Читать книгу Ein Bruder lebenslänglich - Margrith Lin - Страница 14
Bei der Grossen Tante Das Herrschaftshaus
ОглавлениеAn einem schönen Frühlingstag sah ich, wie Mama meine Kleider in den kleinen Binsenkoffer packte, der sonst oben auf dem Dachboden stand. Ich dürfe für einige Zeit zu meiner Grosstante in die Ferien gehen. Mama hatte im Moment wenig Zeit für mich, und sie konnte mich nicht allein zu Hause lassen, wenn sie den Bruder besuchte. Dass es noch einen anderen Grund gab, warum Mama entlastet werden sollte, erfuhr ich erst später.
Grosstante war die grosse Schwester meiner Grossmutter. Sie war gertenschlank. Grosstante hatte die Haare hinten zu einer Rolle zusammengesteckt und trug eine schwarze runde Drahtbrille, was ihr ein strenges Aussehen gab. Wir meinten, sie heisse Grosstante, weil sie so gross gewachsen war, dies im Gegensatz zu unserer eher etwas behäbigeren Grossmutter. Deshalb nannten wir Kinder sie die Grosse Tante.
Vor der Heirat unserer Grossmutter führten die beiden Schwestern gemeinsam eine Schneiderei. Ihre Mutter früh verloren und in armen Verhältnissen aufgewachsen, hatten sie die Gelegenheit, im Waisenhaus einen Kurs als Weissnäherinnen zu besuchen. Die Grosse Tante bildete sich anschliessend zur Schneiderin weiter. In kurzer Zeit führten die beiden Schwestern ein florierendes Geschäft mit einigen Lehrtöchtern und einer internationalen Kundschaft aus den Nobelhotels der Umgebung. Grossmutter lernte deswegen in Abendkursen Englisch. Sie war stolz, wenn sie die Kundschaft auf Englisch empfangen konnte. Sie, die nach der sechsten Klasse die Schule verlassen musste, weil das Geld für das Lesebuch der siebten Klasse nicht reichte! Die beiden Schwestern gaben auch Nähkurse für junge Mädchen zur Vorbereitung auf ihre spätere Rolle als Ehe- und Hausfrau. Kurz nach meiner Grossmutter heiratete auch die Grosse Tante. Sie lernte ihren Mann durch seine vier Schwestern kennen. Sie alle besuchten einen Nähkurs bei ihr.
Die Grosse Tante heiratete in eine Familiendynastie ein. Der Familie ihres Mannes gehörte ein direkt am See gelegenes grosses Herrschaftshaus. Man erzählte sich, dass die Schwiegermutter jeweils ins Jagdhorn blies, um ihre sieben Kinder zum Essen zusammenzurufen. Nun waren die Töchter ausgezogen. Grosstantes Mann Gottlieb führte mit seinen zwei Brüdern Xaver und Chasper den Gutsbetrieb mit Bauernhof, Trotte und Käserei. Die Ehe der Grossen Tante und Onkel Gottlieb blieb kinderlos. Deshalb nahm die Grosse Tante immer wieder Kinder aus der Verwandtschaft zu sich, deren Eltern sich aus einem bestimmten Grund nicht um sie kümmern konnten. Auch mein Vater und seine Geschwister waren als Kinder bei der Grossen Tante in den Ferien gewesen. So war es schon fast selbstverständlich, dass nun auch ich für einige Zeit dorthin geschickt wurde.
Die Grosse Tante brachte ihre jüngere Stiefschwester Fanny mit in die Ehe. Fanny war seit ihrer Kindheit etwas schwächlich und galt als wenig lebenstüchtig. Zusammen mit Tante Fanny führte die Grosse Tante dort in der grossen Stube – die so gross wie ein Tanzsaal war, wie meine Mutter sagte – ihr Schneideratelier weiter. Später spezialisierten sich die beiden Schneiderinnen auf das Nähen von Trachten. Sie hatten viele Aufträge vom Schweizerischen Heimatwerk. Die Grosse Tante kam oft in die Stadt, um den Kundinnen die Trachten anzuprobieren. Das Mieder mit dem kunstvoll gestickten Latz musste genau sitzen.
Auf dem Rückweg von einer solchen Anprobe sollte mich die Grosse Tante nun mit sich nehmen. Grossmutter brachte mich zum Schiffsteg, wo die Grosse Tante mich bereits erwartete. Wir fuhren mit dem mächtigen Raddampfer bis zum Anlegesteg in Untermatt. Tante Fanny holte uns dort mit dem alten Leiterwagen ab. Unser Gepäck, die anprobierten Trachten und mein kleiner Koffer, wurden aufgeladen, und zu dritt machten wir uns auf den Weg.
Nun stand ich wieder vor dem altehrwürdigen Haus mit dem langen dunklen Gang und den verwirrend vielen grossen und kleinen Zimmern über mehrere Stockwerke verteilt. Ich kannte das Haus bereits ein wenig, da ich schon früher einmal dort zu Besuch war. Doch dieser Besuch von damals war von einem Ereignis überschattet, welches mich mein ganzes Leben lang verfolgen sollte: Ich galt als ein besonderer Liebling von Tante Fanny. Wenn sie bei uns war, erzählte sie mir immer von ihrer prächtigen Puppe, die sie mir zeigen würde, wenn ich einmal zu ihr auf Besuch käme. Es war eine grosse Puppe mit einem wunderschönen Kopf aus Porzellan. Heute würde sie wohl ein Vermögen kosten.
An den Anlass des Besuches kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich sehe nur noch, wie Tante Fanny mir diese kostbare Puppe sorgfältig in den Puppenwagen legt. Der Puppenwagen hat hohe Räder. Dann lässt sie mich mit dem Wagen die Strasse entlangfahren, verschwindet im Haus und tritt plötzlich auf der anderen Seite des Hauses wieder zur Türe heraus, wohl um mich zu überraschen. Ihre Überraschung gelingt. Voll Freude, die Tante wieder zu sehen, will ich zu ihr eilen und lasse dabei den Wagen fahren. Dieser streift den Randstein, kippt um und der wunderschöne Porzellankopf zerschellt auf der Strasse …
Hier habe ich einen Filmriss. Ob ich damals gescholten oder gar bestraft wurde, daran kann ich mich nicht erinnern, aber dieses Missgeschick blieb ein Leben lang an mir haften. Wieder zu Hause bekam ich eine persönlich an mich adressierte Postkarte von Onkel Gottlieb. Auf der Karte befand sich das Porträt eines kleinen Mädchens. Am unteren Rand war mit schwarzer Tinte eine Zeichnung angefügt: Ein Mädchen fährt mit dem Puppenwagen die Treppenstufen runter, ein umgekippter Wagen, Tränen, ein Scherbenhaufen! Ich schämte mich, ärgerte mich jedoch auch, da diese Zeichnung nicht stimmte.
Auch Tante Fanny sprach bis zu ihrem Tod mit neunzig Jahren von meinem Missgeschick und trauerte um die schöne Puppe.