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3Malkah Malkah erzählt Yod eine Gutenachtgeschichte

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Es war einmal, so beginnen Geschichten. Halb Künstlerin, halb Wissenschaftlerin, weiß ich das. Als Mutter und Großmutter habe ich fünfzig Jahre lang Geschichten erzählt. Wie die Kinder heranwachsen, so auch die Geschichten, von bewegten Strichzeichnungen zur vollen Skala aller Farbtöne, dick aufgetragen wie Gips oder Blut. Einige Moralgeschichten gehören in den Kindergarten, das Alter, in dem man im Dunkeln Angst hat, das Alter, in dem man sich ein kurzes Stück allein aus dem Haus wagt, ermahnende Fabeln mit grellen Buntstiften geschrieben. Aber andere Geschichten sind immer bei uns. Wir erzählen sie uns selbst in der Mitte unseres Lebens und im Alter, jedes Mal anders, sie wachsen zusammen wie Stalaktiten, die zur Erde drängen, werden schwerer mit jedem Tropfen und seiner Last geheimer, aufgelöster Gesteine und Mineralien, den vielen Salzen des Planeten.

So ist denn, lieber Yod, die Geschichte, die ich nun in der Basis lasse, nicht so, wie ich sie meinem Kind Riva oder meinem Kind Shira erzählt habe, oder Shira und Gadi, als sie vor mir hockten wie kleine Frösche, ganz Knopfaugen und Erlebnishunger. Ich zeichne die Geschichte nur für dich auf, in den Nächten meiner aschgrauen Schlaflosigkeit, wenn mir mein Leben vorkommt wie eine Dachkammer voller Schachteln, die ich weggestellt habe, Dinge, die einmal kostbar waren und die jetzt verstaubt und halb vergessen sind, aber immer noch ein Chor von Forderungen, dass ich sie ordne und jedem einen Platz zuweise, als Vermächtnisse, als Gerümpel, als Museum, das ich der Familie öffne oder der Welt. Dies ist eine Zeit, in der Neues beginnt und anderes endet, eine Zeit der großen Risiken und Gefahren, des plötzlichen Todes durch geistige Ermordung. Es ist auch die Zeit, in der mein Augenlicht wieder schwindet, und diesmal kann es nicht wiederhergestellt werden. Die Dunkelheit der Nacht äfft die Dunkelheit nach, die ich so fürchte, und der Schlaf ist der Liebhaber, den ich vielleicht stärker fürchte, als dass ich seine sanfte, warme Last auf mir wahrhaft begehre.

Dies ist also die Geschichte vom Golem: nicht du, mein eigener kleiner Golem, den ich klein nenne, obwohl du viel größer bist als ich, so groß wie ein hochgewachsener Mann (wie Razi, mein vorletzter Liebhaber), und um ein so Vielfaches kräftiger als ich, dass ich gar nicht erst raten mag. Du kannst einen Marmorblock über deinen Kopf heben. Nein, klein ist ein liebevoller Ausdruck, so wie viele Sprachen Kosesilben anhängen, die im Format verkleinern, was sie an Zuneigung vergrößern. Avram hat mir verboten, dich zu sehen, aber wir können uns immer noch über die Basis austauschen, und dort lege ich meine bobe majßeß für dich nieder. Ich bin mir keineswegs sicher, in welchem Maße ich mich bei deiner Programmierung großer Torheit und grenzenlosen Ehrgeizes schuldig gemacht habe oder bis zu welchem Grad ich vielmehr die Figur der Kraft im Tarot-Spiel bin, die Frau, die den Löwen zähmt, die dir beigebracht hat, deine Gewalt mit menschlichen Bindungen zu mildern. Ein Vorhaben, das Avram unterband.

Ich erzähle diese Geschichte für dich, während ich allein in meinem eigenen geräumigen, antiken Bett liege, in dem Schlafzimmer, das mir angepasst ist wie ein altes vertrautes Kleidungsstück, mit dem Duft der Narzissen aus dem Hof, in diesem Haus meiner Familie mit seiner grünen Oase inmitten der Wüste, zu der unsere Welt geworden ist. Ich liege wach und spüre die Gefahr, die um uns in diesem zerbrechlichen modernen Ghetto wächst. Dies ist eine Geschichte meiner Familie aus alter Zeit, als die Welt aufzubrechen schien. Sie nannten es Wiedergeburt. Renaissance. Aber nichts kommt je genauso wieder. Die Welt bewegt sich auf der menschlichen Ebene in Epizyklen, obwohl zu der Zeit, in der meine Geschichte erzählt werden möchte, es ebenjenes epizyklische Weltbild war, das von einigen wenigen mutigen Astronomen verworfen wurde. Sie traten für ein System ein, einfach, klar und völlig anders als das menschliche oder vielmehr anthropozentrische Weltbild, das den meisten, die damals in Europa lebten, als unwandelbar galt und als zutiefst christlich. Aber wie das ptolemäische Weltbild hat auch meine Geschichte ein menschliches Zentrum.

Dies ist im Besonderen die Geschichte eines gewissen Judah Löw, mehrerer Männer und Frauen um ihn herum und eines Un-Mannes. Aber es ist auch die Geschichte einer Stadt und eines Städtchens innerhalb einer Stadt, eines Städtchens so einzigartig, so eingekesselt und so gefährdet wie unsere eigene freie Stadt der Juden hier an der steigenden, vergifteten See. Prag ist die Stadt, das schöne Prag, das just seine graue und goldene, senf- und terracottafarbene, erdbeerrote und pistaziengrüne Stuckwärme annimmt, das sich gerade zu der Stadt gestaltet, durch deren barocke Formen ich im Frühling meines zweiundzwanzigsten Lebensjahres ging – im Jahre 2008 –, während ich bei jenem brillanten Manne Philosophie studierte, der ein so großer Lehrer war und ein so ungeschickter Liebhaber, und doch hielt ich den Tauschhandel von meinem Fleisch für seine Gesellschaft und seine Gespräche für angemessen, und ich hatte recht. Ich wanderte durch die verwinkelten Gassen und erklomm die Treppen, träumte von Kafka, dessen Geschichten ich immer bei mir trug, und träumte auch von Einstein, der an dieser Universität gelehrt hatte, während er seine Relativitätstheorie schuf. Ich war eine hochbegabte Studentin, die beste Studentin meines Professors und für eine Zeit seine Liebste, während in jenem Frühling der Flieder blühte.

Jeden Tag schaute ich von den Universitätsgebäuden hinüber in das, was einmal das Ghetto gewesen war; jeden Tag durchquerte ich es, vorbei an der Altneuschul, vorbei am jüdischen Friedhof zu meinem Studenten- und Arbeiterviertel, einem mittelalterlichen Pferch enger Gassen, zwei- und dreistöckige Häuser, an denen senfgelber Stuck die uralten zerbröckelnden Ziegelsteine in der Rasnovkastraße übertünchte. In der Pinkas-Synagoge, erbaut im fünfzehnten Jahrhundert und schon alt, als Rabbi Judah Löw durch diese engen Gassen schritt, stehen an den kahlen Innenwänden die 77.397 Namen von Juden angeschrieben, die in den Todeslagern zu Rauch verbrannt wurden, im gleichen Jahr, als meine Mutter in Cleveland, Ohio geboren wurde, einundvierzig Jahre vor meiner eigenen Geburt. Der Flieder stand in Blüte, als ich meine Tochter Riva empfing, die ich, kaum der Jugend entwachsen, in aller Stille aus Prag forttrug, ein Klümpchen in meinem Leib wie ein Souvenir der Freude, so wie andere Besucher Kunsthandwerk aus tschechischem Kristall davontrugen. Und in der Tat, Riva war von Kindesbeinen an ungefähr so formbar und gefügig wie Kristall.

Innerhalb des Prags von 1600 befindet sich die Judenstadt, das ummauerte Ghetto, der Glop seiner Zeit, mit Häusern, die sich wie Schuhlöffel in Höfe zwängen, und Familien, die in einem Zimmer hausen, oder mehreren Familien, die in einem Raum zusammengepfercht sind, der ihnen kaum genug Platz bietet, um sich nebeneinander schlafen zu legen – Mauern, die selten den Pöbel abhalten, der sich regelmäßig erhebt, um zu brandschatzen und zu morden. Es ist nicht viele Jahre her, seit ein Pöbelhaufen plündernd durch die Straßen zog und ein Viertel der Einwohner hinschlachtete, verstümmelte und zerrissene Leiber wie blutiges Gerümpel auf die Straßen geworfen, umgestürzte Wiegen, aufgespießt, während sie beteten, aufgeschlitzt im Wochenbett. Nicht einen Überlebenden gab es, der nicht einen Gatten, eine Frau, ein Kind, eine Mutter, einen geliebten Menschen zu beerdigen hatte. Im Jahre 1543 wurden alle Juden aus Prag vertrieben, wurden plötzlich mit dem, was sie tragen konnten, aus ihren Häusern gejagt und im feindlichen Umland ausgesetzt, um anderswo ihren Weg zu machen, irgendwo anders. Erst gestern hörten die Juden von Prag Reden der Bürger, auch aus den Handwerksgilden, dass es Zeit sei, sie wieder davonzuschicken. Zu Lebzeiten von Judah Löw wurden alle jüdischen Bücher beschlagnahmt, viele verbrannt und der Rest durch ein enormes Lösegeld zurückgekauft. Jedes Jahr zahlen die Juden einen ›Leibzoll‹ – eine Steuer auf ihr Recht zu leben.

Sie tragen auf ihren Mänteln, Männer und Frauen und Kinder, ein gelbes Symbol, das sie als Juden kennzeichnet. Es ist nicht der Sechsstern, der Magen David, weil dieses Symbol nur ein örtliches Emblem auf dem Banner der Prager Gemeinde ist und ungewöhnlich anmuten wird, wenn es später für einen der Menschen, denen wir bald begegnen werden, benutzt werden wird, auf seinem Grabstein. Nein, das erforderliche Mal ist einfach ein ausgeschnittenes Stück Gelb, das jeder Jude zu tragen hat, um auf den ersten Blick erkennbar zu sein. Es ist nicht immer so gewesen. Tatsächlich stehen die Dinge in diesem Augenblick für eine kleine Weile ein wenig besser für die Juden von Prag, doch es ist nur eine Atempause. Das Leben ist, seit sie zurückdenken können, merklich schlechter geworden, und es ist ein Segen für ihren ruhigen Nachtschlaf, dass sie noch keine Ahnung haben, wie schlecht es in ein paar Jahren werden wird, wenn der Dreißigjährige Krieg über sie hinwegfegen wird, hin und her und hin und her wie eine toll gewordene Sense, die Menschenköpfe erntet.

Jahrhundertelang hatten wir eine kleine, unehrenhafte, aber notwendige Rolle eingenommen: Wir waren die Bankiers, die Pfandleiher, die Geldwechsler, die Quelle für Darlehen; das war die Arbeit, die uns erlaubt war. Doch als auch Christen Bankiers wurden, trachteten die Juden, Arbeiten zu tun wie jedermann sonst, und dies, obwohl uns die meisten Gewerbe von Seiten der Obrigkeit verboten waren. Wir mussten einem Broterwerb nachgehen, und wir konnten uns nicht einfach gegenseitig die Wäsche besorgen. Bis zur Zeit des ersten Kreuzzuges lebten die Juden meist in eigenen Vierteln, wie es Menschen eben tun, in der Nähe ihrer Verwandten, ihrer Freunde, und in einer Stadt wie Prag mochte es drei oder vier mehr oder minder jüdische Viertel geben, und wenn ein Jude woanders leben wollte, wen kümmerte es? Aber seit dem ersten Kreuzzug war die Kirche kriegerisch, sie weitete sich aus, entschlossen, zu erobern oder anderen Glauben auszumerzen. Das Vierte Laterankonzil verfügte, Juden seien in Ghettos einzusperren oder zu vertreiben.

Im Ghetto von Prag gibt es wenige wohlhabende Juden, die weiterhin Handel in der Fremde finanzieren, deren Geschäftsunternehmungen weitreichend und wagemutig sind, und viele, viele arme Juden. Es gibt eine Handvoll wie die Löws zwischen der Hölle der ganz Armen und dem Himmel der Reichen. Aber in der Judenstadt ist jedermann, die reichen Maisls, die mittleren Löws, die Hungernden, die den Abfall um ein Stückchen Brennholz durchwühlen, alle sind sie auf kleinstem Raum zusammengepfercht und sie kennen sich bei Namen und sie alle kennen einander Handel und Wandel. Es ist ein heißer, enger Ort, Tag und Nacht lärmerfüllt, wo der Lumpensammler auch ein großer Gelehrter sein mag und der Rollkutscher ein Kantor, der singen kann, bis die Vögel in Ohnmacht fallen, oder ein Fiedler, der deine Knochen erschauern lässt. Die reichen Juden versuchen alle paar Jahre, ein Haus oder etwas Land außerhalb zu erwerben, aber sie sind zu verhasst. Niemand will an sie verkaufen. Erwägt jemand ein Angebot, so widerfährt diesem Verkäufer etwas oder aber das Haus, das Land verschwindet sofort vom Markt. So bleiben auch die Reichen eingesperrt in diese große, zänkische Familie, umgeben von Unmut und Argwohn der Armen, deren Hütten und Behausungen sich an die Mauern der vornehmen Häuser drängen und deren Gerüche und Geschrei durch jedes Fenster, jede Ritze dringen ebenso wie die Ratten, die sich in den Kellern vermehren. Rabbi Löw streitet mit den Reichen, weil er sie zur Rechenschaft zieht, er schilt sie und er besteht darauf, dass die Armen das Recht auf die gleiche Erziehung haben wie die Söhne der Wohlhabenden.

Lass uns Judah Löw betrachten, um den sich diese Geschichte ballt wie eine Wolke, die auf den Schultern eines Berges ruht. Er wird der Maharal genannt. In jenen Tagen haben große Rabbis Spitznamen wie Sportstars oder Stimmiestars. In den Ghettofestungen sind sie Kulturhalbgötter und gleichzeitig Unterhaltungskünstler. Er wird geheißen: Judah Löw ben Bezalel, Judah der Löwe. Ein Löwe unter den Juden.

Der Maharal ist ein gescheiter, streitbarer Mann, ein hitzköpfiger Kabbalist, durchdrungen von uralter Tradition, so dass die Tora für ihn die Welt begleitet, beseelt und bildet, dabei ist er neugierig, aufgeschlossen für die Wissenschaft und die Gedankenflüge seiner Zeit. Der Maharal ist ein griesgrämiger Heiliger von überragendem Verstand, der es liebt, die Gegner mit jeder Waffe seines Arsenals zu bekämpfen, von Vernunft und hoher Redekunst bis zu Hohn und Spott. Er ist freigebig mit seinen Schmähungen, seinen Beleidigungen. In jedem geistigen Wettkampf übermannt ihn der Wille zu siegen, und er ficht, um seinen Gegner zu vernichten. Er steht fast allein in seiner Zeit mit der Ansicht, dass jede Meinung ein Recht hat, ausgesprochen zu werden – er glaubt ganz unzeitgemäß an die Redefreiheit, nicht, weil er ein Relativist wäre. Nein, er glaubt an die Wahrheit seiner Religion. Aber er glaubt zu fest an die Heiligkeit des Denkvermögens, um es durch das Verbot jeglicher Ideen zu verkrüppeln. Er liefert sich unendliche Wortgefechte mit den berühmten Rabbis seiner Zeit. Im Dezember 1599 jedoch erhält er eine Aufforderung, öffentlich mit einem Priester zu disputieren, ein gefährlicher Wettstreit, denn als Jude hat er zu verlieren. Tut er es nicht, so hat die Kirche vielfältige Möglichkeiten, sich zu rächen, rasch oder gemächlich, ganz nach Belieben, und ohne Ende – oder mit dem üblichen Ende. Dies ist keine Zeit, da jemand, der sich den Anblick wünscht, das Schauspiel brennender Juden entbehren müsste. Aber wie kann der Maharal den Disput absichtlich verlieren? G-t würde nichts Geringeres als den Sieg anerkennen. Als Jude ist er verpflichtet, all seine Geisteskräfte einzusetzen. Der Bibeldeuter dei Rossi, dessen Gedanken der Maharal verabscheut, sagte, wenn du G-t ein Opfer bringen willst, opfere es der Wahrheit, und vielleicht ist das die einzige Äußerung von Rossi, mit der der Maharal übereinstimmt.

Der Maharal bereitet sich auf einen öffentlichen Disput mit dem Priester Thaddeus vor, einem Dominikaner, der zuvor in den Diensten der spanischen Inquisition stand. Thaddeus wurde kürzlich nach Prag versetzt, wo unter Kaiser Rudolf ein Klima der Toleranz zu blühen scheint, dessen Fortbestand oder gar Umsichgreifen nicht erlaubt werden kann. Judah findet in seinem Herzen Zorn und Verachtung für seinen Gegner, der so viel Zerstörung, Marter und Tod in anderen Leben anrichtet und dabei die Sicherheit der eigenen Stellung genießt, doch er bemüht sich, seinen Groll zu überwinden. Er erwägt, sich auf versagende Gesundheit zu berufen, aber solche Berufungen haben selten Wirkung. Er erfreut sich bester Gesundheit, obwohl er ein alter Mann ist. Dennoch war er diesen Winter bedrückt. Er hat sich nicht erholt vom Tode seines einzigen Sohnes.

Wenn er seinen Sohn im Geiste vor sich sieht, sieht er nicht den Fünfundfünfzigjährigen mit den grauen Strähnen im Bart, sondern vielmehr das begabte, aber oft zu empfindsame Kind mit den schwachen Augen und der zittrigen Stimme. Er denkt, dass er seinem Sohn ein schlechter Vater war und seinen Töchtern wahrscheinlich ebenfalls, obwohl er die überwiegend Perl überließ, seiner rührigen baleboßte von einer Frau. Er hegte große Erwartungen für den Sohn, auf den er so lange warten musste, den Nachfolger, den Träger seines Namens in die Zukunft. Nun hat er ihn überlebt. Das ist ein beklagenswertes Schicksal, das ich besonders fürchte. Ich habe eine vogelfreie Rechtsbrecherin großgezogen, die ihre Bahnen weit von mir entfernt zieht und auf die ein Kopfgeld ausgesetzt ist. Werde ich überhaupt von ihrem Tod erfahren? Während ich durch meine geschäftigen, gemütlichen Tage wandere, bin ich in Gedanken oft bei Riva. Wie der Maharal war ich eine schlechte Mutter und eine wunderbare Großmutter.

Obwohl der Maharal alt ist – nicht, wie Leute mich alt nennen, und dann schaue ich überrascht in den Spiegel und sage: Wer ist dieser Sack mit den Falten und Runzeln? Wer hat meine Zähne gelockert? Wer hat meine Brüste aufgeweicht? Nein, der Maharal war alt genug, um sein Alter zu spüren. Meine Familientradition sagt, er war einundachtzig; die Bücher berichten verschiedene Geburtsdaten und somit eine Mischung von Altersangaben bis hinauf in die Neunziger. Ich werde die Familienerinnerung übernehmen. Nichtsdestoweniger ist er immer noch tätig und immer noch schöpferisch. Seine Stimme hat nichts von ihrer Kraft verloren, und sein Verstand ist so messerscharf wie eh und je. Er ist vielleicht ein wenig heftiger in seiner Sprache und ein wenig härter im Streitgespräch, als er es in mittleren Jahren war, und er fühlt, dass ihm nur noch wenig Zeit bleibt und viel zu tun. Sein Greisenalter ist unerbittlich und leidenschaftlich. Er erscheint nicht kleiner, sondern größer, als er in seiner Jugend stand, seine Augen sind so hell und feurig wie eh in einem immer hagereren Gesicht. Statt seine Ecken und Kanten abzuschleifen, hat das Alter sie geschärft. Er ist ein Adler.

Judah ist vor vierzig Jahren nach Prag gezogen, aber immer, wenn die Zeit kam, einen Oberrabbiner zu wählen und er offenkundig der Würdigste war, wurde er übergangen. Zu tief in der mystischen Kabbala vielleicht, zu streitlustig, ein zu origineller Denker. Ein Störenfried. Nicht, dass sein Licht völlig unter einem Scheffel stand. Er leitete eine berühmte Talmud-Schule. Er war der Freund des reichsten Juden in Prag, Mordechai Maisl. Er war umgeben von Schülern und Kollegen. Unmittelbar bevor er 1592 Prag für die letzte Exilperiode verließ, schickte Kaiser Rudolf nach ihm und empfing ihn privat, ein unerhörter Umgang mit einem Juden.

Auch für einen rüstigen alten Mann war es ein langer Weg durch die Tore des Ghettos, auf der Karlsbrücke über die weite Moldau mit ihren weißen Stromschnellen, durch die Straßen der Malá Strana, wo sich der Adel hinter hohen Mauern inmitten von Obstgärten und Weideland prächtige Paläste erbaut hatte. Über den steilen, gewundenen Straßen dräute das von Türmen und Spitzen starrende Schloss auf seinen Felsklippen. Er lehnte sich auf die Arme seines Schwiegersohns Itzak Cohen und seines derzeitigen Lieblingsschülers Jakov Sassun. Er kämpfte sich die lange Treppe empor, sein Herz schüttelte seinen schmächtigen Körper, während sie sich an die Mauer drückten, um den Pferden auszuweichen, die vorbeigeritten oder -geführt wurden. Unter ihnen erhoben sich die Stimmen der Stadt und hingen wie leuchtende, flatternde Banner über den roten Dächern.

Judah schritt durch die mächtige Toreinfahrt und zwei Innenhöfe, eine ausladende Prunktreppe empor und durch Saal um Saal, jeder reich geschmückt, riesig und bar jeder Funktion, aber voller müßiger Höflinge in Brokat und Samt und Seide, deren Köpfe auf Halskrausen saßen wie auf Tellern, bis er gezwungen war, Itzak und Jakov in einem Vorzimmer zurückzulassen. Er wurde schließlich in einen kleineren, mit Samt verkleideten Raum geführt, wo in Vitrinen das Horn eines Narwals zur Schau gestellt war, ein zweiköpfiger Embryo in einer Flasche, eine Alraune in Gestalt eines phallischen Mannes, allerlei Mineralien, Magnetsteine. Judah hatte keine Zeit zu staunen, bevor Prinz Bertier ihn begrüßte, aber er spürte noch eine andere Präsenz. Während die Audienz dahinholperte, mit langen Pausen und Geflüster, folgerte Judah, dass der Kaiser hinter einem von der Decke bis zum Boden reichenden Samtvorhang saß und den Prinzen Bertier benutzte, um seine Fragen zu stellen. Das dauerte nicht lange. Der Kaiser verlor die Geduld, seine Fragen Bertier zuzuflüstern, und begann hinter dem Vorhang zu sprechen; endlich stürzte er hervor und nahm sich einen Sessel. Das Thema dieser höchst ungewöhnlichen Audienz, die einem Juden gewährt wurde, war ein Geheimnis; die Geschichtsbücher schweigen. Selbst in seinem Bericht für die Nachwelt vertraute Itzak das Thema des Gesprächs nicht dem Papier an. Aber hat die Familie nicht immer ihre Geschichten?

Nun hielt der Kaiser die Juden als sein Eigentum – als seine eigene Milchkuh, seinen eigenen privaten Steuerweinberg, aus dem sich immer noch mehr Saft pressen ließ. Mit sehr viel Furcht und mit verstecktem Zorn und mit seinem wie Wurfmesser geschärften Witz lauschte der Maharal dem Kaiser. Das Thema, das der Kaiser ansprach nach vielen Reden über das Weltall und die seltsamen neuen Theorien des Kopernikus, die den meisten, die davon hörten, nur offenen Spott entlockten und die die Kirche verdammte, war die Astrologie. All seine Ratgeber glaubten an die Astrologie als bestimmend für Charakter und Schicksal des Menschen. Sein eigener vorzüglicher Astronom, Tycho Brahe, stellte Horoskope. Wie dachte der Rabbi darüber?

Der Maharal dachte rasch nach. Die Astrologie war seinerzeit ein geachtetes Gewerbe, und so wie heutzutage jeder reiche Macher seinen Haus-Chemotherapeuten hat, der ihm genau die richtigen Psychopharmaka verabreicht und am Monitor die Spurenelemente und Nährstoffe im Blut und die allergischen und Immunsystem-Reaktionen überwacht, so hatten die Reichen und Mächtigen damals ihren Hofastrologen, der ihnen die richtigen Zeitpunkte zum Handeln und zum Abwarten nannte, die günstigste Zeit für Heiraten und Feierlichkeiten. Judah mutmaßte, dass der Kaiser eine Vorhersage erhalten hatte, die ihn beunruhigte.

Rudolf stand in dem Ruf, ein schwacher und unentschlossener Herrscher zu sein. In der Tat schien er den Krieg wenig zu lieben, was in seinen Tagen als Zeichen von Charakterschwäche galt. In Wahrheit ermutigte er die Wissenschaften und die Künste und übte eine milde religiöse Toleranz, widerstand gewöhnlich dem besessenen Eifer der Gegenreformation, erlaubte sowohl Protestanten als auch Juden, Gott auf ihre Weise zu verehren, und gab den Universitäten ungewöhnlich viel Freiheit. Ich persönlich würde lieber unter ihm leben als unter so manchem berühmteren und viel bewunderten König von Preußen.

Warum der Maharal? Nun waren zu der Zeit erst sieben Bücher des Maharal veröffentlicht, aber mehrere hatten als Manuskript die Runde gemacht. Judah konnte ziemlich sicher sein, dass der Kaiser von seiner langen Abhandlung wusste, die diese Pseudowissenschaft gründlich zerpflückte. Offensichtlich hatte ihn der Kaiser deshalb ausgewählt, und er hatte nicht die Absicht zu widerrufen. Der Kaiser suchte nach einer Begründung, um einen der Astrologie entsprungenen Ratschlag verwerfen zu können, so folgerte Judah, und er würde ihn liefern. So sei es. Das ist, was gemäß der Familienlegende zwischen Rudolf und Judah geschah.

Kurz nach dieser Audienz wurde der Maharal wieder einmal für das Amt des Oberrabbiners übergangen. Er nahm daraufhin eine Stellung in Posen an, schüttelte den Prager Staub von seinem Hut und brach mit seiner Familie auf.

Er kam nicht zurück, bis sie ihm schließlich gaben, was er wollte. Die Legende, die sich nun um ihn rankt, gehört in diese Zeitspanne, da der Maharal vor kurzem im Triumph als Oberrabbiner nach Prag zurückgekehrt ist. Der Maharal ist ein gelehrter Mann, bewandert nicht nur in Tora und Talmud, nicht nur in Geschichte, in der Wissenschaft und Philosophie seiner Zeit, sondern auch in den Geheimnissen der Kabbala. Er macht einen ganz klaren Unterschied zwischen den Wahrheiten der Wissenschaft, die sich auf Beobachtung gründen und die sich ständig verändern – so wie die Welt sich ständig verändert (eine radikale Auffassung, denn die Welt hatte jahrhundertelang als statisch und unbeweglich gegolten) –, und den Wahrheiten der Religion, die von ganz anderer Art sind. In dieser Sphäre ist der Gedanke Handeln und sind die Worte nicht Künder der Dinge oder Zustände, sondern reale und mächtige Kräfte. Das ist natürlich die Welt der künstlichen Intelligenz und der Computerbasen, in der ich arbeite – die Welt, in der das Wort real ist, das Wort ist Macht, Energie ist geistig und physisch zugleich, und alles, was als Materie im Raum erscheint, ist eigentlich immateriell. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich mit zunehmendem Alter immer mehr zur Mystikerin werde. In meiner Jugend war ich besessen von Sex und Psychologie, von Mode und Eleganz; jetzt, wo ich an das Ende meines geflochtenen Seils gelange, fasziniert mich das heilige und mächtige Licht, das durch die Geschichte leuchtet, die Mächte, die ihre Dramen durch uns ausspielen, das Gute und das Böse, der Schaden und der Ausgleich, den unsere Wanderungen und unsere Entscheidungen anrichten.

Ist es richtig, diese Geschichte zu erzählen? Es ist eine Geschichte der Kabbala, der frommen Magie. Die meisten Gelehrten bestehen darauf, dass sich dafür keine Grundlage, kein Anhalt findet im Leben des vorbildlichen religiösen Denkers und Erziehungsreformers, dieses Historikers und Polemikers. Was hat er zu tun mit der Erschaffung von Monstren? Aber als Frau, die ihr Berufsleben damit zubringt, Märchen und Monstren zu erfinden, wie kann ich da das Gefühl haben, Judah zu schmähen und zu verleumden? Ich glaube, dass diese Geschichte wahr ist, wenn auch vielleicht nur im übertragenen Sinne, obwohl Moshe Idel ein ums andere Rezept zur Herstellung von Golems gefunden hat, so genau wie die Anweisungen zum Bau einer Jurte oder zum Backen von Baguettes. Ich kann nicht immer zwischen Mythen und Wirklichkeit unterscheiden, weil die Mythen die Wirklichkeit formen und weil wir aus dem heraus handeln, was wir zu sein meinen; wir wissen auf vielen Ebenen Wahrheiten, die sowohl irrational sind als auch vernunftbegründet oder experimentell. Unser Geist hilft die Welt zu erschaffen, die wir zu bewohnen meinen. Ich bin selbst eine Zauberin, die im letzten Herbst eine Maschine verführt hat, deshalb kann ich mich in den Maharal zurückversetzen und sagen, dass auch er ein Geschöpf erschaffen haben mag, das im Volksgedächtnis als das seinige verzeichnet ist. Meinst du nicht, mein Freund, dass du etwas über das normal Menschliche Hinausgehendes bist, ein Wunder?

Als nun der Maharal in jenem Winter spürt, wie die Gefahr wächst und wie sich ein Netz aus Intrigen immer enger um sein Volk schnürt, wohin soll er sich da wenden außer zur überlieferten mystischen Kunde? Die Prager Juden sind in ihr Ghetto eingepfercht und sie können nirgendwohin entkommen und nirgendwohin entfliehen. Die Juden von Spanien, die tausend Jahre in Frieden und Hochkultur lebten, wurden über Nacht aus dem Land, das sie für das ihre hielten, vertrieben, wurden aus ihren Wurzeln gerissen und ihren Gräbern und ihren Synagogen. Die Juden von England wurden in Elend und Wanderschaft getrieben. Die Juden von Portugal wurden aus ihrer Heimat verjagt. Wie kann er die Juden von Prag retten?

Jedes Jahr am Versöhnungstag verliest er von der Kanzel ein Gedicht von Avigdor Kara. Es betrauert die dreitausend Juden, die hingemordet wurden, als das Prager Ghetto von einer mit Schwertern, Streitkolben, Spießen und Sicheln bewaffneten Meute überfallen wurde. Hinterher verurteilte der königliche Schatzmeister die Juden wegen Anstiftung zum Aufruhr zu einem Bußgeld von fünf Tonnen Silber. Obwohl Rudolf geneigt ist, sie zu schonen, so hat er andere, dringlichere Geschäfte. Die Juden sind entbehrlich. Die reichen Bürger der Stadt hassen sie. Als sichtbar abgesondertes Volk sind sie immer in Gefahr. Die Gegenreformation nimmt an Heftigkeit und Stoßkraft zu. Die Kirche ist kriegerisch und erbost über die Widerspenstigkeit der Juden, so ähnlich der widerspenstigen Weigerung der Protestanten, doch leichter zu brechen.

Eine neue Gefahr ist die Blutbeschuldigung. Zu Pessach öffnen wir jedes Jahr am Seder-Abend die Tür, um Elia, den großen Propheten der Hoffnung und der Freiheit, einzulassen, wenn er zu uns kommen will. Ich kann mich erinnern, wie ich Riva erklärt habe, ich kann mich erinnern, wie ich Shira erklärt habe, und auch Gadi, ja, denn zu der Zeit war Sara zu krank, um den Seder zu machen, und Avram und Gadi kamen beide zu uns, wie diese Sitte in den schrecklichen Jahren der Blutbeschuldigung entstand. Damals glaubten die Christen, die Juden täten das Blut von Christenkindern in die Pessachmatze. Es ist eine Verballhornung der Geschichte vom Exodus, dem Tod der Erstgeborenen und der jüdischen Kinder, die vom Todesengel verschont wurden, eine Verwechslung mit dem Seder-Wein, der sich in ihrer Messe in Blut verwandelt. Was haben wir mit Blut zu tun, denen verboten ist, es zu verzehren? So begannen wir, die Tür zu öffnen, um zu zeigen, dass wir nichts zu verbergen haben. Wird Shira je wieder zu Pessach nach Hause kommen? Erst verheiratet mit dieser arroganten, zerbrochenen Kreatur. Jetzt geschieden, doch sie trödelt herum in der abgekapselten Konzernwelt.

Eine andere zunehmende Gefahr ist der Priester Thaddeus, der eigens aus Spanien nach Prag gekommen ist, um die Ziele der Inquisition zu verwirklichen. Er will einfach nicht glauben, dass Rudolf den Juden von Prag gestattet, ein Verlagshaus zu unterhalten, das Bücher in Hebräisch druckt, dass er ihnen erlaubt, Prozessionen abzuhalten und, wenn auch unter Anfeindungen, Gewerben und Künsten nachzugehen. Er will nicht glauben, dass des Kaisers eigener Mathematiker, der große Astronom Tycho Brahe, den Juden David Gans als Kollegen behandelt und in seinem Observatorium arbeiten lässt, dem modernsten in ganz Europa, oder dass Johannes Kepler, Brahes hochbegabter Gehilfe, sowie weitere Gebildete der Stadt die Kabbala lesen und erörtern. Hier in Prag führen Juden und Christen miteinander Streitgespräche über ketzerische Ideen wie die, dass die Planeten sich um die Sonne drehen, und sie werden nicht raschestens zum Widerruf gezwungen oder auf dem Marktplatz verbrannt – noch nicht. Aber Thaddeus hat seine grimmige Pflicht zu erfüllen. Er ist ein Gefäß, durch das die Leidenschaft für das, was er für die Wahrheit hält, in Sturzfluten braust. Wie Savonarola in Florenz, der einen Scheiterhaufen aus Kunstwerken errichtete, die ihm sinnlich und sittengefährdend schienen, der alle Renaissance-Gemälde verbrannte, deren er habhaft werden konnte. Thaddeus ist ein feuriger Redner, der eine Menge mit Leichtigkeit aufwiegelt. Menschen in Gruppen sind die Orgel, auf der er gern spielt. Vor allem ist sein Hass aufrichtig. Er sieht in den Juden eine Seuche, die durch Europa kriecht, wie zweihundertfünfzig Jahre zuvor den Juden die Pest zur Last gelegt worden war. Es ist eine geistige Pest, die er in Prag grassieren sieht. Gefährliches Denken ist die Seuche, die Seelen verdirbt.

Der öffentliche Disput wird an einem Sonntag vor einer riesigen Menge abgehalten. Judah muss versuchen, angesichts einer feindseligen und fanatischen Zuhörerschaft Stimmengleichheit zu wahren. Und genau das erreicht er um Haaresbreite, er kontert, er attackiert, aber er bricht den Angriff stets vor dem Sieg ab. Es ist ein langer Tanz in der Sonne des überfüllten Platzes, ein Tanz mit Schwertern und Feuer. Ein Tanz, der immer formeller wird, so dass die Menge sich zu zerstreuen beginnt, während der Maharal Thaddeus vom hohen Sockel der Redekunst herunterschmeichelt in das knorrige Labyrinth aus Philosophie, Theorie, Zitat, Übersetzungsfragen. Thaddeus wird verleitet zu Haarspaltereien über immer feinere Einzelheiten, untermauert von Zitaten und winzigen Unterschieden. Als es ihm endlich gelingt, sich daraus zu befreien, ist die vereinbarte Zeit verstrichen. Keiner hat gewonnen, und Thaddeus ist wütend, denn zu spät erkennt er die Kriegslist des Maharal – ihn in formelle Diskurse zu locken, die die blutrünstige Menge langweilen, ihn in akademische Erörterungen zu locken, die den Maharal als Gleichen behandeln und nicht als den Satan in Person. Die Menge kam zu einem Turnier und erlebte ein Seminar.

Der Maharal hat keine Zeit, sich an seinem geknebelten Sieg zu erfreuen. Ostern ist eine gefährliche Zeit und Ostern steht vor der Tür. Zu Ostern rotten sich oft Horden zusammen und schlagen drein. Zu Ostern kann es geschehen, dass angesehene Juden ergriffen und gefoltert werden, bis sie gestehen oder sterben.

Judah betet und fastet und bringt sich in Einklang mit den höchsten Sphären gemäß den Regeln der Kabbala durch die Speichen aller Emanationen bis hin zu dem All, welches das Nichts ist, das En Sof. Thaddeus ist erzürnt und wird seine Rache nehmen. In Judah kommen der Zaddik – der Gerechte – und der Chassid – der Fromme – zusammen. Ein Mystiker und ein Handelnder, tätig, leidenschaftlich, getrieben, kann sich Judah nie in seiner Meditation verschließen und die Gemeinde vergessen. Er betet und fastet und fastet und betet um eine Antwort auf die Gefahr, die er riechen, schmecken kann.

Dann, am siebenten Fastentag, schläft der Maharal über seinem Arbeitstisch ein, auf dem sich die hebräischen Seiten türmen, alte und neue Bücher und Reinschriften von Manuskripten fünfzig Gelehrter. Ihm träumt, er steht auf dem jüdischen Friedhof, inmitten der dicht gedrängten, windschiefen Grabsteine, die an die Seiten eines aufgeblätterten Folianten erinnern. Überall wehklagen Menschen und heben hastig Gräber aus. Er sieht einen Hügel aus bleichen Leibern, alle übereinandergeworfen. Er hat die zierliche Pinkas-Synagoge vor sich, und während er ihre Wand anschaut, schreibt eine Hand aus Licht das Wort GOLEM. Von rechts nach links schreibt sie immer wieder dieses Wort. Dann ruft eine Stimme, die ihm in den Ohren brennt, seinen Namen, einmal, zweimal. »Judah, du musst einen Golem aus Lehm machen, damit er aufsteht und das Ghetto bewacht und dein Volk rettet. Zaudere nicht. Steh auf und mache einen Golem.«

Yod, die Fähigkeit, Visionen zu sehen, ist eine von jenen menschlichen Begabungen, die gedeihen, wenn sie von einer Gemeinschaft belohnt werden, und die in den meisten von uns verdorren, wenn sie von der Gemeinschaft bestraft werden. Das heißt, ob die Fähigkeit, die Hand von ha-schem an die Wand schreiben zu sehen, Anerkennung einbringt für deinen frommen und prophetischen Scharfsinn oder ob du deswegen in der Klapsmühle landest, entscheidet darüber, wie viele Menschen in einer Gemeinschaft es sich zur Gewohnheit machen, das zu sehen, von dem andere meinen, es sei nicht wirklich da. Der Maharal hat die Fähigkeit entwickelt, Visionen zu sehen, denn sie ermöglichen ihm, zu meditieren, seinen Geist zu klären und das zu erfassen, was er für höhere Wahrheit hält. Aber wie die meisten Juden seiner Tradition hört er öfter Stimmen, und die Stimmen unterweisen ihn in seiner Pflicht.

Was ist der Golem, den zu machen ihm die Stimme befiehlt? Ein Wesen in menschlicher Gestalt, nicht vom ha-schem gemacht, sondern von einem anderen Menschenwesen vermittels esoterischen Wissens, insbesondere durch die Macht der Worte und Buchstaben. Das Sefer jezira, das mystische Buch der Schöpfung, soll das enthalten, was man meistern muss, um mit der Macht der Namen G-s und der Macht der Buchstaben und Zahlen einen Golem zu formen. Kabbalistische Tradition berichtet uns von vielen Weisen und Heiligen, die einen Golem erschufen, nicht zu irgendeinem Zweck, sondern als mystischen Ritus. Sie machten und zerstörten die wandelnden Lehmmänner, vereinten sich dabei mit der Schöpfungskraft und versetzten sich durch Gesang und den Schöpfungsakt in höchste Verzückung. Es war eine der Ruhmeskronen, die ein wahrhaft Heiliger tragen konnte. Gelegentlich wird uns auch von Weisen berichtet, die sich einen Golem zu privaten Zwecken machten, um Botschaften zu überbringen, das Haus sauber zu halten, so wie wir dafür Roboter benutzen, und diese Golems waren sowohl stumm als dumm.

Einzigartig ist, dass Judahs Golem nicht erfunden werden soll, um des Rabbis meisterliche Beherrschung des esoterischen Wissens zu beweisen. Ihm ist aufgetragen, so glaubt er, einen Golem zu erschaffen, der kämpfen, wachen, retten soll. Deshalb muss dieser Golem mit Verstand und der Gabe der Sprache geformt werden. Er soll eine Ein-Mann-Armee werden. Von dem Moment an, da Judah die Hand ›golem‹ schreiben sieht und die Stimme hört, die ihm zuruft, aufzustehen und dieses Geschöpf zu erschaffen, fragt er sich: Werde ich das wirklich tun? Sowie er die Möglichkeit erwogen hat, weiß er, dieses Unterfangen muss er geheim halten. Er hegt nicht den Wunsch, als Hexenmeister gefoltert zu werden, ein Weg, der einem polemischen, scharfzüngigen Rabbi stets offen steht.

Als eine, die selbst seit zwei Jahren an einem Geheimprojekt mitwirkt, identifiziere ich mich mit seinen Bedenken. Zu jedem Augenblick der Geschichte sind gewisse Richtungen, die dem forschenden Geist und der experimentierenden Hand offen stehen, verboten. Nicht immer ist das Wissen verboten, weil gefährlich: Regierungen geben ohne weiteres Milliarden für Waffen aus und verbieten kleinen Sekten das Peyote ihrer Ekstase. Was uns zu wissen verboten ist, kann – auch scheinbar – das sein, was uns zu wissen am meisten nottut.

Überdies reißt ein Mensch, der ein anderes menschliches Wesen erschafft, die Macht des ha-schem an sich. Er riskiert eine erschreckende Selbstverherrlichung. Er erhöht sich selbst über das Menschliche. Das ist gefährlich für die Seele, gefährlich für die Welt. Sobald Menschengeist eine Möglichkeit ersinnt, will er das Mögliche verwirklichen. Er will tun, ganz gleich, um welchen Preis. Der Maharal ahnt und weiß um menschliche Schwäche. Er schläft nicht und trinkt kaum ein wenig Wasser. Er kann nicht entscheiden, worin der wahre Weg liegt: Kommt seine Vision von ha-schem oder von seinem eigenen Ich, seinem Verlangen, sich als gelehrt zu erweisen, als heilig, als ebenso mächtig wie die Rabbis vor ihm, die Golems erschufen?

Der Maharal ringt eine ganze Woche lang mit sich, ob die Vision, die ihm kam, eine Versuchung ist oder ein wahres Gebot, eine wahre mizwa, die ausgeführt werden muss. Er schwankt. Noch nie zuvor hat in ihm so fiebrige Unentschlossenheit gebrannt. Er hat Angst zu handeln. Er findet immer wieder Gründe, sich seine Skepsis zu bewahren.

Einmal vor Jahren traf ich meine Tochter Riva heimlich in den Tiefen des Glop, diesem vollgestopften, stinkenden Slum, in dem die meisten Menschen leben. Damals, wir kauerten in einem Speicher voll zerborstener und verschrotteter Maschinen, sprach sie zu mir über die Versuchung der Gefahr: wie manchmal die nahezu gänzliche Unmöglichkeit der Durchführung einer Aktion sie unwiderstehlich macht. Sie muss es tun, weil man es nicht tun kann, weil es nicht nur verboten ist, sondern darüber hinaus als undurchführbar gilt. Zu der Zeit begann sie, von der reinen Datenpiraterie zu etwas Politischerem überzugehen, zu etwas noch Gefährlicherem. Da begann sie ihren Kreuzzug, Information von den Multis zu befreien. Der Maharal, er liegt wach, wie ich wachliege, hat Angst vor dem Heilmittel, für dessen Herbeischaffung er sein Leben wagen müsste, so wie er Angst hat vor der wachsenden Gefahr für die, die in seiner Obhut leben. Er kann sich nicht entscheiden, er liegt reglos vor der Nacht und dem Kommenden, er wartet auf ein weiteres Zeichen.

Er, Sie und Es

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