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Der Brief

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Hannover, den 22. April 2022

Liebe Anna!

Gerne erinnere ich mich an Sie als meine Studentin, auch wenn das nun schon viele Jahre zurückliegt. Ihr Interesse an den italienischen Malern des 15., 16. und 17. Jahrhunderts war damals erstaunlich, wobei ich weiß, dass Sie sich auch für die Niederländer begeistert haben, über die mein Kollege Frederick Hogstraat berichtete, und für die englische Malerei im 18. Jahrhundert. Vor allem Gainsborough hatte es Ihnen angetan. Mit Spannung habe ich Ihren Werdegang verfolgt, vor allem natürlich Ihre Abenteuer vor einigen Jahren im Brester Moor, im Ith und im Kloster Warnstedt, dem ich übrigens vor zwei Jahren einen Teil meiner Sammlung spätmittelalterlicher illuminierter Bücher vermacht habe. Die neue Bibliothek dort am Steinhuder Meer ist großartig. Der neue Bibliothekar Hanno Lübbertz, der Alfons Gremitzer nachgefolgt ist, ist sehr dankbar gewesen, ist dies doch eine späte Entschädigung für jene Bücher, die vor einigen Jahren gestohlen und zerstört wurden. Sie kennen ja den Fall aus eigener Anschauung.

Aber nun zur Sache: Sie haben mich um weitere Details zu den vier Bildern gebeten, die ich als Leihgabe für die im kommenden Jahr geplante Ausstellung »Schätze aus privater Hand – Meisterwerke in neuem Licht« im Braunschweiger Museum Herzog Anton Ulrich zur Verfügung stellen werde.

Soviel ich weiß, sollen insgesamt einhundertzweiundzwanzig Bilder und einige kleinere Bildhauerarbeiten aus dem Besitz privater Sammler in dieser Ausstellung gezeigt werden. Ein großes und wichtiges Unterfangen, das ein Spiegelbild der vielen prächtigen Sammlungen im Land sein wird. Vor Kurzem war ein Versicherungsagent im Auftrag des Museums bei mir, und wir haben auch diese Dinge geregelt. Meine Bilder, von denen sich viele seit fast hundert Jahren im Besitz der Familie Strate befinden, sind nicht alle erste Kategorie, aber doch recht schöne Beispiele für flämische und italienische Malerei um 1600, darunter das Blumenstillleben von Nicolaes van Verendael aus dem Jahr 1681, das ich dem Museum gerne als Leihgabe überlasse. Einzelheiten zu diesen Bildern für den Katalog, an dem Sie derzeit arbeiten, schicke ich Ihnen bald zu. Bitte gedulden Sie sich noch ein Weilchen.

In diesem Brief nun geht es mir um ein Gemälde mit einer italienischen Landschaft, das nach meinem bisherigen Wissen von einem weitgehend unbekannten toskanischen Maler aus dem späten 15. Jahrhundert namens Giovanni dell’Ombra, genannt Gianni Il Biondo, stammt. Nicht einmal bei Giorgio Vasari wird er erwähnt; er war wohl auch schon zu seiner Zeit ein Außenseiter und Einzelgänger, der im Auftrag der Medici malte und dessen Bilder nur in deren Palästen hingen. Er lebte zur selben Zeit wie Paolo Uccello und der Bildhauer Lorenzo Ghiberti, über den Sie ja damals eine Seminararbeit verfasst haben. Die meisten von Gianni Il Biondos Werken wurden leider bei einem Brand zerstört. Einige überlebten diese Katastrophe, drei von ihnen gelangten nachweislich im 16. und frühen 17. Jahrhundert nach England. Spezialisiert war Il Biondo auf toskanische Landschaften und die Darstellung von Heiligen, vor allem Märtyrern. Seine Werke galten schon damals eher als zweite Wahl im Vergleich mit Perugino oder Raffael. Aber da es nur noch sehr wenige von Biondos Bildern gibt, werden sie durchaus recht teuer gehandelt. Auffallend ist immer die Signatur auf seinen Bildern, die zwei sehr eng verschlungenen Buchstaben G und B.

Da es weltweit nur noch zehn Bilder des wohl um 1499 verstorbenen Künstlers geben soll, scheint dieses Bild aus meinem Besitz dann doch recht wertvoll zu sein. Das Gemälde hängt schon lange in unserem Haus in Hannover. Ich habe es nie wirklich wahrgenommen und weiß auch nicht, wann genau es in unseren Besitz gekommen ist. Mein Großvater und auch mein Vater haben, wie Sie wissen, insbesondere zwischen 1910 und 1930 Kunst gesammelt. In einem dicken Band mit Dokumenten in unserer Bibliothek haben diese beiden begeisterten Sammler die Provenienz ihrer Errungenschaften genau vermerkt. Laut diesen Dokumenten hat mein Vater 1930 als Letztes einen Antonio Maestroso erworben, einen Künstler aus dem Umfeld von Perugino. Ein kleines Bild einer mir unbekannten Heiligen. Wahrscheinlich wurde der Il Biondo um dieselbe Zeit erstanden. Nach 1930 hat mein Vater, der häufig bei der Berliner Galerie Rieper Bilder erwarb, wohl keine Werke mehr gekauft. Ich selbst habe in den vergangenen Jahrzehnten unsere Sammlung nur noch durch einige kleine holländische Stillleben und Landschaftsbilder erweitern können. Keine weiteren Italiener mehr, leider.

Langsam werden Sie sich fragen, warum ich all das erwähne, liebe Anna. Ich komme zum Punkt. Als ich den Biondo von der Wand nahm und abstaubte – meine treue Haushilfe Ernestine wagt sich nicht an die alten Meister –, fiel mir auf, dass die Farbe an den Ecken irgendwie verschwommen beziehungsweise wie abgeschabt aussah. Das machte mich zunächst nicht stutzig. Als ich dann aber entdeckte, dass am Rahmen, der übrigens sehr alt ist, kleinere Risse zu sehen sind, die auf eine manuelle Manipulation hindeuten, wurde ich aufmerksam. Gerne würde ich Ihre Meinung dazu erfahren und mit Ihnen zusammen das Bild näher studieren. Es steht zwar schon für den Transport nach Braunschweig bereit, aber wenn Sie meine Unsicherheit in Bezug auf das Gemälde teilen, müsste es noch einmal gründlicher betrachtet werden. Bitte melden Sie sich möglichst bald.

Alle vier ausgewählten Gemälde stehen inzwischen bei mir im Flur. Sie sollen demnächst abgeholt werden. Den Biondo werde ich aber heute im Laufe des Tages noch einmal zurückstellen. Bei unserem Treffen möchte ich Ihnen einige Dokumente übergeben, die viele Jahre unbeachtet in unserem Safe lagen. Ich habe nie sonderlich darauf geachtet, aber vor einigen Wochen habe ich sie hervorgeholt und zum ersten Mal genauer angesehen. Diese Dokumente sind eine Art Chronik der wechselvollen Geschichte des Bildes und könnten helfen, ein Licht auf meine Entdeckung zu werfen. Mein Vater hatte sie wohl beim Kauf des Biondo als Beigabe erhalten, aber sicherlich nie wirklich studiert. Die meisten Texte sind auf Englisch, einer Sprache, die mein Vater nicht beherrschte. Ich selbst habe bisher nur einige Ausschnitte gelesen, bräuchte aber Ihre Hilfe für ein besseres Verständnis. Denn auch mein Englisch ist nicht mehr das beste. Ich erhoffe Ihren baldigen Anruf und freue mich auf unser Wiedersehen.

In alter Verbundenheit

Klas Strate

Der alte Mann las den mit der Hand geschriebenen Text an Anna Bentorp noch einmal durch, nickte zufrieden, steckte den Brief in einen Umschlag, den er frankierte und auf seinem Schreibtisch unter ein altmodisches dekoratives Tintenfass schob. Aber dann beschloss er, den Brief doch lieber gleich selbst zum Briefkasten an der nächsten Straßenkreuzung zu bringen. Jeden Morgen unternahm er einen kleinen Spaziergang, der immer im Bistro in der Nachbarstraße mit einem Cappuccino endete. Der Gang zum Briefkasten musste heute als Spaziergang genügen. Auf den Cappuccino würde er ausnahmsweise verzichten.

Nur zehn Minuten später saß er wieder an seinem Schreibtisch. Er war unruhig. Die Dokumente, die er Anna schicken wollte, musste er suchen. Er wusste nicht mehr genau, wo er sie hingelegt hatte. Im Safe waren sie nicht. Da hatte er sie herausgenommen. Doch seine Augen ermüdeten rasch, und obgleich er ein Jahr in Cambridge studiert hatte, war sein Englisch inzwischen völlig eingerostet. Anna würde damit keine Probleme haben.

Er öffnete die Schubladen seines Schreibtischs. Mein Gott, was für ein Durcheinander! Ernestine musste ihm beim Aufräumen und Sortieren helfen. Wo blieb sie eigentlich, seine immer überpünktliche Haushilfe?

Er hatte doch die Mappe in eine dieser Schubladen gelegt. In welche? Ungeduldig kramte er weiter. »Ich werde alt«, schimpfte er vor sich hin. Doch gerade als er frustriert aufstehen und nachschauen wollte, ob Ernestine nicht inzwischen das Haus betreten hatte, ohne dass er es gemerkt hatte, fiel ihm ein, wo er die Mappe mit den Unterlagen hingelegt hatte. Er atmete erleichtert auf.

In diesem Moment hörte er, wie die Haustür geöffnet wurde. Das musste Ernestine sein, die seit fast drei Jahrzehnten für ihn arbeitete. Allerdings antwortete sie nicht wie gewohnt auf sein: »Guten Morgen, Ernestine!«

Wahrscheinlich wird sie allmählich taub, dachte er und wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu. Als er ein leises Geräusch vor seiner Tür vernahm, drehte er sich leicht enerviert um und sah, wie die Tür seines Arbeitszimmers aufging. Er runzelte die Stirn. Ernestine hätte es nie gewagt, unangemeldet einzutreten. Sie klopfte immer erst an, ehe sie in sein Heiligtum kam. Schon wollte er mit einer unwilligen Bemerkung auf diese Störung reagieren, doch dazu kam er nicht mehr.

Als Ernestine Wiegand das Haus im hannoverschen Vorort Kirchrode betrat, wunderte sie sich über die absolute Stille. Sie hatte sich heute ausnahmsweise verspätet, da ein Bus ausgefallen war. Hoffentlich würde ihr strenger Arbeitgeber nicht allzu pikiert sein. Ernestine hatte sich ihre Entschuldigung zurechtgelegt, als ihr auffiel, dass nicht wie üblich gedämpfte klassische Musik aus dem alten Radio im Arbeitszimmer erklang. Vielleicht war Professor Strate ja zu seinem Morgenspaziergang aufgebrochen und hatte ihre Verspätung deshalb gar nicht bemerkt. Doch in der Garderobe hing noch sein heller Regenmantel, den er stets um diese Jahreszeit trug, wenn er das Haus verließ. In der Küche entdeckte sie eine benutzte Kaffeetasse und in der Spüle einen Teller. Ernestine beschloss, erst einmal im oberen Stock Ordnung zu machen.

In seinem Schlafzimmer, das sie jeden Tag aufräumte, herrschte das übliche Chaos. Sein hellblauer Schlafanzug in der einen Ecke, sein karierter Morgenmantel in der anderen, auf dem Nachttisch mehrere Bücher über Kunstepochen und Künstlerbiografien, Magazine und Zeitungen, dazwischen Schachteln mit seinen Pillen gegen Bluthochdruck und Erkältung.

Strate war offenbar schon längst aufgestanden. Das Handtuch in seinem Badezimmer, das er achtlos auf die schwarz-weißen Kacheln geworfen hatte, war schon fast trocken. Seufzend ging Ernestine die breite Holztreppe wieder hinunter. Im Treppenhaus hingen Stiche und Lithografien diverser Künstler, die ihr aber alle nichts sagten. Und sie auch nicht interessierten. Und erst einmal all diese Ölschinken im unteren Stock. Zum Teil düster und erschreckend – mit wenigen Ausnahmen. Sie mochte diesen Italiener mit dem seltsamen Namen, der so hübsche Bäume gemalt hatte und der demnächst in einem Museum in Braunschweig ausgestellt werden sollte. Wahrscheinlich saß der Professor schon an seinem Schreibtisch. Jeden Tag verbrachte er dort mindestens sechs Stunden. In seinem Heiligtum, wie er es zwar ironisch nannte, aber letztlich ernst meinte.

Zögernd klopfte sie an die Tür des Arbeitszimmers. Als keine Antwort kam, öffnete sie die Tür einen Spalt und spähte hindurch. Zuerst traute sie ihren Augen nicht. Deshalb schob sie sich vorsichtig ins Zimmer und erstarrte. Klas Strate lag neben seinem Schreibtisch reglos auf dem Boden. Seine Augen blickten ins Leere. Um ihn herum lagen zahlreiche lose Blätter. Ernestines entsetzter Schrei zerriss die unnatürliche Stille des Hauses.

Der Meister und der Mörder

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