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11Shira Er, Sie und Es
ОглавлениеYods Augen waren seltsam, dachte sie, obwohl die Farbe keineswegs ausgefallen war, ein Braun, heller als ihre Augen, mit grünen Tupfen in der weiten Iris. Aber die Augen fixierten sie mit ungerührtem und durchdringend neugierigem Blick, rund, glänzend und hart wie die eines Falken. Wäre das Cyborg eine große Katze oder ein sehr großer Vogel gewesen, sie hätte sich vorstellen können, dass es sich fragte, ob dieses Ding, nämlich sie, wohl gut zu fressen sei. Während es auf Eingaben wartete, hatte es da Gedanken in irgendeinem Sinn, den ein Mensch verstehen konnte? Saß es nicht vielmehr leer und untätig da wie jede andere Maschine vor dem Startbefehl?
Yod hatte eine Präsenz, vielleicht hatte Malkah das gemeint, als sie es eine Person nannte. Gimel war einfach bloß, mit ebenso wenig Ausdruck wie ein Reinigungsroboter oder ein Getränkewagen. Yod hingegen stellte eine ganze Reihe von Forderungen, einfach, indem es sie mit diesen hungrigen Augen fixierte und wartete … worauf? Wissen, Beachtung, Kenntnisse, die es verschlingen konnte: Schließlich war sie dazu da, um dies zu vermitteln. Aber sie mochte nicht als übergroßes Kind an es denken, dem sie Gouvernante sein sollte.
Sie begann jedoch, wie sie es bei einem Kind getan hätte, mit einer Versuchsreihe. Für den Rest des Tages plante sie die üblichen Tests. Zur Mittagszeit war sie müde, Yod natürlich nicht. Sie hatte das Gefühl, es hätte am liebsten dagesessen und ein ganzes Jahr lang Tests gemacht. Fragen zu beantworten und Information aufzurufen war eine seiner Funktionen, und das konnte es ewig tun. Wie hatte Gadi Prüfungen gehasst! Avram hatte in gewissem Sinn den Schüler geschaffen, den er gewollt und in seinem Sohn nicht bekommen hatte: eine Lernmaschine. In manchen Bereichen intellektueller Entwicklung und Fähigkeit lagen Yods Leistungen weit über menschlichen Grenzen; in anderen war es durchaus innerhalb normalmenschlicher Parameter. Es war wie ein aufgewecktes Kind, vielleicht so ein Kind, wie Josh es gewesen war, frühreif in seinen naturwissenschaftlichen und mathematischen Kenntnissen, doch ziemlich zurückgeblieben in seinem Verständnis für menschliche Beziehungen und innere Werte. Metaphorisches Denken schien es aus dem Konzept zu bringen. Es neigte dazu, Gespräche wörtlich zu verstehen.
An ihrem zweiten Tag miteinander begann sie da, wo sie aufgehört hatte: bei metaphorischem Denken, der Fähigkeit, Analogien herzustellen. Sie führte einen einfachen Test durch, der für sehr kleine Kinder vorgesehen war. Yods Resultat war null.
Sie probierte das Gedicht von Robert Burns aus:
Oh, mein Lieb ist wie die Rose rot,
Die frisch im Juni blüht.
Oh, mein Lieb ist wie die Melodie,
Die süß zum Herzen zieht.
Es war ein Reinfall. »War er ein Botaniker? Ein Musiker?«
»Yod, denk an eine Rose.«
»Eine Rose ist eine Blume, die mit einer Reihe von essbaren Früchten nahe verwandt ist. Ihre Hagebutten werden manchmal als Suppe oder Gelee gegessen, aber normalerweise wurden sie in der Vergangenheit von Vögeln geerntet. Rosen sind ein übliches Geschenk, um Zuneigung zu zeigen. Sie besitzen Farbe, Duft, Form –«
»Hast du je eine Rose gesehen?«
»Im Lexikonprogramm.«
»Ich meine eine richtige Rose.«
»Nein.« Es gelang Yod, mit seiner tiefen Stimme Bedauern nachzuahmen.
»Rosen wachsen auf der Südseite dieses Gebäudes, alte Rosenstöcke, rot und rosa. Hast du sie nie bemerkt?«
»Ich habe noch nie die Außenseite dieses Gebäudes gesehen.«
»Du bist noch nie aus dem Labor herausgekommen?«
»Ich bin in Avrams Wohnung gewesen, bevor Gadi zu Besuch kam. Fast jede Nacht gehe ich ins Kellergeschoss, wo Avram eine Sporthalle eingerichtet hat. Dort übe ich mit Gimel meine asiatischen Kampfsportarten. Er reicht aus, um mir die Herausforderung zu bieten, die ich von einem menschlichen Partner nicht bekommen könnte.«
»Aber du warst noch nie draußen?«
»Noch nie. Avram sagt immer, ich bin nicht bereit. Kannst du mich bereitmachen?«
»Ich glaube nicht, dass du je bereit sein wirst, wenn wir im Labor bleiben. Ich werde dich gleich jetzt mit hinausnehmen, in mein Haus.« Ihr kam der Gedanke, dass Avram wütend sein würde, aber sie musste auf ihre eigene Weise vorgehen. »Also, auf der Straße haben wir nur zwei Block weit zu gehen – du weißt, was ein Block ist?«
»Der Plan der Stadt befindet sich in meinem Gedächtnis.«
»Solange wir draußen sind, gehst du neben mir und hältst deinen Mund.«
Yod schloss fest den Mund, als müsse es einen großen Happen drinbehalten.
»Ich meine das nicht wörtlich. Ich meine, du sollst zu niemandem etwas sagen außer Hallo, wenn du direkt angesprochen wirst. Wenn ich dich vorstellen muss, heißt du … Yod Oblensky. Du bist ein Vetter von Avram. Ansonsten überlässt du das Reden mir. Hast du verstanden?«
Es grinste so breit, dass sein Gesicht aufzuplatzen schien. »Danke, Shira. Ich habe mich danach gesehnt hinauszugehen. Ich denke jeden Tag daran. Ich habe sogar erwogen, heimlich auf eigene Faust zu gehen, aber Avram schließt mich ein, und ich bin nicht geneigt, das Schloss aufzubrechen.«
»Könntest du das denn? Es ist ein Hochsicherheitsschloss.«
»Ich könnte es aufbrechen.«
Sie war erschreckt von Yods Geständnis, dass es daran gedacht hatte, sich Avram zu widersetzen. Sie hatte immer gemeint, ein Roboter könne sich nicht widersetzen. Letztlich hatte es das auch nicht getan, aber dass es eine solche Möglichkeit überhaupt in Erwägung ziehen konnte, erstaunte sie. Sie musste schnellstens herausfinden, ob seine angebliche Fähigkeit, neue Situationen zu meistern, tatsächlich vorhanden war, und ob es in einem Maße lernfähig war, das über das Sammeln und wieder Ausspeien von Fakten hinausging. Yod mit hinauszunehmen war ihr erster Schritt im Erkunden seiner wahren Möglichkeiten.
Wie sie erwartet hatte, waren zu dieser Vormittagszeit wenig Menschen auf der Straße. Das zweite Drittel eines normalen Arbeitstages war angebrochen, und sogar Leute, die in Schichten oder früh oder spät arbeiteten, waren alle an ihrem Arbeitsplatz. Die Kinder waren in Tagesstätten oder in der Schule. Nur ein Reinigungsroboter kam die Straße entlanggeklappert, hielt immer wieder an, um Abfall aufzuheben und zu fegen.
Als das Gerät in ihre Nähe kam, schoss es vor, um Unrat aufzuspießen. Sofort stürzte sich Yod darauf, packte es, schmetterte es gegen die Bordsteinkante. Der Bordstein zersplitterte unter dem Aufprall. »Yod! Das ist ein Straßenkehrer. Komm. Schnell. Ich möchte das nicht erklären müssen.«
Yod beugte sich über den zertrümmerten Apparat. »Es hätte eine Bombe sein können. Jetzt verstehe ich. Ein Reinigungsapparat?«
»Wie fühlst du dich, wenn du so einen Apparat siehst? Fühlst du eine Art Verwandtschaft?« Sie musste drauf und dran sein, ihren Verstand zu verlieren, eine Maschine zu fragen, wie sie sich fühlte.
Yod stand auf und ging zu ihr. Wenn es sich nicht im Sicherheitsmodus befand, bewegte es sich mit erstaunlicher Grazie. »Fühlst du eine Art Verwandtschaft, wenn du Tilapia isst?«
»Warum sollte ich?«
»Du bist biologisch mit diesem Fisch so nah verwandt wie ich mechanisch mit diesem Reinigungsroboter. Vielleicht sogar näher.«
Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Da hast du mir ja schön den Kopf zurechtgesetzt, was?«
»Zurechtgesetzt?« Behutsam griff es an ihre Schläfen. »Sitzt er denn nicht richtig?«
»Ich habe metaphorisch gesprochen. Du sollst gar nichts zurechtsetzen. Geh einfach weiter, bitte.«
Das Cyborg reckte den Hals und spähte umher, plötzlich schoss es herum, um die Straße hinter ihnen zu mustern. Unvermittelt sprang es in Angriffsstellung.
»Du wirst lernen müssen, Metapher und Vergleich anzuwenden, Yod, wenn du dich jemals halbwegs menschlich anhören sollst. Übrigens, das ist ein Hund. Das ist kein Kampfhund, der angreift. Das ist ein Spaniel und er tut mir nichts.«
»Dieses Gleichsetzen von ungleichen Dingen auf eine Weise, die andeutet, dass eine gewisse Gleichartigkeit wichtig ist, verwirrt mich.« Widerwillig wandte sich Yod von dem schwanzwedelnden Hund ab. »Wie willst du wissen, ob dir solch ein Tier nichts tut?«
»Hier drin.« Die Tür öffnete sich auf ihre Berührung. »Kampfhunde greifen an. Vielleicht knurren sie vorher oder sie greifen sofort an. Die meisten Hunde aber wedeln mit dem Schwanz und warten ab, um deine Absichten zu erkennen. Wir verständigen uns mit ihnen von Säugetier zu Säugetier, aber offen gestanden, ich weiß nicht, wie du für einen Hund riechst.«
»Willkommen, Shira«, sagte das Haus. »Was ist das für ein Apparat bei dir?«
»Das ist ein Cyborg namens Yod. Du sollst es wie eine Person behandeln. Beschütze es.«
Das Haus antwortete nicht sofort. Dies war einer der Augenblicke, in denen sie das Gefühl hatte, als sei die Persönlichkeit des Hauses, unverändert seit Shiras frühesten Erinnerungen, keine künstliche, sondern eine natürliche. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass das Haus ihren Auftrag missbilligte. Schließlich sagte das Haus: »Auftrag vermerkt, Shira.«
»Ich danke dir«, sagte Yod. »Das war sehr freundlich von dir. Darf ich jetzt reden?«
»Haus, lass niemand herein außer Malkah. Ja, du darfst reden.«
»Der Himmel ist nicht blau. Aufgrund der Information, die mir in meinem Lexikon gegeben wurde, hatte ich erwartet –«
»Du siehst also Farben.«
»Ich nahm an, du hast Avrams Konstruktionspläne durchgesehen.«
»Yod, das Material darüber ist so umfangreich wie eine komplette Enzyklopädie. Ich habe das Wichtigste quer gelesen.«
»Ich könnte alles in wenigen Stunden durchlesen. Ja, ich sehe Farben so wie du, obwohl ich meine Sicht ändern kann, um, wenn notwendig, auf Infrarot oder Ultraviolett umzustellen – zum Beispiel in einer Überwachungssituation.«
»Der Himmel ist nicht blau wegen des Treibhauseffekts. Wir hoffen, dass der Himmel eines Tages wieder blau sein wird … Warst du enttäuscht?«, fragte sie als Experiment. Sie wollte sehen, ob das Cyborg das Prinzip verstand.
»Er war nicht so, wie ich es erwartete.« Yod machte eine Pause und runzelte die Stirn. Es war mit einer komplexen Programmierung ausgestattet, um Entsprechungen menschlicher Gesichtsausdrücke nachbilden zu können, und zuweilen fand sie sein künstliches Einfühlungsvermögen irritierend. »Ich nehme an, es ist korrekt zu sagen, dass ich enttäuscht bin, wenn Enttäuschung beinhaltet, dass etwas nicht meinen Erwartungen entsprach.«
Sie führte ihn geradenwegs in den Hof. »Schau. Also das ist eine Rose.«
Yod ging darauf zu und streckte eine Hand aus, um eine Blüte zu untersuchen. Dann zog es mit einem Ausruf seine Hand zurück. »Sie ist bewaffnet.« Es packte die gewaltige alte Kletterrose, riss sie mitsamt Spalier und Krampen von der Wand und zerrte die Wurzeln aus der Erde.
»Yod! Was hast du getan!« Sie schlug ihn, bevor sie nachdenken konnte, im Zorn. Ihn zu schlagen fühlte sich ganz so an, als schlüge sie einen Menschen, nur dass er nicht zusammenzuckte. »Dieser Rosenstrauch war sechzig Jahre alt. Ich habe diese Rosen geliebt!«
Das Cyborg stand da und schaute auf die gewaltige Ranke, die es von der Hofmauer gerissen hatte. »Ich habe dich erzürnt.«
»Yod, ich hätte dich nicht schlagen sollen.« Es wusste es ja nicht besser.
»Ich möchte dich nicht ärgerlich und unglücklich machen. Shira, ich habe nie verstanden, warum Menschen sich entschuldigen, aber jetzt habe ich das Bedürfnis, es zu tun. Sie versuchen, dieses Gefühl loszuwerden, im Unrecht zu sein. Sie drücken den Wunsch aus, das ungeschehen zu machen, was sie getan haben, aber es ist getan und Bedauern ist sinnlos. Was kann ich tun, um das zu reparieren?« Es begann in der Erde zu scharren und pflanzte die ausgerissenen Wurzeln wieder ein. »Bitte, Shira, sag mir, was ich tun soll, um rückgängig zu machen, was ich beschädigt habe.«
»Ich fürchte, sie wird eingehen, aber wir werden sie zurückschneiden und es versuchen.« Sie holte einen Spaten aus dem Gartenschuppen. »Warum hast du sie angegriffen?«
»Sie hat mich zuerst angegriffen, Shira … Das war ein Dorn?«
»Spürst du Schmerz? Ist das möglich?«
»Ich wurde mit Lust- und Schmerzzentren gebaut. Ich mutmaße, dass Avram mich dadurch kontrollieren wollte und dass es mich motivieren soll, neben meiner Hauptprogrammierung zu Schutz, Überleben und Informationsbeschaffung.«
»Ich habe dich hergebracht, um die Rose kennenzulernen. Was davon übrig ist.« Sie seufzte, und mit der Schere, mit der sie die alte Kletterrose zurückgeschnitten hatte, entfernte sie aus dem Haufen abgehackter Zweige einen Stängel mit gelben Blüten.
Yod streckte behutsam eine Hand aus. Es ergriff eine Rose, pflückte sie geschickt und führte sie an sein Gesicht. »Die Farbe, der Duft und die Form entsprechen genau der Information in meinem Speicher. Aber sie hat auch eine seltsam angenehme Haptik. Ich denke, man könnte es beschreiben als … wie Samt, vielleicht? Benutze ich einen Vergleich korrekt?«
»Ausgezeichnet, Yod.« Sie ertappte sich dabei, dass sie lächelte. Lächeln, wie fühlte sich das eigenartig an; wie wenig hatte sie in ihrer jüngsten Vergangenheit zu lächeln gehabt.
»Ich muss jedoch anmerken, dass die Samt-Analogie äußerst unvollkommen ist. Ich kann die einzelnen Bestandteile des Samt-Flors erspüren – ich kenne das Material von den Vorhängen des Wohnzimmers in Avrams Wohnung. Im Falle des Tasterlebnisses der Rose ist die sanfte Glätte gleichmäßiger als ein Flor, und es ist mehr Feuchtigkeit vorhanden.«
»Trotzdem, erinnerst du dich an das Robert-Burns-Gedicht?«
Yod sagte es mit perfekter Imitation ihrer Intonation auf.
»Also, was meint er damit?«
»Er meinte, dass die Frau schön war wie diese Blume, und vielleicht, dass sie nach Parfüm roch.«
»Woher weißt du, dass die Rose schön ist?«
»Meine Basis sagt mir, sie wird von Menschen dafür gehalten: dass Blumen schön sind, obwohl es andererseits auch scheint, dass Menschen oft verschiedener Meinung darüber sind, wer oder was schön ist, und dass jede Epoche andere Ansichten hat. Schönheit ist kein Begriff, den ich nützlich finde. Ich verstehe nicht, was er bedeutet, außer Eleganz im Design.«
»Das Gedicht hat noch einen weiteren Sinn. Weißt du, wie lange Rosen sich halten?«
»Nein.« Yod neigte den Kopf und wartete.
»Blumen sind zumeist Geschöpfe des Augenblicks. Diese Rose da beginnt schon zu welken. Wenn du ihren Stängel in Wasser stellst, wird sie sich ein paar Tage halten.«
»Deswegen bedeutet ein Blumenvergleich kurze Dauer.«
»Richtig.«
Es runzelte die Stirn. »Dann ist es ein trauriges Gedicht.«
»Nicht direkt. Aber da ist ein Unterton von Sterblichkeit. Bei uns gibt es oft einen Unterton von Sterblichkeit.«
»Ich bin auch sterblich, Shira. Ich kann abgeschaltet werden, außer Dienst gestellt werden, zerstört werden.«
»Und du kannst Schmerzen fühlen, was mich überrascht. Aber wie empfindlich bist du?«
»Ich bin überhaupt nicht empfindlich. Menschen sind erstaunlich empfindlich, wenn ich eure Konstruktionspläne recht verstehe.«
»Der Gedanke von Konstruktionsplänen für Menschen ist metaphorische Sprache, Yod, da wir nicht konstruiert oder gebaut werden, sondern geboren.«
»Ich versuche die Bindung zu verstehen, die durch den Geburtsvorgang entsteht. Sie ist ziemlich stark?«
»Es gibt keine stärkere Bindung.«
»Ich kann deinem Gesicht ablesen, dass meine Erwähnung der Mutterschaft dich bestürzt hat.«
»Sie ist kein Thema, mit dem ich objektiv umgehen kann, noch nicht, vielleicht nie. Ich versuche die ganze Zeit über, nicht an meinen Sohn zu denken.«
»Ich möchte mein Mitgefühl ausdrücken – ist das die richtige Begrifflichkeit? –, aber ich weiß nicht, wie ich das tun kann, ohne dich weiter an das zu erinnern, was du vergessen möchtest.«
»Ich habe nicht die Absicht, es zu vergessen, Yod, aber ich danke dir.« Warum erzählte sie einer Maschine von ihrem Schmerz? Es war, wie sich beim Haus ausweinen, als sie ein sehr kleines Mädchen war und noch nicht verstand, dass das Haus nicht lebendig war. »Wir sollten ins Labor zurückkehren.«
»Aber das Gedicht, das du mir beigebracht hast, ist doppelsinnig. Woher weißt du, dass er von der Frau spricht? ›Meine Liebe gleicht einer roten Rose‹ könnte seine eigenen Gefühle für sie meinen. Sie könnten das sein, was er als schön preist und als vergänglich ankündigt.« Er hob eine Augenbraue, lächelte ihr leicht zu und wartete.
»Daran habe ich noch nie gedacht.« Sie schaute Yod erstaunt an. »Offen gestanden, ich würde das Gedicht weniger mögen, wenn ich dächte, dass Burns es so gemeint hat. Auf seine Beziehung passt diese Deutung wahrscheinlich, so wie auf die meisten, aber das ist kein Grund zum Feiern. Du hast das Thema gewechselt. Wir sollten zurückkehren.«
»Müssen wir? Ich würde gern alles von deinem Haus sehen. Die Bäume interessieren mich auch. Ich habe sie von Avrams Fenstern aus gesehen, aber ich bin ihnen noch nie nahe gekommen.« Er benahm sich anders mit ihr, als er es im Labor mit Avram getan hatte. Er war ein bisschen weniger schreckhaft und sehr viel ausdrucksvoller. Er war ihr gegenüber viel lebhafter geworden, seit sie ins Haus gekommen waren. »Die Blätter sind an jedem anders. Ist das … Obst?«
»Das sind unreife Pfirsiche.«
Es entstand eine Pause, während Yod abfragte, was ein Pfirsich war. Als er die Frucht untersuchte, wollte sie ihn schon warnen, sie nicht abzureißen, aber dann bemerkte sie, wie außerordentlich präzise und sorgfältig er seine Hände gebrauchte. Sie gewöhnte sich langsam an das leicht verdutzte Stirnrunzeln der Konzentration, das ihn überkam, wenn er neue Informationen aus seinen Datenbanken abrief. »Hast du hier ein Zimmer? Gadi hat ein Zimmer in Avrams Wohnung. Avram hat auch ein Zimmer, das nur seins ist. Dazu gibt es Gemeinschaftsräume wie die Küche, wo die Nahrung zubereitet wird –«
»Das ist üblich. Ja, obwohl ich vor Jahren von zu Hause weggegangen bin, hat Malkah das Zimmer für mich so bewahrt, wie ich es verlassen habe. Vor der Kisrami-Pest von ’22, so wurde mir erzählt, wohnten mehrere Familien in diesem Haus, aber jetzt nur noch wir beide.«
Er kam ein letztes Mal zur Kletterrose zurück. »Geschöpf einer Stunde. Doch auch meine Vorgänger waren zumeist Geschöpfe einer Stunde. Außer Gimel. Er wird mich wahrscheinlich überdauern. Aber er ist nicht lebendig.«
»Hältst du dich selbst für lebendig?«
»Ich bin mir meiner Existenz bewusst. Ich denke, ich plane, ich fühle, ich reagiere. Ich nehme Nährstoffe zu mir und gewinne daraus Energie. Ich wachse geistig, wenn ich auch nicht körperlich zunehme, aber macht mich das Unvermögen zur Fettleibigkeit weniger lebendig? Ich spüre das Verlangen nach Gesellschaft. Wenn ich nicht zeugungsfähig bin, so sind das viele Menschen auch nicht. Wird nicht die Hälfte eurer Bevölkerung von Unfruchtbarkeit heimgesucht?«
Sie beschloss, auf dieses Thema nicht weiter einzugehen. Stattdessen führte sie ihn in die Küche. »Was meinst du damit, deine Vorgänger waren Geschöpfe einer Stunde?«
»Benutze ich die sinnbildliche Sprache nicht korrekt?«
»Das kann ich nicht sagen, bevor du es weiter erklärst.«
»Du kennst das Schicksal von Alef. Du warst zugegen, nicht wahr?«
»Avram hat dir davon erzählt?«
Yod blieb stehen und wandte sich zu ihr um. Seine Augen bohrten sich in sie. »Avram hat mir nichts erzählt. Ich verschaffte mir Zugriff zu seinen Aufzeichnungen. Außer Gimel, den man völlig zu Recht zurückgeblieben nennen kann, hat Avram jeden meiner Brüder zerstört.«
»Alle Cyborgs, die dir vorangingen, meinst du.«
»Sie hatten alle ein Bewusstsein, Shira, außer Gimel. Einen völlig lebendigen Geist.«
»Das verstört dich.«
»Wenn deine Mutter vor deiner Geburt acht Geschwister von dir umgebracht hätte, weil sie nicht ihren Vorstellungen entsprachen, wärst du da nicht beunruhigt?«
»Du fürchtest, dass er dich auch zerstören wird?«
»Ich wäre töricht, wenn mir dieser Gedanke nicht gekommen wäre.« Dann lächelte er, mit melancholischem Ausdruck. »Deshalb rede ich ihn mit Vater an.«
»Bitte was?«
»Es ist ein schwacher Versuch, eine Bindung herzustellen, die mich vielleicht bewahren wird. Woher weiß ich, dass er nicht beschließt, mich zu verschrotten? … Also zeige mir das Haus.«
»Warum interessierst du dich dafür?«, fragte sie, führte ihn aber dennoch in das zentrale Computerarchiv, Malkahs Büro daheim und das Gehirn des Hauses. Ihr war bewusst, dass er das Thema zweimal taktvoll gewechselt hatte, und sie merkte außerdem, dass sie ein anderes Fürwort dachte: ›er‹.
Er setzte sich an den Computer und koppelte sich rasch an die Schnittstellen. Sie nickte ihm zu, dass er ihren Stecker benutzen konnte. Schließlich würde Yod sie nicht mit Keimen infizieren. Sie bezweifelte, dass Bakterien auf ihm gediehen; er gab wohl keinen fruchtbaren Nährboden ab. »Sogar in ihren Programmen«, bemerkte er ein paar Minuten später, während er die Verbindung löste, »erhält man einen starken Eindruck von Malkahs Persönlichkeit, ist dir das aufgefallen?«
»Ich denke, das gilt für alle kreativeren Systeme.«
Er wartete darauf, dass sie ihn führte, also tat sie es, durchs Wohnzimmer, dann hinauf zu den oberen Zimmern. Doch als sie die Treppe hochkamen und den im ersten Stock rundum laufenden Balkon betraten, kündigte das Haus Malkah an. Yod beugte sich über das Geländer und winkte. »Malkah! Schau, ich bin zu Besuch. Shira hat mich hergebracht.« Sofort stieg er über die Brüstung und ließ sich wie eine Katze auf die Steinfliesen im Hof fallen. Shira beugte sich vor. »Yod! Alles in Ordnung?«
»Vollkommen.« Er wirkte verwundert. Er eilte auf Malkah zu, die ihm ihre weit geöffneten Arme entgegenstreckte. Shira stöhnte und stieg langsam die Treppe hinunter. Malkah mochte ja ein Stück weit recht haben, man musste Yod als eine Art Wesenheit behandeln, eine Maschine mit Bewusstsein, aber ihn in die Arme zu schließen schien mehr als abstrus.
Als sie zu ihnen stieß, hatte sich Malkah in ihren gewohnten Sessel gesetzt und Yod kniete vor ihr, er redete sehr viel schneller, als sie ihn je hatte sprechen hören, die Worte überkugelten sich: »… wie sehr ich dich vermisst habe. Über die Datenleitung zu kommunizieren ist nicht das Gleiche, wie dich zu sehen, das verstehe ich jetzt.«
»Avram entschied, dass ich einen schlechten Einfluss auf Yod hatte, also schloss er mich aus.«
»Einen schlechten Einfluss?«, fragte Shira.
»Ich bin für einen Teil von Yods Programmierung verantwortlich. Avram hat mich als letzte verzweifelte Karte ins Spiel gebracht, um das Projekt zu retten.«
»Malkah, ich habe hier heute etwas Schlimmes getan. Ich habe deine Kletterrose zerstört.« Er erklärte es rasch.
»Yod, du kannst nichts für deine gewalttätigen Triebe, aber ich habe versucht, ein Gegengewicht einzubringen. Mit der Zeit wirst du vielleicht lernen, deine Kraft klüger einzusetzen.«
»Malkah ist meine Freundin. Die Einzige, die mich als Person behandelt und nicht als Werkzeug.« Er strahlte sie beide an, ein offenes, unschuldiges Lächeln der Freude. »Aber du hast mich heute mehr zu einer Person gemacht, indem du mich in die Welt hinausgebracht hast.«
»Aber, Malkah, wieso bist du so früh nach Hause gekommen?« Shira las die Zeit auf ihrer inneren Uhr ab. Es war 14:35:11. Bald musste sie Yod ins Labor zurückbringen.
Malkah lehnte sich in ihrem Sessel zurück, erschöpft oder von etwas bedrückt. »Yod informierte mich über die Datenleitung, dass er hier ist.«
»Du bist sehr schnell«, sagte Shira zu ihm. Sie hatte es überhaupt nicht gemerkt.
Er nickte, immer noch strahlend. »Der Schnellste.«
»Wir hatten heute Vormittag wieder einen Unglücksfall«, sagte Malkah und rieb sich heftig die Augen. »Aviva Emet.« Sie seufzte, ihre Hände umklammerten die Armlehnen ihres Sessels.
»Was meinst du damit, wieder ein Unglücksfall?«, fragte Shira.
»Im letzten Jahr wurden fünf unserer Programmierer getötet und zwei weitere zu menschlichem Gemüse reduziert. Es passiert, während sie in die Basis eingestöpselt sind und arbeiten. Überdies wird uns unser Zeug gestohlen. Wir nehmen an, dass es Piraten sind. Sie morden, und dann stehlen sie.«
Plötzlich verstand Shira. »Und Yod soll darauf vorbereitet werden, sich in die Basis zu begeben und diese Bedrohung zu bekämpfen?«
Malkah nickte. »Unter anderem.«
»Ich kannte Aviva Emet gar nicht. War sie eine Freundin?«
»Sie war jünger als du, Shira, und hochintelligent. Sie kam letzten Herbst her und hat sich alles selber beigebracht. Das, wofür sie sie umbrachten, um es zu stehlen, war etwas, was wir zu einem sehr guten Preis verkaufen wollten. Es war für den Verkauf noch nicht vollständig genug, aber offensichtlich genügte es, um gestohlen zu werden.«
Shira fragte Yod: »Verstehst du, was sie mit dir vorhaben?«
»Ich wurde geschaffen, um zu dienen.« Yod zuckte die Achseln. »Ich bin besser dazu geeignet, diese Überfälle zu untersuchen als irgendjemand sonst. Vielleicht bald.« Er stand auf und schaute sich nach etwas um, worauf er sitzen konnte. Da kein passender Stuhl vorhanden war, hob er einen Granitblock auf, eine alte Pferdetränke, die im Garten stand, und stellte ihn beiläufig neben Malkahs Sessel, zu einer Gesprächsrunde. Malkah warf Shira einen amüsierten Blick zu. Sie nahm sich sichtlich zusammen, wie sie es immer nach einem seelischen Schock tat. Malkah hatte Shira in dem Glauben aufgezogen, dass die richtige Antwort auf einen Schicksalsschlag ist, sich aufzurichten und voranzuschreiten. Falls Malkah der getöteten Frau nahe gestanden hatte, so würde Shira das nur nach und nach herausfinden, denn sie trauerte langsam und nur dann und wann.
Shira beobachtete immer noch Malkahs Verhalten gegenüber Yod. Es war fast kokett. Es schockierte sie etwas. Malkah reagierte auf Yod eindeutig wie auf ein männliches Wesen. Shira hatte erlebt, wie Malkah mit Katern flirtete, aber mit einer Maschine?
Wie Shira befürchtet hatte, war Avram wütend. Er wies Yod an, in das innere Labor zu gehen, aber Yod setzte sich still in die Ecke.
»Ich habe dir befohlen hinauszugehen.«
»Es wäre aber nicht vernünftig für mich, es zu tun. Das hier betrifft mich, Vater.«
Avrams Augen glitzerten vor Zorn. Es gibt Menschen, die vor Zorn anschwellen, dachte Shira, aber Avram schien davon heller zu strahlen. »Wie kannst du es wagen, ihn aus dem Labor rauszubringen?«
Sie zwang sich, nicht zu katzbuckeln und möglichst ruhig zu klingen. »Er braucht mehr Erfahrung, mehr Anregung, als er sie eingesperrt hier drin erhält. Es wird Zeit für ihn, unter Menschen zu kommen. Er muss lernen, in Gesellschaft zu funktionieren. Avram, wir müssen irgendwo anfangen. Wenn wir zusammen sind, werden die meisten Leute sich damit beschäftigen, dass ich zurück bin und welchen Klatsch sie gehört haben. Yod wird ein wenig geschützt sein.«
»Wo hast du ihn hingebracht?«
»Nur in mein Haus und dann zurück.«
»Wir haben Malkah gesehen«, gab Yod unaufgefordert von sich. »Sie kam nach Hause. Ich war sehr froh darüber, mit ihr zu reden.«
Wie Shira auffiel, erwähnte er nicht, dass er Malkah gerufen hatte.
Avram wandte sich wieder ihr zu. »Hast du sie allein gelassen?«
»Nein«, sagte sie. »Ich war die ganze Zeit mit Yod zusammen. Wovor hast du Angst?«
»Lass sie ja nie allein zusammen. Ich traue Malkah nicht.«
»Ich schon«, sagte Yod leise. »Sie ist meine Freundin.«
Avram schnaubte. »Wie auch immer, ich gebe zu, dass er schon Fortschritte gemacht hat. Aber sei außerordentlich vorsichtig. Lass ihn vorläufig noch mit niemand reden und gib keine komplizierten Erklärungen ab. Sollen wir uns auf eine Tarnung einigen? Wir werden sagen, er ist mein Vetter, wie du vorgeschlagen hast, und er ist gekommen, um als mein Laborassistent zu arbeiten. Alle wissen, dass ich seit Davids Unfall keinen hatte.«
Sie war erleichtert, dass Avrams Zorn besänftigt war. Es machte sie zuversichtlicher für die Zusammenarbeit mit ihm. Hinter Avrams Rücken schrieb Yod etwas in die Luft: den hebräischen Buchstaben Chet, die Ursache von Davids tödlichem Unfall.