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10Malkah War es gut, das zu tun?
ОглавлениеAls Riva noch ganz klein war, hatte sie schon einen unbändigen Willen. Selbst als Säugling schwoll sie vor Zorn, sie schrie sich krank oder sie hielt den Atem an, bis ich vor Sorge außer mir war. Mit zwei gewöhnte sie sich an, in höchster Lautstärke Nein zu sagen. Ich sehe sie immer noch in der Mitte des Hofes stehen und dieses eine Wort sagen, bis die Wände davon widerhallten, und dann verstummte sie und weigerte sich, auch nur einen Ton von sich zu geben. Wie sind wir dazu gekommen, uns schon so früh in einem Wettkampf des Willens zu verkeilen?
Sie glich einer Katze darin, dass sie geschlossene Türen hasste. Eine abgeschlossene Schublade, ein unzugänglicher Kasten, ein geschütztes Programm, ein vor ihr verstecktes Buch machten sie unersättlich, so wie andere Kinder nach Bonbons oder Pommes Frites verlangen. Der Tipp, dass etwas ihr Verständnis übersteige, brachte sie dazu, sich jeden Wälzer einzuverleiben. Sie liebte es, sich leise heranzuschleichen, während ich mit anderen schwatzte, nur um Geschichten zu belauschen, die ihr nichts bedeuten konnten, über Leute, die sie kaum kannte. Bereits mit zwölf Jahren wühlte sie in der Basis herum, in jedermanns Personalakte, rein und raus, mein kleiner stupsnasiger Maulwurf. Dann schrie ich sie an: »Das Privatleben ist heilig! Du kannst nicht einfach in anderer Leute Geheimnissen herumstöbern.«
»Das, was wir nicht wissen, macht uns dumm«, sagte sie dann mit trotzig hochgezogenen Schultern. Sie war nicht bereit, sich zu schämen. Wir sollten alle alles wissen.
Wenn ich an mich selber mit zwanzig denke, sehe ich ein leidenschaftliches, konfuses Geschöpf, das nach Gefühlen grapschte und nach Ideen schnappte, so ungeduldig wie mein eigenes Kind nach Antworten und Befriedigung ihrer Neugier. Ich versuchte immer wieder, sie davon zu überzeugen, es so zu machen wie ich, versuchte, ihr Gehorsam einzureden. Meine Worte fluteten über sie hinweg, suchten ihre Granitklippen abzutragen. Ich redete und redete; sie stand stumm, verstockt.
Du hast dich anfangs auch gesträubt zu sprechen. Weißt du noch, Yod? Manche sagen, dass Judahs Golem – was ›Masse, Klumpen‹ bedeutet – nicht sprechen konnte, aber das ist ein Irrtum, der auf anderen Golems der Legende beruht. Er plappert nicht, sondern ist schweigsam, wie es sich für einen Mann aus Lehm gehört. Aber als er in dieser Nacht von Rosch Chodesch im Monat Adar die grauen Augen aufschlägt, fragt er den Maharal: »Vater, war es gut, das zu tun?«
»Es war notwendig. Und du sollst mich nicht Vater nennen.« Der Maharal hatte mit seinem einzigen Sohn, Bezalel, eine Beziehung durchgemacht, die stürmisch genug war. Bezalels Tod ist im Gefühl des Maharal immer noch ebenso bitter wie unnatürlich. Deswegen ist ihm die Anrede des Golems ein besonderes Ärgernis. Ein Sohn sollte seinen Vater begraben, nicht umgekehrt. Bezalel starb an einer Unpässlichkeit, einem Schnupfen, der auf die Lungen übergriff, genau wie Leah. Es war ein absurder Tod, der den Maharal immer noch grämte. Judah hatte versucht, seinen Sohn zu seinem Nachfolger als Hoher Rabbi von Prag bestimmen zu lassen, aber er war gescheitert, und Bezalel war im Zorn gegangen. Dieses Geschöpf, das er ins Leben gerufen hat, ist nicht sein Sohn. »Du sollst mich Rabbi nennen. Dein Name ist von nun an Joseph.«
Der Maharal gibt dem Golem den Überwurf, in den er die Tora eingewickelt hatte, um seine Nacktheit zu bedecken, denn die drei haben ihn als Mann geformt. Sie haben es getan, ohne darüber nachzudenken oder zu sprechen. Der Maharal hätte wahrscheinlich gesagt, er glaube nicht, diese Formgebung verbessern zu können. Sie machten einfach einen Mann aus Lehm.
»Joseph«, wiederholt der Golem gehorsam. Er kommt schwerfällig auf die Füße, schwankt und scheint zu stürzen, während der Maharal Itzak und Jakov vorschickt, ihn von beiden Seiten zu stützen. Sie empfinden offensichtlich Widerwillen, ihn zu berühren. »Kannst du gehen, Joseph? Schau, einen Fuß und dann den anderen. Einfach so.« Der Maharal macht es geduldig vor. »Wir müssen schleunigst vor der Dämmerung ins Ghetto zurück. Kommt, wir müssen ihm helfen. Ich kann die Dämmerung schon riechen. Wir müssen uns beeilen, sonst fangen uns die Wachen.«
Aber niemand tritt vor, den Golem zu berühren. Der Maharal selbst verspürt einen Widerwillen, seine Hand auf dieses seltsame Fleisch zu legen. Würde er kalt sein wie Lehm? Würde er sich anfühlen, als sei er tot? Der Maharal muss mit gutem Beispiel vorangehen, und er legt einen Arm um das riesige Wesen.
Der Golem schwankt vorwärts, den Mund leicht geöffnet, das Gesicht zusammengezogen vor Konzentration auf die Anstrengung. Er biegt sich wie eine Eiche in starkem Wind, er ragt über dem Maharal auf. Er hat kurzes rötliches Strubbelhaar und eine erdige Gesichtsfarbe. Der Maharal hat nicht auf Ansehnlichkeit geachtet, als er ihn machte, doch er ist auch nicht missgestaltet. Er hat einen kräftigen Nacken, breite Schultern, einen vierschrötigen Körper und massige, etwas flächige Züge, die an Tataren erinnern.
Joseph tut zuerst einen Schritt, der ihn aus dem Gleichgewicht bringt, und wieder muss er gestützt werden. Jetzt endlich nehmen Itzak und Jakov auf beiden Seiten Stellung, bieten ihm Halt. Sein Gewicht wirft sie fast zu Boden. Dann tut er einen winzigen Schritt. Das funktioniert. Er tut noch einen winzigen Schritt. Auf die Art werden sie die ganze Nacht brauchen, um aus dem Wald zu gelangen. Ihn zu tragen steht völlig außer Frage, denn er ist größer als jeder von ihnen, und allein das Gewicht seiner Hand auf ihren Schultern verrät den beiden jüngeren Männern, dass er in der Tat schwer ist. »Ein wenig schneller, Freund«, ächzt Itzak unter Josephs Gewicht.
Schließlich lässt Joseph sie los, und mit ungeschickten, ruckartigen Bewegungen geht er endlich. Schritt für Schritt. Dann stolpert er über einen Baumstamm. Er stürzt vornüber, schlägt mit dem Kinn dumpf auf den Boden. Als sie versuchen, ihn hochzuziehen und er sich müht, auf die Beine zu kommen, kracht er hintenüber.
Es braucht alle drei von ihnen, dass er wieder hoch und in Gang kommt. Itzak fragt: »Rabbi, was werden wir den Leuten sagen, wenn sie fragen, wo dieser riesige Mann herkommt?«
»Sagt, aus Galizien. Die Leute glauben alles über Galizier. Seine Mutter hat ihn fortgeschickt, damit er nicht zu den Soldaten musste. Ich habe ihn auf der Straße gefunden, einen schwachsinnigen Bettler. Er wird Schammasch in der Synagoge.« Kürzlich wurden ihrem Schammasch seine Aufgaben zu schwer. Er ist ein alter Mann, er braucht seine Ruhe. Der Maharal wendet sich an den Golem. Er spricht kälter zu Joseph als zu Itzak und Jakov. »Du wirst Holz sägen, Wasser holen, die Feuer anzünden, die Asche hinaustragen, den Boden der Altneuschul fegen, unserer schönen Synagoge. Verstehst du?«
»Ich werde tun, was du sagst. Wie kann Lehm verstehen?«
Der Maharal ist nicht sicher, ob ihn der Golem verspottet, aber er zieht es vor, seinem Zweifel nicht nachzugehen. Er wendet sich um und macht sich auf den Weg zur Stadt, hastig gefolgt von Itzak und langsamer von Jakov, der nur ein kleines Stück vor dem Golem herspaziert und seine Furchtlosigkeit zur Schau stellt. Jakov hat seine Würde zurückgewonnen und ist bemüht, sie nicht wieder zu verlieren. Der Golem schreitet schwerfällig hinterdrein, beglotzt jeden Baum, jeden Busch. Der Flug einer Eule durch die Dunkelheit bringt ihn dazu, mit offenem Munde stehen zu bleiben. Der Maharal spürt seine einundachtzig Jahre, seine Erschöpfung. Diese Nacht hat ihn seiner letzten Kräfte beraubt. Sein Kopf wimmert vor Fieber. Es ist schwer voranzuschreiten, als trüge ihn eine innere Kraft, wenn er sich eigentlich auf die Erde legen möchte. Er kann sich Schlaf nicht einmal vorstellen, denn er ist zu lange von Schlaflosigkeit geplagt, von Ärger, von Sorge, von Gewissensqualen. Seine ganze Hoffnung ist, in Wärme und Trockenheit auszuruhen.
Der Golem hat das Gehen jetzt gemeistert. Er bewegt sich gut und kraftvoll. Von Zeit zu Zeit bleibt er stehen, um seine Arme auszustrecken oder einen über den Kopf zu recken, um den Kopf zu schütteln wie ein Hund, der Wasser abschüttelt, um zu nicken oder zu blinzeln, um den Kiefer zu bewegen, als ob er etwas zerkaue. Dem Maharal wird klar, dass Joseph verschiedene Körperfunktionen ausprobiert, seine großen und kleinen Muskeln bewegt, experimentiert. Er wackelt mit den Ohren und mit der Nase wie ein Kaninchen. Der Maharal hat den Drang, Joseph wegen seiner Grimassen zu ermahnen, wie er es mit einem Jungen im Cheder tun würde, aber er hält sich zurück. Der Golem ist erst ganz kurz auf der Welt. Er wird Disziplin lernen, sobald der Maharal mit seiner Unterweisung beginnen kann, doch so nahe der Stadt müssen sie leise sein.
Als sie an der Stelle in der Mauer ankommen, wo der Bach sich hindurchschlängelt, sehen sie zwei Wächter mit ihren Piken, die darauf warten, sie gefangen zu nehmen. Sie können gehängt werden; sie können gefoltert und dann gehängt werden. Was immer sie erwartet, es sieht nach einem grässlichen Tod aus, es sei denn, die Männer können bestochen werden. Der Maharal hat ein paar Kupfermünzen in der Tasche, einen prächtigen Gürtel mit goldener Schnalle, aber das ist es auch. Er denkt nicht, dass sie das loskaufen wird. Wächter bekommen einen Anteil an dem Vermögen der Männer, die sie verhaften.
»Joseph«, sagt er sacht zu dem Geschöpf, das ihn überragt. »Wir sind in Gefahr. Diese beiden Wächter wollen uns nicht zurück ins Ghetto lassen. Wir werden sterben, es sei denn, du kannst sie kampfunfähig machen. Sie haben uns nicht gesehen und sie kennen dich noch nicht. Schau, ob du dich anschleichen und ihnen eins auf den Kopf geben kannst, damit sie nicht sehen, wie wir durch die Mauer in Sicherheit gelangen.«
»Ich gehorche«, antwortet der Golem. Rasch und geräuschlos gleitet er durch die Dunkelheit. Die Wächter drehen sich um und sehen ihn erst, als er sich auf sie stürzt. Sie haben nur Zeit, einmal aufzuschreien, bevor er sie packt, jeden in einer Hand, und ihre Köpfe gegeneinanderschmettert. Er lässt sie fallen.
Der Maharal läuft hinzu und beugt sich über ihre Körper. Ihre Schädel sind zermalmt. Blut sickert heraus. »Joseph, du hast sie getötet!«
»Sie sind so leicht zerbrochen.« Joseph runzelt verwirrt die Stirn. »Habe ich etwas falsch gemacht? Bist du böse auf mich, Vater Lehrer?«
»Töten ist falsch«, beginnt der Maharal, aber schließlich ist der Golem geschaffen worden, um zu beschützen. »Du solltest nicht mehr Kraft gebrauchen, als jeweils notwendig ist.«
»Aber ich habe dich beschützt. Jetzt können sie nicht darüber reden, wer heute Nacht aus dem Ghetto kam.«
»Aber ihre Leichen vor der Mauer werden auf den geheimen Ausgang aufmerksam machen. Juden werden die Schuld an dem Mord bekommen. Joseph, du sollst uns vor Schwierigkeiten bewahren, nicht uns in Schwierigkeiten bringen.«
»Lass ihn sie zum Fluss bringen und hineinwerfen. Dann wird uns nichts mit ihnen verbinden«, sagt Jakov. »Ich gehe mit ihm, Rabbi. Warte drinnen.«
Itzak und der Maharal verbergen sich im Gebüsch und warten. Schon ist der Himmel durchsetzt mit dem bleichen Grau der ersten Dämmerung, nicht, als ob das Licht käme, sondern als ob die Dunkelheit sich abnutzte. Der Wind hackt bitterkalt auf sie ein und schneidet durch ihre Kleider. Der Maharal fühlt sich schwach. Er lehnt sich an Itzak. Sein langes Fasten hat ihn eingeholt.
Itzak nutzt die Schwäche des Maharal, um zu sagen: »Lehrer, vielleicht war das ein Fehler. Wir könnten ihn leicht sofort in Lehm zurückverwandeln und niemand würde je davon erfahren. Niemand außer uns hat ihn gesehen.«
»Bis auf die Wächter«, sagt Judah leise. Die Morde haben ihn tief erschüttert. Natürlich hat er gesehen, wie Leute auf dem Marktplatz hingerichtet oder von Raufbolden überfallen und erschlagen wurden; dies sind gewalttätige Zeiten und niemand mit Augen im Kopf kann vermeiden, frische Leichen zu sehen. Aber an diesem Verbrechen fühlt er sich beteiligt, und das ist neu und erschreckend.
»Maharal, wir können ihn wieder zu Lehm machen. Als hätte es ihn nie gegeben.«
Judah nimmt seine Kräfte zusammen, um sich aufzurichten. In wenigen Augenblicken wird er in sein eigenes warmes Bett sinken und Perl wird ihn umsorgen. Perl wird ihn erwarten, das weiß er. Sie wird ihn schelten, weil er sich so verausgabt, weil er die ganze Nacht draußen bleibt, weil er sich zu Tode hungert. Sie wird ihn mit warmer Suppe füttern, sie wird ihm einen warmen Ziegelstein ins Bett legen und ihn mit einem Federbett zudecken. Er wird nicht mehr frieren und er wird schlafen. »Was ich getan habe, ist richtig. Mir wurde eine Vision geschickt und gesagt, was ich zu tun habe. Er ist unser Beschützer. Er wird lernen. Und er ist gehorsam. Wir müssen nur Acht geben, was wir ihm auftragen – wir müssen genau sein, wir müssen sorgfältig darauf achten, was wir sagen. Denn was wir befehlen, wird er ausführen.«
Der Maharal ist unsicher, ob er wirklich froh ist, den Golem aus der dünner werdenden Dunkelheit schreiten zu sehen, oder ob er insgeheim hoffte, der Golem sei in die Nacht entschwunden und nur Jakov käme zurück.
»Joseph«, beginnt der Maharal, sobald sie drinnen in Sicherheit sind. »Töten ist falsch. Du wurdest geschaffen, um für uns den Frieden zu wahren.«
»Ich habe dich beschützt. So, wie ich es muss.« Der Golem steht da, plattfüßig, geduldig. Er schaut aus, als könne er den ganzen Tag so stehen und die Mauern anstarren, die Steine der engen, gewundenen Gasse. Die Häuser der Armen sind aus rohen Baumstämmen gebaut; die besseren Häuser aus behauenem Holz oder Stein. Alles fasziniert ihn: eine Katze, die über eine Mauer in Sicherheit schlüpft, ein paar Grashalme, die zwischen den Pflastersteinen hervorbrechen. »Warum bist du böse auf mich?«
»Du musst vorsichtiger sein, Joseph. Deine Kraft ist groß, aber dein Geist ist schwach.«
»Vielleicht kann er wachsen, Lehrer. Vielleicht kann mein Geist auch stark sein. Aber ich muss dich schützen.«
So beginnt der Dienst des Golems für die Juden von Prag, während der Maharal von bitterem Zweifel erfüllt ist. Was hat er ins Leben gerufen? Welche Gewalt hat er auf die Welt losgelassen? Er ist ein Mann des Friedens. Er will nur seine Herde behüten. Alle Gewalt in seinem Leben war die Gewalt der Worte. Die Gebete, die er in der Synagoge führt, sprechen unablässig vom Frieden – schalom, schalom –, obwohl der Frieden für die Juden selten anhält. Was sie an Frieden kennen, ist der Friede der wenigen ohne Macht oder Waffen, umgeben von den vielen mit beidem. Thaddeus predigt jede Woche gegen sie. Die mächtigen Handwerksgilden haben schon ein Opfer gefordert, Chaim den Silberschmied, dessen verstümmelten Körper – jeder Nagel ausgerissen, das Auge auf der zerfetzten Wange baumelnd, zahnlose Kiefer, zerschmetterte Füße – er unwillkürlich sieht, wenn er die Augen schließt. Niemand, der das Ghetto verlässt, entgeht Schmähungen, vereinzelten Überfällen in den Straßen der Stadt. Etwas gärt und brodelt, etwas, das von warmem, frischem Blut lebt wie eine Zecke.
Judah hat seine rabbinischen Nebenbuhler mit Worten bekämpft. Mit Worten zertrümmert er ihre Schlussfolgerungen, mit Worten drischt er auf ihre Werke aus Worten ein, ihre Bücher, ihre von Hand zu Hand gereichten Manuskripte, ihre Predigten und Vorträge. Mit Worten schuf er diesen Golem. Aber dieses Ungeheuer kämpft nicht mit Worten.