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6Shira Wir wissen zu viel und zu wenig
ОглавлениеZwei Tage vor ihrem siebzehnten Geburtstag sagte ihr das Haus, es sei eine versiegelte Nachricht für sie da – kodiert und nur ihr zugänglich. Es war der Bezirkserziehungsausschuss, der die Ergebnisse ihrer Versteigerung bekannt gab. Schüler, die die Große Prüfung innerhalb der obersten zwei Prozent bestanden, wurden von Universitäten ersteigert. Vierzehn Hochschulen hatten für sie geboten. Sofort strich sie die heraus, die sie auf keinen Fall besuchen wollte, ganz egal, wie viel sie ihr zahlten. Dann druckte sie die Liste aus und sprang auf, um Gadi zu suchen. Er musste auch seine Ergebnisse bekommen haben. Die allgemeinen Zulassungen gingen zur gleichen Zeit heraus wie die Versteigerungsergebnisse. Sie mussten ihre Auswahl aufeinander abstimmen.
Er hatte ihr gesagt, er müsse Avram helfen. Seit sie zufällig in das Experiment mit dem ersten Cyborg hineingestolpert waren, Alef, das sich als gewalttätig erwiesen hatte, traute Avram ihnen zu, dass sie seine Geheimnisse für sich behielten, und rief sie, wenn er Hilfe brauchte. Bet war die Cyborg-Entsprechung eines Autisten und war auseinandergenommen worden. Gimel verrichtete Arbeiten im Labor, aber Avram fand seine Intelligenz mangelhaft.
Sie identifizierte sich an der neu verstärkten Labortür, die sie Avram ankündigte und dann, offensichtlich auf seinen Befehl hin, einließ. Sie sah Gimel auf einem Laborhocker sitzen, kerzengerade. Wäre es ein richtiger Mensch gewesen, hätte sie gesagt, es habe einen Besenstiel im Hintern, wie ihr Portugiesischlehrer. Gimel hatte die gleichen angenehmen, freundlichen Züge, die zuvor Bet und Alef getragen hatten. Bisher hatte Avram Gimel nicht zerstören müssen. Es schien fügsam, die Cyborg-Entsprechung von langsam. »Ich habe die Verbindungen im rechten Kniegelenk fertiggestellt«, sagte es in einer tiefen Männerstimme, die ausdrucksloser war als die Stimme ihres Hauses. »Na dann verbinde das linke Gelenk«, schnauzte Avram. Sie wartete darauf, dass Avram von der Armschale aufblickte, in die er ein Netzwerk von Sensoren einbaute. Sie hütete sich, ihn zu unterbrechen. Sie wünschte sich einen Augenblick, er würde sie auffordern, an dem Knie mit Gimel zu arbeiten oder an dem Arm mit ihm. Sie mochte die Laborarbeit. In der Schule hatte sie dieses Jahr einen Robotertaucher gebaut. Gadi hasste es, eng mit Avram zusammenzuarbeiten, aber sie hatte es sogar gern, wenn Avram ihre Mithilfe befahl.
Schließlich wandte sich Avram zu ihr um. Seine Augen hefteten sich auf ihre Schuljacke. »Kleine Shira«, sagte er und lächelte. »Falls du Gadi suchst, er ist oben. Wie erträgst du nur meinen anspruchsvollen Sohn?«
»Gadi ist … wundervoll, Sir. Er ist gescheit und –«
»Wenn er gescheit ist, warum zeigt er das nicht in der Schule, wo es zählt? Die Ergebnisse sind doch heute herausgekommen, nicht? Wie viele Universitäten bieten für dich?«
Sie zeigte ihm die Liste. »Gutes Mädchen. Wärst du doch meine Tochter, Shira! Malkah platzt vor Stolz, wenn sie über dich redet.«
»Echt?« Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Malkah so viel Aufhebens machte.
Sie dankte ihm und lief hinaus, mit Gimel im Gefolge, das hinter ihr die Tür sicherte. Gadi war wohl oben und lernte. Avram war schon seit langem dahintergekommen, dass Gadi und sie die alten Dienstbotenschlafkammern benutzten, doch Shira spürte eine unausgesprochene Übereinkunft. Avram würde so tun, als wüsste er nicht, was sie trieben, und sie würden niemals zu irgendjemand etwas sagen von seiner illegalen Arbeit mit Cyborgs in Menschengestalt. Avram war ein Mann, der immer in Eile war, ein Getriebener, aber sie hatte gemerkt, dass er sie inzwischen mochte. Vielleicht meinte er, sie sei ein ausgleichender Einfluss auf Gadi. Hoffentlich war sie das.
Sie stieg hinauf, und ihre Schritte verlangsamten sich immer mehr. Sie hoffte, sie betete, während sie die Treppen emporschlich, dass wenigstens eine Universität für Gadi geboten (oder ihn wenigstens zugelassen) hatte, die für sie auch in Frage kam. Er hatte sich nicht wie sie vorbereitet. Er stritt sich ständig mit Avram. Seit Saras Tod verfiel das Haus. Natürlich nahmen sie die meisten Mahlzeiten in der Allmende-Kantine ein und ein Reinigungsroboter, der wie eine Kreuzung aus einem Dackel und einem altmodischen Staubsauger aussah, hielt das Haus benutzbar, aber ihre Wohnung wirkte wie ein instand gehaltener, doch unpersönlicher öffentlicher Ort, ein Hotel oder eine Herberge. Über Saras sterbenden Körper hinweg hatten Vater und Sohn Haltungen gegenseitiger Schuldzuweisung eingenommen; jetzt, ein Jahr später, konnten sie von ihren Angriffs- und Verteidigungsposen nicht ablassen, nur weil der Vorwand begraben war. Das Haus war merkwürdig, eine Art Museum für antikes Spielzeug, das Avram seit neuestem sammelte. Maschinen schluckten altmodische Münzen, man stieß eine Kugel durch ein blinkendes Labyrinth; in Spielen, die man in der Hand hielt, glitten winzige Silberkügelchen über Löcher in gezeichneten Gesichtern und Landschaften. Kleine Stückchen ließen sich zu Gemälden zusammensetzen. Es war, als hätte Saras Tod Avram freigegeben für eine zweite, gesetzte Kindheit der Spiele.
Gadi war ruhelos, gereizt. Gelangweilt. Er wickelte die Lehrerinnen um den Finger und kam recht gut aus mit einigen der jüngeren Männer, aber mit den älteren Lehrern stand er auf dem Kriegsfuß, in ihnen sah er Ebenbilder von Avram. Sie kannte ihn so gut, wie sie ihren eigenen Körper kannte, ihr eigenes Zimmer mit der Kletterrose um das Fenster, aber das hieß nicht, dass sie ihm helfen konnte. Sie schwebte den Flur entlang in einem Nebel der Ungewissheit, in der linken Hand hielt sie die Hochschulliste. Die Stille des Hotels, ihre alte Gewohnheit, hier oben leise und verschwiegen zu sein, hielt sie davon ab, seinen Namen zu rufen.
Dann hörte sie seine Stimme aus ihrem blauen Zimmer. Warum redete er mit sich selbst? Er lernte wohl: gut. Er hatte Schwierigkeiten mit Fremdsprachen, denn er hasste es, sich wie ein Kind zu fühlen, unfähig, sich auszudrücken. Vielleicht lernte er Chinesisch oder Portugiesisch, denn er brauchte in beidem eine gute Note. Wahrscheinlicher war, dass er am Computer arbeitete. Im Design-Unterricht hatte er strahlende luftige Brücken aus dünnem Metall entworfen, Spinnweben aus Licht und Raum. Er stahl die Zeit von anderen Fächern, um daran zu arbeiten. Sie konnte ihm kaum einen Vorwurf machen. Sie waren schön. Sie beruhigten den Geist zu Kontemplation.
An der Tür klopfte sie sacht, diese leichte Berührung, die sie beide füreinander benutzten, dann öffnete sie sofort. »Gadi?« Zwei Schritte im Raum blieb sie stehen und starrte. Einen Augenblick lang fühlte sie überhaupt nichts, denn sie glaubte einfach nicht, was sie sah. Es war unmöglich. Es war nicht einmal Stoff aus einem Alptraum, denn diese Szene hatte sie sich in ihrer Phantasie nie vorgestellt.
Gadi war nackt auf dem Feldbett, auf dem sie viele hundert Mal gelegen hatten, aber mit ihm verschlungen war ein anderer Körper anstelle des ihren, den sie fast dort zu sehen erwartete, denn bei Gadi musste Shira sein. Nein, das nackte Mädchen, das unter ihm ausgestreckt lag, war Hannah, die einen scharfen Schrei ausstieß wie ein Tuch, das reißt, und dann tat sie, was sie immer tat, sie kicherte.
Gadi … Gadi starrte sie wütend an. »Spionierst du mir nach?«
Sie konnte nicht sprechen. Ihre Kehle schnürte sich zu. Sie konnte nicht aufschreien oder Luft holen. Stattdessen stolperte sie den Flur entlang, taumelte gegen Wände, die Treppe hinunter wie eine fallende Schachtel, rutschte und glitt, zerbrach in Stücke. Sie musste so viel Lärm gemacht haben, dass Avram sie gehört hatte, denn er stand unten im Treppenhaus. »Leise«, sagte er und packte sie hart am Arm. »Mit wem ist er da oben?«
»Hannah Leibling«, würgte sie heraus und riss sich von ihm los.
»Ich dulde niemand anders da oben«, sagte Avram und stieß die Hände in die Taschen seines Kittels. Er schien sie trösten zu wollen. »Ich werde sie für dich hinauswerfen, kleine Shira.« Da begann sie zu weinen, die Tränen erstickten sie. »Geh du an eine gute Universität und vergiss meinen nichtsnutzigen Sohn. Er ist deine Anhänglichkeit nicht wert, Shira. Die besten Universitäten sind in Europa. Geh und genieße.«
Sie schluchzte zu heftig, um zu atmen. Sie konnte nicht ertragen, dass jemand sie sah. Sie rannte an ihm vorbei die Treppe hinunter auf die Straße.
Avram rief ihr nach, seine Stimme war scharf vor Besorgnis: »Shira, sei ruhig! Sei ruhig! Das bedeutet ihm nichts.«
Sie rannte zu dem Schuppen, wo sie ihre alten Schutzhäute aufbewahrten. Sie streifte ihre über und machte sich auf den Weg in die Ödnis. Sie ging nicht weit. Sie kletterte auf eine Düne und fiel in den warmen Sand. Auf der einen Seite erstreckte sich die weite, flache Bucht, die Ruinen der zerstörten Stadt lugten aus den Wellenstrudeln. Nach Süden konnte sie über die automatische Entsalzungsanlage hinweg aufs Meer schauen. Der Kühler in ihrer Schutzhaut summte. Sie konnte die kleine rote Zeile in der Ecke ihrer Gesichtsplatte lesen, die ihr die Temperatur anzeigte. Es waren achtundzwanzig Grad Celsius, ein schwacher Backofen, ein typischer später Maitag in Neuengland.
Sie dachte, vielleicht war sie gestorben, denn eine tiefe Starre überkam sie. Aber es war nur das Tal der Schmerzwoge, die einen Augenblick später über ihr zusammenschlug. Sie wusste nicht, was mit sich anfangen. Sie fühlte sich wie ein zerfetztes Ding, ein Kaninchen, das in einen Ventilator gerannt war.
Wie konnte Gadi mit dieser ordinären Ziege schlafen? Sie hatten Hannah immer ausgelacht. Hannah hatte Gadi seit Jahren schöne Augen gemacht. Shira konnte ihr lautes Kichern hören, ein Gegluckse wie Wasser, das in einem Rohr abfließt. Wie konnte Gadi nur? Sie wollte Zorn auf ihn spüren, aber der Schmerz verdrängte ihn völlig.
Sie würde ihre Schutzhaut ausziehen und sich der mörderischen Sonne aussetzen, deren Strahlung sie umbringen würde. Sie würde sterben, und Gadi würde verstehen, wie sehr sie ihn geliebt hatte und wie sehr sein Treubruch sie verletzt hatte. Sie sah sich selbst voller Frieden auf einem Brett liegen. Sie sah den schlichten Steinhaufen auf ihrem Grab. Gadi würde dorthin kommen, um zu trauern.
Das war ein langsamer Tod, Hitze und Austrocknung. Strahlung brauchte Monate, um zu töten. Sie würde ihren Anzug nicht ausziehen, ganz egal, wie sehr ihr nach Sterben war. Malkah hatte sie zu nüchtern erzogen. Außerdem konnte sie die Vorstellung nicht ertragen, was Hannah den anderen Mädchen erzählte: Ach weißt du, ich fühle mich ganz schrecklich. Shira hat sich wegen Gadi und mir umgebracht. Er konnte einfach nicht von mir lassen und das arme Mädel hat sich vor Eifersucht verzehrt. Shira krabbelte auf die Knie, dann stand sie auf. Eifersucht war hässlich, peinlich, abscheulich. Sie stolperte zurück. Die Schutzhülle glitzerte wie falsche Hoffnung, die über der Stadt schwebte.
Sie ging nach Hause. Als sie zur Tür sprach, wusste sie nicht, wie sie dorthin gelangt war. Hermes lag im Innenhof und sonnte sich – die Sonne, die durch die Hülle drang, war gefiltert, sicher, warm, aber nicht sengend. Er war jetzt in mittleren Jahren, zwölf, und so massig wie immer, nicht fett, sondern kräftig, ernsthafter und gelassener als früher. Sie warf sich neben ihn auf die warmen Fliesen, begrub ihr Gesicht in seinem heißen braunen Fell und weinte hemmungslos.
»Leidest du Schmerzen, Shira?«, fragte das Haus sanft. »Soll ich Malkah rufen? Brauchst du Hilfe?«
»Ich will in Ruhe gelassen werden!«
»Erzähle es mir. Du weißt, ich bewahre deine Geheimnisse. Was fehlt dir?« Das Haus wusste zu erweichen. Früher war es ihre zweite Mutter. Hielt es wirklich Geheimnisse vor Malkah zurück, die es programmiert hatte?
»Lass mich bloß in Ruhe!«
Sie hörte Malkah nicht kommen und bemerkte sie erst, als sie neben ihr hockte und sehr leise sagte: »Ich mache schav, Kleines. Manchmal kann etwas so Saures helfen.«
Für einen Augenblick bohrte in ihr der Verdacht, dass Malkah wusste, dass jeder wusste; dann gewann ihre Nüchternheit, und ihr wurde klar, dass ihre Stellung ihren Zustand verriet. »Ich habe keinen Hunger.«
»Dann iss mir zu Gefallen. Ein bisschen Suppe, wie hungrig musst du dafür sein?«
Sie spürte, wie unwürdig das war, wie sie da mit dem Gesicht nach unten auf den Fliesen lag, und setzte sich auf. Malkah nannte sie »Kleines«, war aber gleich groß, nur ein paar Pfund fleischiger. Sie hatten das gleiche dunkle Haar, schwarz im Lampenlicht, mit Rottönen in der Sonne; die gleichen großen, sehr dunklen Augen, riesig in ihren herzförmigen Gesichtern; aber Malkah war natürlich eine alte Frau, einundsechzig Jahre alt. Sie trug ihr dunkles Haar in einem Zopf um den Kopf geflochten und oben festgehalten mit einer silbernen Spange in Form eines Delfins. Ein Rettungstaucher hatte sie ihr geschenkt. Erst vor kurzem war Shira eingefallen, dass er damals wahrscheinlich ihr Liebhaber war. Shira war zu der Zeit zu jung, um es zu verstehen, neun, zehn, elf; und Malkah war diskret. Kein Mann hatte je in diesem Haus gewohnt. Malkah hatte nie geheiratet. Wenn du heiratetest und ein Mann tat dir weh, so erkannte Shira, dann hattest du keinen Ort, an den du dich flüchten konntest, keinen Ort, an dem du dich verstecken und deinen Schmerz verheilen lassen konntest.
Malkah gab ihr ein großes Taschentuch. »Ich muss nach meiner Suppe sehen. Hast du deinen Freund da gefüttert?«
»Noch nicht.« Sie hatte es vergessen, und Hermes hatte sie nicht daran erinnert. Jetzt stand er auf, streckte und reckte sich, machte sich auf den Weg zur Küche und schaute sich erwartungsvoll nach ihr um.
Sie wischte sich das Gesicht ab. Wie konnte sie mit so viel Schmerz leben? Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie weitermachen sollte.
Sie aß die Suppe doch. Malkah hatte recht: Sie besänftigte auf kleine Weise. Sie war froh, dass Malkah heute Abend gekocht hatte. An den meisten Abenden holte eine von ihnen die Mahlzeit aus der Allmende-Kantine; manchmal aßen sie dort mit der halben Stadt. An anderen Abenden kochte Malkah, und hin und wieder ließ sie Shira durch das Haus bitten, abends zu kochen. Malkah tat das manchmal, wenn sie wusste, dass Gadi zum Abendessen kam. Ein anderer Teil von Shiras Leben, der nun brachlag, so zerstört wie die weiten Flächen toter Bäume, die einmal Ahornbäume waren, vor dem sauren Regen, bevor das Klima zu warm für sie wurde. Würde ihn jetzt Hannah zum Abendessen nach Hause mitnehmen? Wie kam er nur auf Hannah?
»Sind heute nicht deine Versteigerungsergebnisse gekommen?«
»Oh.« Shira blinzelte. »Was habe ich bloß damit gemacht? Ich hatte sie dabei, als ich … ich hole sie. Ich habe sie im Hof fallen lassen.« Sie stand vom Tisch auf und lief den Ausdruck suchen.
Malkah nahm ihn ihr aus der Hand, überflog ihn. »Offensichtlich war es nicht das, was dich so erschüttert hat.«
Shira schaute in ihre leere Suppenschüssel. »Mir geht’s wieder gut.«
»Dein junger Mann also.«
»Er ist nicht meiner. Nicht mehr.«
»Shira, ihr seid zu jung, um euer Lebtag zusammengeschweißt zu bleiben. Du hast nie auf mich gehört, wenn es um Gadi ging, und du wirst jetzt nicht damit anfangen, ich weiß. Ich konnte dich nicht davon abhalten. Niemand kann verliebte Kinder davon abhalten, nur räumliche Trennung. Aber du wirst nie erwachsen werden, wenn ihr einander nicht loslasst.«
»Ich will nicht darüber reden.« Shira stand auf. »Ich räume jetzt den Tisch ab, wenn du mit Essen fertig bist.«
»Trotzdem, irgendwann müssen wir reden.« Malkah fixierte sie mit ihrem dunklen Blick, einem Strahl aus Energie und Willenskraft. »Wir müssen auch über die Versteigerung entscheiden.«
»Was kümmert mich das noch?«
»Gadi wäre nie in die gleichen Universitäten gelangt, die sich um dich reißen, Shira. Du wirst dafür bezahlt, dass du hingehst. Avram wird für ihn bezahlen müssen.«
»Er ist gescheit! Er ist genauso klug wie ich.«
»Aber fauler. Und verzettelt.«
»Aber er ist begabter als wir alle … Nein, ich will ihn nicht mehr verteidigen, ich will ihn nicht erklären. Ich hasse ihn!« Shira begann abzuräumen.
»Du liebst zu heftig. Das besetzt die Mitte und zwängt deine Stärke hinaus. Wenn du in deiner Mitte arbeitest und am Rand liebst, wirst du am Ende besser lieben, Shira. Du wirst großzügiger geben ohne aufzurechnen, und was du bekommst, wirst du genießen.«
Malkah wusste nicht, was Liebe war. Shira weigerte sich, weiter darüber zu reden.
Nach dem Abendessen saßen beide schweigend im letzten Ebenholzzwielicht des Hofes. Malkah war im Netz, hatte sich eingestöpselt in die totale Projektion. Alle in Tikva waren mit Schnittstellen ausgestattet. Sie hatten nicht die üppigen Stimmiespektakel, für die andere Städte sich begeisterten, sie hatten keine Hochempfindlichkeitsfolien oder Windkabinen, aber jedes Kind, das der Stadt geboren wurde, war ausgestattet für direkten Zugriff zum Netz, war Erbe des gesamten Wissens aller Zeitalter.
Das Netz war eine öffentliche Einrichtung, an die Gemeinwesen, Konzerne, Städte, sogar Einzelpersonen angeschlossen waren. Es enthielt die allseitige Information der Welt, lebende Sprachen und viele tote. Es hatte Inhaltsverzeichnisse aller zugänglichen Bibliotheken und bot entweder den vollständigen Text an oder Zusammenfassungen von Büchern und Aufsätzen. Es war das allgemeine Kommunikationsmittel und akzeptierte Bilder, Code oder Stimme. Es war auch ein Spielplatz, ein Irrgarten von Spielen und von Knotenpunkten für Spezialinteressen, ein großes Clubhaus mit vielen tausend Räumen, ein Ort, wo Menschen sich begegneten, ohne sich jemals zu sehen, außer sie zogen es vor, ein Abbild von sich zu zeigen – das ihrem tatsächlichen Aussehen entsprechen mochte oder auch nicht.
Shira hatte ebenfalls die Augen geschlossen. Hermes lag ungeschickt auf ihrem Schoß, für den er viel zu groß war, während sie vorgab zu lernen. Stattdessen war sie angeschlossen an ein Netzprogramm aus Farben und Figuren, die sich vor ihren geschlossenen Augen bildeten, an Wasser erinnerten, schimmernde Grau-, Grün- und Brauntöne. Sie war nicht total projiziert, sondern distanziert, schaute von außen, ließ den Schmerz sanft in sich hineinströmen wie fließendes Wasser.
Plötzlich, um zwanzig Uhr dreißig, kündigte das Haus Gadi an. Shira schoss empor, der Kater verlor den Halt. Die Buchse wurde aus dem Anschluss in ihrer Schläfe gerissen, ihr wurde übel von der plötzlichen Unterbrechung. Das Haus war seit Jahren programmiert, Gadi zu erkennen und einzulassen, also hatte es ihm einfach aufgemacht. Dummes Haus!
Shira beschloss, in würdigem Schweigen dazustehen und abzuwarten. Aber sowie er mit lockeren, langen Schritten in den Hof geschlendert kam, brach es aus ihr heraus: »Was hast du hier zu suchen? Wieso bist du nicht bei ihr?«
Malkah war da, aber nicht mit ihrem Bewusstsein, blind und taub, total in das Netz projiziert. Gadi warf ihr einen Blick zu, erkannte ihren Zustand, und beide verhielten sich, als sei sie ein Möbelstück.
»Ach komm, das hatte nichts zu bedeuten«, begann Gadi in einem Tonfall, als gelte es, ein krötiges Kind zu besänftigen. »Hier bin ich, bei dir wie immer. Wärst du heute nicht so reingeplatzt, würdest du dich überhaupt nicht aufregen.«
»Ach, du kannst alles machen und es ist meine Schuld, wenn ich es rausbekomme!«
»Sind wir verheiratet? So benimmst du dich. Seit unserem siebenten Lebensjahr sind wir verheiratet, das reinste Gefängnis!«
»Wenn du denkst, ich halte dich gefangen, dann flieh doch! Die Tür steht offen. Bedien dich.«
»Das habe ich auch vor. Ich habe ein Recht zu leben, andere Menschen kennenzulernen, zu erkunden, wer ich bin und wer sie sind.«
»Und, war es eine transzendentale Erfahrung, Hannahs Möse zu erkunden?«
»Shira, wir sind siebzehn Jahre alt. Frag Malkah, ob wir nicht offen sein sollten, andere Menschen kennenzulernen.«
Beide schauten zu Malkah – versunken, die Augen geschlossen. Vielleicht stellte sie Nachforschungen an, vielleicht hielt sie ein Seminar ab mit zwanzig anderen projizierten Teilnehmern, vielleicht flirtete sie mit jemand oder diskutierte.
Shira zitterte vor Empörung. »Ach, auf einmal regiert der gesunde Menschenverstand, die Erwachsenen haben recht, komm, wir vergessen einfach, dass wir uns lieben, und spielen Bilderbuch-Teenies.«
»Wieso kamst du überhaupt rübergerast? Weil du deine Versteigerungsergebnisse hattest, stimmt’s?«
»Ich wollte darüber reden, was wir mit der Universität machen.«
»Wir? Zeig mir mal deine Versteigerungsergebnisse. Na los, zeig sie mir.«
»Dir zeige ich überhaupt nichts.«
»Sie reißen sich doch um dich, oder? Sie glauben, sie können dich zu Geld machen. Schufte einfach vier Jahre so weiter, und dann kriegen sie einen guten Preis für dich, wenn die Multis für dich bieten. Wer will schon einen Künstler? Der alte Avram wird dafür bezahlen müssen, mich auf die Universität zu bringen, hart für ihn. Wie du siehst, haben wir eben nicht die gleichen Alternativen!« Mit wutverzerrtem Gesicht ging er auf sie zu.
»Nicht, wenn es deine Alternative ist, Hannah in dem gleichen Bett zu vögeln, das wir geteilt haben.«
»Das ist mein Haus und mein Zimmer.«
»Du wolltest, dass ich hereinspaziere. Du wusstest genauso gut wie ich, dass die Ergebnisse heute Nachmittag kommen. Du bestrafst mich, weil du nicht so gut abgeschnitten hast. Aber darauf kommt es nicht an, Gadi! Ich glaube an dich!«
Er ging von ihr fort, blieb in der Mitte des Hofes stehen und schaute sich misstrauisch um, als könnte das Haus ihn jeden Moment angreifen. Er benahm sich so, als schlüge er sie tatsächlich. Das Haus würde selbstverständlich mit Sonar angreifen, sollte er ihr körperlichen Schaden zufügen. »Ich muss raus, Shira. Wir sterben, alle beide. Wir sterben zusammen. Fühlst du das denn nicht?«
Sie starrte ihn an, wie er aufrecht dastand, größer schien als je zuvor, oder vielleicht waren es ihre Knie, die nachgaben. Er war für sie verloren. Sie wollte sterben. Sie war nicht mehr Shira, nur noch blutendes Fleisch, ein tosendes Vakuum. Sah er denn nicht, dass er sie beide umbrachte? Sie waren ein doppelter Organismus, ein Wesen. »Ich fühle jetzt nichts als Schmerz.« Sie würde einen Ozean zwischen ihn und sich bringen. Sie würde Malkah dafür bestrafen, dass sie ihre Liebe beleidigt hatte, und Gadi dafür, dass er sie verraten hatte; sie würde weit, weit von beiden weggehen, nach Europa. Sie würde Avrams Rat befolgen und sich fortbegeben, nach Paris, nach Prag, nach Edinburgh. Irgendwohin weit fort von hier.