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Ein unverhofftes Wiedersehen

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Ein kühler Wind strich über die Grabsteine. Ich stand im Schatten eines der alten Bäume auf dem Engesohder Friedhof in Hannover und fror. Nicht nur wegen des für Anfang Mai eher unfreundlichen Wetters, sondern weil ich um den Mann trauerte, der in diesen Minuten auf dem ehrwürdigen Friedhof beigesetzt wurde. Die Trauerfeier in der Kapelle hatte ich versäumt, da sich mein Zug von Köln nach Hannover aufgrund von »Personen im Gleis« um eine Stunde verspätet hatte.

Ich betrachtete die vielen Menschen, die sich zum letzten Geleit für Professor Klas Strate versammelt hatten. Als ich die Nachricht vom Tod meines einstigen Lehrers an der Kölner Universität erhielt, saß ich mit meiner Mutter in ihrer kleinen Küche mit Blick auf ihren winzigen Garten, in dem schüchtern die ersten Krokusse ihre Köpfe durch die Erde schoben, und trank mit ihr einen Kaffee. Immer um elf Uhr vormittags. Eine alte Tradition. Meine Mutter, trotz ihres fortgeschrittenen Alters noch immer recht munter und vor allem redefreudig, wollte mir gerade eine Anekdote aus der Nachbarschaft erzählen, als mein Handy klingelte. Obwohl meine Mutter die Stirn runzelte, nahm ich das Gespräch an. Eine sich überschlagende Stimme rief: »Anna? Bist du es?« Dann, ohne meine Antwort abzuwarten: »Klas Strate ist tot!«

Mit ein wenig Mühe erkannte ich die verzerrt klingende Stimme. Es war meine alte Freundin und frühere Kommilitonin Christine Windstetten, die mit mir bei Professor Strate in Köln studiert hatte. Ihren Magister machte sie dann später in Berlin, während ich in München mein Examen ablegte. Aber wir waren beide vier Semester bei dem charismatischen Strate gewesen, dessen tiefe, warme Stimme die Biografien und Besonderheiten der alten Meister so lebendig beschwor und der zudem ein fairer Prüfer und stets gesprächsbereiter Dozent gewesen war. Alle seine Studenten verehrten ihn, vor allem die weiblichen, die für seine tiefbraunen Augen und seine grauen Haare schwärmten, die ihm ein wenig das Aussehen von Richard Gere verliehen. Nach seiner Emeritierung war Strate in seine Geburtsstadt Hannover zurückgezogen.

Ich hatte den Kontakt zu ihm lange Zeit weitgehend verloren, obwohl auch ich in Hannover lebte und von dort aus umherfuhr, um Bilder zu begutachten oder Ausstellungskataloge zu planen, und dabei immer wieder Abenteuer erlebte. Strate war vor gut zwanzig Jahren emeritiert worden, hatte seitdem vor allem als Experte für verschiedene Museen zum Thema »Original und Fälschung« gearbeitet und seine Sammlung erweitert, die er von seinem Vater geerbt hatte, der sie wiederum von seinem Vater übernommen hatte. Der alte Heinrich Strate galt als einer der größten Privatsammler im Land, der dafür berüchtigt war, bereits mehreren namhaften Museen seine Sammlung versprochen zu haben. Aber er löste diese Versprechen nie ein, und sowohl das Landesmuseum in Hannover als auch das Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum oder die Berliner Nationalgalerie hatten das Nachsehen.

Als der alte Strate 1999 mit fast neunzig Jahren starb, hofften einige der Museen, sie seien in seinem Nachlass bedacht worden. Aber er verfügte in seinem Testament, dass sein einziger Sohn Klas, damals auch schon sechzig Jahre alt, die Bilder hüten und im eigenen Haus bewahren sollte. Man munkelte, dass die Sammlung einen Wert von vielen Millionen besaß, selbst wenn nicht alle Werke von bester Qualität waren, sondern teils von weniger namhaften Künstlern oder aus den Werkstätten berühmter Meister stammten. Klas Strate ließ wie sein Vater niemanden an seine Sammlung heran. Die meisten Bilder, hatte ich gehört, hingen in für Besucher nicht zugänglichen Räumen seines großen alten Hauses oder lagerten im Keller.

Ich hatte ihm Anfang des Jahres geschrieben und ihn gebeten, für die Ausstellung in Braunschweig, für die ich den Katalog erarbeiten sollte, doch einige seiner Bilder als Leihgaben zur Verfügung zu stellen. Seine Antwort war kurz und eher unpersönlich gewesen. Er sei bereit, vier Werke auszuleihen. »Falls dazu detailliertere Angaben benötigt werden, so bitte ich um Anruf auf meinem Festnetz.«

Ohne weiteren Kommentar sandte er mir die Titel der Bilder und die Namen der Künstler. Ich durfte ihn immerhin kurz besuchen, aber auch da blieb er zurückhaltend, was mich erstaunte, da ich eine seiner besseren Studentinnen gewesen war. Wir sahen uns die Bilder an, die für die Ausstellung in Frage kamen, suchten vier aus, die mir gut gefielen, und danach hörte ich nichts mehr von ihm. Alle formalen Fragen erledigte der Kurator der geplanten Ausstellung, und ich widmete mich anderen Dingen.

Im März starb meine Patentante Amelie in Köln, eine wundervolle Frau, die trotz der vielen Jahre, die sie an ihren Rollstuhl gefesselt war, nichts von ihrer Lebensfreude eingebüßt hatte. Ich erbte ihr Haus mit allen Beständen, darunter zahlreiche Bilder und eine Bibliothek mit zum Teil recht alten Büchern. Noch immer arbeitete ich an einer Bestandsaufnahme, fuhr jeden Monat für einige Tage nach Köln, quartierte mich bei meiner Mutter ein und schritt durch das Haus meiner Patentante im Kölner Vorort Marienburg wie durch ein Museum. Ihre wertvollsten Bilder hatte Amelie noch vor ihrem Tod mehreren Museen geschenkt, aber immerhin hingen noch recht ansehnliche Werke aus dem 17. Jahrhundert in ihrem Wohnzimmer. Das Haus würde ich irgendwann verkaufen.

Ich wollte von all den Bildern nur ein Madonnenbild aus dem späten 16. Jahrhundert behalten. Dieses Werk eines anonymen Malers hing jetzt in meiner Wohnung in Hannover. Ein paar Bilder hatte ich Richard Bernhard zum Verkauf überlassen – als wir noch in unserer seltsamen On-Off-Beziehung miteinander verbunden gewesen waren. Die aber brach endgültig im vergangenen September auseinander, als ich entdeckte, dass er während der gesamten Zeit unserer Liaison mit einer alten Freundin in Berlin engen Kontakt gehabt hatte. Alle seine Beteuerungen, das sei längst keine Affäre mehr gewesen, sondern nur noch eine Art Freundschaft, zündeten bei mir nicht. Tief enttäuscht zog ich mich zurück und löschte sogar in einem Anfall von Wut seine Handynummer und seine Mailadresse. Das half nicht viel, da ich beide längst auswendig kannte.

Richard Bernhard, Antiquitätenhändler aus Hannover und gelegentlicher Mitarbeiter der Fernsehsendung »Gutes für Geld«, bei der er als Experte für die Einschätzung von Bildern, Fotografien und alten Kunstobjekten mitwirkte, kannte ich, seit wir gemeinsam ein Abenteuer im Brester Moor in der Nähe von Stade überstanden und in den Jahren darauf im Ith und am Steinhuder Meer weitere Herausforderungen gemeistert hatten. Danach hatte sich zwischen Richard und mir eine Art von Liebesbeziehung entwickelt, die aber immer auf Messers Schneide stand. Ich war mir seiner nie sicher gewesen – wohl mit Recht, wie ich allzu spät entdeckte. Mein Kummer wurde nur noch von meinem Zorn übertroffen.

Mein Gemütszustand seit dem vergangenen Herbst war deshalb eher lau. Weihnachten verbrachte ich mit meiner Mutter in Köln, den Januar auf Mallorca bei meinem Vater, der sich inzwischen von seiner sehr viel jüngeren Frau getrennt hatte und nun alleine in seinem hübschen Haus bei Alcúdia wohnte. Und ich stürzte mich in die Arbeit. Der Katalog für die Ausstellung in Braunschweig im kommenden Jahr sollte bis September fertig sein. Und es gab noch viel zu tun. Zwischendurch überlegte ich, ob ich meine Zelte in Hannover ganz abbrechen und in das Haus meiner Tante ziehen sollte. Aber ich gab diesen Gedanken rasch wieder auf. Das Haus war für mich allein viel zu groß. Insgesamt sieben Zimmer und drei Bäder, die alle renoviert werden mussten, und dazu ein Garten von fast eintausend Quadratmetern.

Die etwas monotone Stimme des Pfarrers riss mich aus meinen Gedanken. Er stimmte das Vaterunser an, und mehrere hundert Trauergäste fielen ein. Sehr bewegend. Mir schossen die Tränen in die Augen. Die letzte Beerdigung, an der ich teilgenommen hatte, war die meiner geliebten Patentante gewesen. Ein wunderschönes katholisches Requiem in ihrer Kölner Pfarrkirche und eine sehr stimmungsvolle Beerdigung auf dem Melaten-Friedhof.

Auch Strates Begräbnis war durchaus würdevoll. Soviel ich wusste, hatte er nur sehr entfernte Verwandte gehabt. Seine Frau war nach kurzer Ehe gestorben, Kinder hatten sie nicht, und das gab ihm wohl den nötigen Freiraum, sein Geld und seine Anstrengungen weiterhin der Kunst zu widmen. Von Christine Windstetten, die ich seltsamerweise nicht unter den Gästen erblicken konnte, hatte ich erfahren, dass hinterher in einem Restaurant am Maschsee ein Empfang stattfinden sollte. Ich fühlte mich eingeladen und war mir sicher, dass zu Hause die Todesanzeige auf mich wartete. Ich war seit einer Woche nicht mehr in meiner Wohnung gewesen und nun direkt vom Bahnhof hierhergeeilt.

Die Gäste schoben sich auf das Grab zu, um Blumen oder Erde auf den Sarg zu werfen. Professor Klas Strate war ein prominenter Bürger dieser Stadt gewesen, ich sah unter anderem den Oberbürgermeister und einige Museumsleiter. Und dann entdeckte ich ihn: Richard Bernhard, der sich aus der Menge löste und eine Schaufel Erde auf den Sarg warf. Direkt hinter ihm stand Kommissar Hans Schumann, den ich seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Auch ihm war ich erstmals vor fünf Jahren im Brester Moor begegnet, ein liebenswerter, höflicher Polizist, der so gar nicht den Klischees aus Fernsehfilmen oder Kriminalromanen entsprach. Solide, vielleicht manchmal ein wenig zu bedächtig, aber durchaus kompetent. Er rauchte nicht, trank aber recht gerne in geselliger Runde und liebte Jazz und Blues.

Ich freute mich, ihn zu sehen. Sein Haar war inzwischen vollends ergraut, was ihm ein würdiges Aussehen verlieh. Er ging ein wenig gebeugt und trat hinter Richard, der sich überhaupt nicht verändert hatte, an die Grabstätte. Schumanns Gesicht wirkte sehr blass und ernst. Zuletzt hatte ich ihn bei einem hastigen Mittagessen gesehen, das wir lange geplant hatten. Kaum waren wir beim Nachtisch angekommen, klingelte sein Handy. Er verabschiedete sich für seine Verhältnisse fast schon unhöflich kurz und eilte davon. Danach nur gelegentliche SMS, Absichtserklärungen, gescheiterte Verabredungen, abgebrochene Telefonate, bis ich ihm erklärte, dies habe alles keinen Sinn. Er solle sich erst dann wieder bei mir melden, wenn er wirklich Zeit hätte. Nun, das letzte Telefonat lag ein Jahr zurück. Meinen fünfzigsten Geburtstag feierte ich im vergangenen Jahr ohne meine alten Kampfgefährten Hans Schumann und Richard Bernhard im Kreis meiner Familie und einiger alter Freundinnen samt deren Ehemännern in meinem frisch geerbten Haus in Köln. Schumann hatte mir immerhin per SMS gratuliert.

Schumann und Richard hatten mich beide gesichtet. Wenn ich mich nicht irrte, trieb es beiden Männern, die sich früher nie besonders grün gewesen waren, aber nun wie gute Bekannte wirkten, die Röte ins Gesicht. Schumann hob grüßend die rechte Hand und lächelte mich an, Richard dagegen warf mir einen eher finsteren Blick zu. Als ich wenig später ans Grab trat, war er bereits gegangen. Nachdem ich eine Rose auf den von Erde und Blumen schon fast gänzlich bedeckten Sarg geworfen hatte, strebte ich dem Ausgang des Friedhofs zu. Schumann wartete zwischen zwei marmornen Grabsteinen auf mich.

»Wie schön, dich endlich wiederzusehen, Anna«, rief er und küsste mich flüchtig auf beide Wangen. »Wie ist es dir ergangen? Ich habe oft an dich gedacht, aber irgendwie hat sich meine Arbeit in Hannover als zeitraubender und mühevoller erwiesen, als ich je geahnt hätte.«

Kürzlich war ein Porträt von ihm in der Zeitung veröffentlicht worden, in dem vor allem auf seine Erfolge bei der Aushebung eines Kinderpornorings und der Zerschlagung des norddeutschen Ablegers eines Drogenkartells hingewiesen wurde. Der gute Hans Schumann, der auf den ersten Blick etwas schüchtern und fast unbeholfen wirkte, hatte offenbar brillante Arbeit geleistet. Ich freute mich für ihn, war aber ein wenig melancholisch, da ich keinen Platz mehr in seinem Leben zu haben schien. Auch wenn ich meinen Abenteuern im Brester Moor, im Ith und im Kloster Warnstedt am Steinhuder Meer und in Dublin nicht wirklich hinterhertrauerte, so vermisste ich doch hie und da die damit verbundene Aufregung. Und meine Treffen mit Schumann, tja, und auch mit Richard. Derzeit verlief bei mir alles in recht durchschnittlichen Bahnen.

»Was treibst du denn bei dieser Beerdigung?«, sagte ich, ohne auf seine Frage nach meinem Wohlbefinden einzugehen.

Schumann hüstelte, bei ihm immer ein Zeichen von Verlegenheit. Wenigstens das hatte sich nicht verändert. Er blickte sich vorsichtig um. Da war er wieder, der alte Schumann, immer auf der Hut, ein wenig nervös und diskret bis zum Abwinken.

»Du kanntest ja Strate«, setzte er dann an. »Vor langer Zeit hast du mir erzählt, dass du bei ihm Kunstgeschichte studiert hast.«

Ich hatte längst vergessen, dass ich ihm davon berichtet hatte. Aber Schumann besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis.

»Nun, und ich habe zwei- oder dreimal Vorträge von ihm über unbekannte Künstler der Renaissance gehört«, fuhr er fort. »Die waren hervorragend. Obwohl ich von Kunst keine Ahnung habe. Dafür war meine Ex-Frau Dagmar zuständig. Aber er konnte toll und spannend erzählen. Ich erinnere mich an eine Geschichte von der Ermordung eines Palastwärters der Medici in Florenz. Er war vor einem kostbaren Bild niedergestochen worden, das dann gestohlen wurde, irgendwann um 1450 herum. Der oder die Täter wurden nie gefasst, und das Bild ist wohl auch nie wiederaufgetaucht. Es war irgendetwas mit einem Drachen.« Er lachte. »Ein klassischer Altfall. Die Menschen ändern sich wohl nie. Als ich von Strates Tod in der Zeitung las, habe ich spontan beschlossen, zur Beerdigung zu kommen und ihm meine Reverenz zu erweisen.«

Schumann mochte vieles sein, aber eines ganz gewiss nicht: ein guter Lügner. Deshalb schüttelte ich den Kopf und sagte: »Lass uns zusammen zum Empfang gehen. Dann kannst du mir die wahren Gründe für dein Kommen erzählen.«

Verwirrt sah er mich an. Dann lächelte er. »Meine liebe Miss Marple! Wie habe ich dich vermisst. Ja, ich komme gerne mit.«

Mir wurde warm ums Herz. Schumanns liebevolles Lächeln heiterte mich auf.

»Was ist eigentlich mit unserem Freund Richard?«, wagte ich zu fragen, als wir auf den Ausgang des Friedhofs zusteuerten.

Schumann stockte einen Moment, dann räusperte er sich. »Ich weiß, dass ihr euch nicht mehr seht. Das hat Richard mir vor einigen Monaten erzählt, als ich in seinem Geschäft nach einem Geschenk für meine Ex gesucht habe. Aber dass du gar nicht mehr weißt, was er macht und wie es ihm geht, überrascht mich doch. Er hat vor einem halben Jahr überlegt, ob er seinen Laden aufgeben soll. Aber jetzt will er ihn zumindest noch bis zur nächsten Mieterhöhung in drei Jahren behalten. Er arbeitet noch immer als Gutachter für diese Fernsehsendung, reist aber wohl ziemlich viel umher, um interessante Objekte für potenzielle Käufer zu finden, die ihm Sonderaufträge erteilen. Seine Kunstsprechstunde, die er vor einigen Jahren eingeführt hat, ist recht erfolgreich. Er berät, wie er mir sagte, an die zwanzig Leute pro Woche, die ihm ihre Dachboden- und Kellerfunde oder Erbstücke präsentieren. Also, Richard scheint gut aufgestellt zu sein. Aber vielleicht erzählt er dir das alles beim Empfang ja selbst.«

Als wir in dem Restaurant ankamen, wimmelte es von Menschen, darunter auch Fotografen und Presseleute. Am Eingang drückte mir eine adrett gekleidete Kellnerin ein Glas Sekt in die Hand, das ich aber gleich wieder abstellte. Alkohol war nicht so mein Ding, vor allem nicht am helllichten Tag. Suchend blickte ich mich um. Von Richard keine Spur. Stattdessen sah ich viele andere bekannte Gesichter. Als Erstes stieß ich auf zwei ehemalige Kommilitonen, die auch bei Strate studiert hatten. Markus Liebherr war inzwischen Kurator an einem Münchner Museum, Christian Bredehoff arbeitete für eine Kunstgalerie in Wien. Während des Studiums hatten wir manchmal zusammengesessen und uns über Strates Vorlesungen ausgetauscht, aber später nur noch von ferne unseren jeweiligen Werdegang verfolgt. Deshalb überraschte mich ihre herzliche Begrüßung. Liebherr, während seiner Studienzeit klapperdürr, hatte seitdem stark zugelegt. Ich erkannte ihn vor allem an seinen immer noch etwas ungelenken Bewegungen und seinen Augen wieder, von denen das eine braun, das andere grün war. Bredehoff, der Mädchenschwarm unseres Studienganges, sah dagegen blendend aus. Mit seinen grau melierten Haaren und seiner schlanken Figur erinnerte er an einen Filmschauspieler. Man merkte ihm seine dreiundfünfzig Jahre nicht an. Auch jetzt versprühte er den Charme, der ihn vor dreißig Jahren zum begehrtesten Date unseres Studiengangs gemacht hatte.

»Mein Gott, Anna, du bist ja eine Medienberühmtheit geworden!«, tönte Liebherr.

Bredehoff grinste und fügte hinzu: »Und beruflich bist du ja auch nicht schlecht unterwegs. Wer hätte das damals gedacht! Die immer etwas verträumte Anna, die für längst verblichene Künstler schwärmte.«

Beide Männer lachten laut, und ich errötete. Das alles lag mehr als dreißig Jahre zurück, aber auf einmal fühlte ich mich wieder wie die etwas linkische Studentin, die vor Stolz glühte, als Strate ihre Seminararbeit über Giorgio Vasari in höchsten Tönen pries.

Bei unserem Small Talk kamen wir von Hölzchen auf Stöckchen. Vor allem Christian Bredehoff, schon immer ein charmanter Unterhalter, erzählte mit großer Begeisterung von seinem Leben in Wien. Allerdings ließ er sein Privatleben dabei außen vor. Ich fragte mich insgeheim, wie oft er inzwischen geschieden und neu verheiratet war, zügelte aber meine Neugierde und erkundigte mich stattdessen nach den kommenden Ausstellungen und Neuerwerbungen für sein Haus. Liebherr hielt sich ein wenig zurück, hatte aber auch ein paar Anekdoten auf Lager, die sich vor allem um schwierige zeitgenössische Künstler und ihre oft noch anstrengenderen Agenten drehten.

»Eine gute Ausstellung auf die Beine zu stellen ähnelt den Arbeiten des Herakles«, seufzte er. Er schloss seine Ausführungen mit einer Bemerkung, die einige meiner eigenen Überlegungen widerspiegelte: »Schön wäre es, wenn der gute alte Strate ein paar seiner Bilder unserem Museum vermacht hätte. Denn wer soll jetzt seine Sammlung übernehmen?«

Als ich mich endlich von den beiden redseligen Herren gelöst hatte, stieß ich im Gedränge ausgerechnet auf den Mann, den ich in meinem Privatleben meist mied: Harald Frostauer, seines Zeichens Historiker mit Spezialkenntnissen zur Landesgeschichte Niedersachsens und Besserwisser. Auch ihn hatte ich länger nicht mehr gesehen. Er hatte eine gewisse Rolle in meinen früheren Abenteuern gespielt, aber meistens war ich auf der Flucht vor ihm gewesen. Ich wusste, dass er wieder einmal an einem Buch schrieb und wahrscheinlich schon das nächste und übernächste Werk plante. Da war er schier unermüdlich. Und er verfasste Artikel für alle möglichen historischen und kunsthistorischen Magazine. Viel beschäftigt, immer unterwegs und, wie ich sofort zu spüren bekam, immer noch eine Nervensäge.

»Anna!«, flötete er und verströmte einen Duft von starkem Aftershave gemischt mit Sekt. »Wie wunderbar, dich zu treffen, selbst wenn der Anlass traurig ist. Ich wollte dich so oft anrufen oder dir schreiben, vor allem letztes Jahr zu deinem Geburtstag!«

Ich nickte nur. Schon fuhr er fort: »Ich habe gehört, du hast ein Haus in Köln geerbt und bist gar nicht mehr so oft in Hannover. Und jetzt auch noch dieses Engagement für Braunschweig! Und keine neuen Mordfälle?« Er kicherte.

Ehe ich antworten konnte, spürte ich eine Hand auf meinem Rücken. Ich drehte mich um. Richard stand vor mir. Mich überflutete ein Gefühl von Freude gepaart mit Ablehnung, sehr seltsam. Er sah mich eher kühl an und sagte: »Ich habe dich schon auf dem Friedhof entdeckt. Ich muss mit dir reden. Entschuldigung, Harald, aber ich entführe Anna für einige Minuten.«

Energisch steuerte er mit mir eine Ecke des Restaurants an, in der einige Tische aufgebaut waren. »So«, sagte er, als wir uns setzten, »jetzt erzähl mir bitte, was Schumann dir vorhin verraten hat.«

Ich starrte Richard an. Was für ein sonderbares Wiedersehen. Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen. Das Blut dröhnte in meinen Ohren, und mir wurde schwindelig vor Enttäuschung und Wut. »Was soll das?«, fauchte ich. »Du meldest dich nie bei mir, und dann diese blöde Frage?«

Richard lächelte plötzlich. Für einen Augenblick sah ich wieder den charmanten Taugenichts vor mir, den ich vor fünf Jahren in dem kleinen Ort Bresterholz erstmals getroffen hatte. Dann aber wurde er wieder ernst und sagte: »Es geht um eine wichtige Sache. Um Klas Strate und seine Kunstsammlung. Und falls Schumann es dir noch nicht gesagt hat, dann erzähl ich es dir. Es scheint, dass der alte Herr ermordet wurde. Warum, glaubst du, war dein Kommissar heute auf der Beerdigung?« Er blickte mich mit einem leicht spöttischen Blick an.

Meine erste Reaktion war: »Das darf doch nicht wahr sein. Nicht schon wieder ein Mord in meinem Umfeld!«

Als ich in diesem Moment Schumann auf uns zukommen sah, ahnte ich, dass meine Zeit der Ruhe vorbei war.

Der Meister und der Mörder

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