaurieren lassen – und siehe da, es entpuppte sich als ein früher Paulus Potter, der um 1900 aus einem Privathaushalt in Utrecht gestohlen worden war. Der Handel mit gestohlener Kunst war keine Erfindung der Neuzeit. Sein Vater hatte das Bild zurückgegeben, wie mir Strate damals erzählte.

Ich setzte mich an den Schreibtisch. Auf der blank polierten Tischplatte lagen in der Tat nur noch einige Kugelschreiber. Das kleine Tintenfass stand neben einem Bilderrahmen, in dem nicht etwa ein privates Foto steckte, sondern eine Postkarte mit der Abbildung von Paolo Uccellos »Jagd bei Nacht« aus dem Oxforder Ashmolean Museum. Sonderbar, aber ich erinnerte mich, dass Strate immer eine Vorliebe für die Künstler des 15. und frühen 16. Jahrhunderts gehabt hatte. Und dieses Bild war wirklich sehr beeindruckend.

Das Gemälde aus dem Jahr 1470 zeigte eine stattliche Ansammlung von Menschen, Pferden, Hunden und Rehwild im nächtlichen Wald. Man hatte den Eindruck, dass diese ganze Gruppe von Tieren und Menschen gleich vom Wald verschluckt würde. In einer Episode der Fernsehserie »Lewis«, die in Oxford spielte, trug dieses Gemälde, wenn ich mich recht erinnerte, zur Lösung eines Mordfalles bei. Das hatte mich damals fasziniert. Und offensichtlich hatte Strate meinen Geschmack geteilt. Ich liebte dieses Bild, das ich vor wenigen Jahren, als der Brexit noch bloß eine Drohgebärde gewesen war, in Oxford gesehen hatte.

Aber das half mir nicht weiter, auch wenn ich mich ein wenig wunderte, dass der alte Herr lieber ein Kunstwerk als eine menschliche Person im Silberrahmen haben wollte.

Der Schreibtisch war alt, seine Beine standen ein wenig schief, die Seiten wiesen Kratzer und Rillen auf. Nachdenklich betrachtete ich dieses Relikt aus dem 19. Jahrhundert. Fünf Schubladen, zwei an jeder Seite, eine in der Mitte. Vorsichtig versuchte ich die mittlere Schublade zu öffnen. Sie klemmte, war aber nicht abgeschlossen. Ich ruckelte an ihr, bis sie sich allmählich öffnete. Dabei fiel der Silberrahmen mit der nächtlichen Jagdszene um.

In der Schublade lagen nur ein paar alte Rezepte und einige Visitenkarten. Nichts, was die Polizei interessiert hatte. Die Rezepte für ein Schmerzmittel und Magenpillen waren längst abgelaufen. Auch die fünf Visitenkarten wirkten vergilbt und verkrumpelt. Drei der Namen kannte ich: Cornelius Meyer-Herrmann, ein Kunsthistoriker und Berater einiger Berliner Museen, Otto Rieper, Besitzer der Berliner Galerie, in der Strates Vater Heinrich vor mehr als neunzig Jahren Bilder erworben hatte, und Alexander Freeling, ein renommierter englischer Kunstexperte, den ich persönlich kannte. Die beiden anderen Namen, Manfred Eggert und Friedl Neurath, sagten mir erst einmal nichts. Vielleicht aber würden mir diese Visitenkarten nützen. Aus einem Instinkt heraus steckte ich sie ein.

Gerade wollte ich die Schublade wieder schließen, als mir in der hintersten Ecke des Faches ein braunes Kuvert auffiel, das aussah wie ein Teil des Schubladenbodens. Ich fischte es heraus. Darin lagen vier kleine Schlüssel. Sie gehörten eindeutig zu den anderen Schubladen. Ich wunderte mich, dass Schumanns Leute den Umschlag übersehen hatten. Mir konnte diese Oberflächlichkeit nur recht sein.

Ich probierte die Schlüssel aus. Drei Schubladen ließen sich öffnen. Darin befanden sich ein paar Bleistifte mit abgebrochenen Spitzen, einige leere Plastikhüllen und ein paar Briefbögen samt Umschlägen. Bei der vierten Schublade allerdings stieß ich auf Schwierigkeiten. Der Schlüssel ließ sich nicht drehen. Ich zog und zerrte, wackelte an der Schublade, versuchte sie mit einem der Kugelschreiber aufzustemmen.

Draußen vor der Tür meldete sich Ernestine: »Sie müssen jetzt langsam mal in die Pötte kommen, Anna. Ich möchte das Haus abschließen. Morgen kommt die Polizei noch mal. Bitte beeilen Sie sich!«

»Ja, gleich!« Ich wollte schon aufgeben. Eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass Strate die Dokumente in einer dermaßen klemmenden Schublade aufbewahrt haben sollte. Noch ein letztes Mal stocherte ich mit dem Kugelschreiber in der oberen Ritze herum, um die Schublade damit zu lockern.

Auf einmal gab es einen lauten Knacks, und der Kugelschreiber brach in zwei Stücke. Aber er hatte einen winzigen Spalt geschaffen. Schnell nahm ich den nächsten Stift und bohrte ihn in die Spalte. Ganz behutsam wackelte ich an dem Holz. Und siehe da – die Schublade glitt ein Stückchen nach vorne, weit genug, um meine Hand hineinzuschieben und sie zu öffnen. Und da lag sie, eine Mappe aus rotem Plastik, auf der ein Etikett klebte. Mühsam entzifferte ich es. »Stuart O’Sullivan 1648 ff«, stand darauf, mit Tinte in einer mir unbekannten Schrift geschrieben. Ich zog die Mappe heraus. Strate hatte in dieser verklemmten Schublade ein gutes Versteck für die Dokumente gehabt. Er war ermordet worden, ehe er dazu gekommen war, sie mir zu schicken. Wie ich Strate kannte, hatte er vielleicht vergessen, dass er sie dort abgelegt hatte.

In diesem Moment betrat Ernestine das Arbeitszimmer, obwohl sie mir gesagt hatte, sie würde nicht mehr hineingehen. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte sie.

Ich verdeckte die Schublade mit meinem Oberkörper und schob sie möglichst unauffällig zu, was nicht einfach war. Das verzogene Holz machte es mir schwer, sie leise zuzudrücken. »Alles in Ordnung«, antwortete ich. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich kam mir wie eine Diebin vor. Doch Strate, so redete ich mir zu, hatte mir diese Dokumente ja sozusagen vermacht. Zu spät hatte er erkannt, dass sie wichtig waren und vielleicht den Schlüssel zu einem Geheimnis bargen.

Ernestine ging wieder hinaus, und ich versteckte die Mappe unter meinem Pullover. »Haben Sie Erfolg gehabt?«, fragte sie.

»Nein«, log ich. »In den Bücherschränken war nichts zu dem Thema. Ich habe mal in der mittleren Schublade nachgeschaut, aber da liegen nur uralte, längst verfallene Rezepte.« Die Visitenkarten erwähnte ich nicht.

»Typisch Professor Strate«, entgegnete Ernestine lächelnd. »Immer neue Rezepte, die er dann doch fast nie eingelöst hat. Er war auch noch gut beieinander. Eine Hüftoperation stand demnächst an. Die muss ich nun absagen.« Sie sah mich einen Augenblick traurig an. »Vielleicht hat er Ihnen ja auch ein Bild vererbt. Der Notar wird nächsten Montag das Testament offiziell eröffnen.«

Gerne hätte ich sie noch gefragt, welche zwei Stiche sie sich denn ausgesucht hatte. Aber ich ließ es bleiben.

Als ich das Haus verließ, hatte sich die milde Morgensonne hinter einer dicken Wolke versteckt. Bisher war das Wetter in diesem Mai recht launisch, aber alles blühte prächtig. Ich ging zu meinem Auto, und jäh überkam mich der Zweifel, ob die rote Mappe wirklich die von Strate avisierten Dokumente enthielt. Gerade hatte ich die Autotür aufgeschlossen, als mein Handy klingelte. Bis vor einem Jahr erklang die Fanfare aus »Star Wars« als Klingelton, jetzt waren es eher zarte Celloklänge, die ich manchmal überhörte.

»Anna?«, tönte es mir entgegen. Kaum verständlich, aber dann erkannte ich die Stimme.

»Christine? Bist du es? Wo steckst du denn?«, rief ich.

»Anna, ich brauche dich!« Christines Stimme überschlug sich. »Komm bitte schnell! Ich bin im Hotel Mercedes an der Messe. Ich habe Mist gebaut und jetzt furchtbare Angst! Bitte beeil dich.«

Damit endete das Gespräch. Im ersten Moment wollte ich den Anruf nicht wirklich ernst nehmen. Christine hatte schon oft Mist gebaut, vor allem in ihrem Privatleben. Aber ihre Stimme hatte so panisch geklungen, dass ich doch zweifelte. Also fuhr ich in Richtung Hannover Messe. Die rote Mappe hatte ich achtlos auf den Beifahrersitz geworfen. Den Wagen, den ich im Rückspiegel hinter mir sah, ignorierte ich. Wer sollte mir schon folgen? Kurz vor der Abfahrt zum Hotel überholte er mich mit hoher Geschwindigkeit. Ich erhaschte einen Blick auf den Fahrer, dessen Gesicht von einer Tweedkappe überschattet war.

Der Meister und der Mörder

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