Читать книгу Ein Bruder lebenslänglich - Margrith Lin - Страница 6

Prolog Diesmal ist es anders

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Die Barockkirche ist nicht von feierlicher Orgelmusik erfüllt, sondern vorne im Chor bringen zwei volkstümlich gekleidete Akkordeonisten Leben in die heiligen Hallen. Auffällig die knallrot lackierten Fingernägel der klein gewachsenen Frau, welche sich von den lüpfigen Klängen mitreissen lässt. Sie zwängt sich durch die Bankreihen und schreitet im Rhythmus der Musik das Kirchenschiff ab, pausenlos auf und ab. Nebenan wirft eine Greisin ihre Puppe zum hundertsten Mal zu Boden. Diese wird von hilfreichen Händen immer wieder aufgehoben und ihr in den Schoss gelegt. Ein endloses Spiel.

Ein behelmter Junge richtet sich kreischend in seinem Rollstuhl auf und klatscht lautstark in die Hände. Ein Ausdruck ungezähmter Freude? Gilt das wohl auch für den Mann, der fortwährend seinen Pullover hochzieht, seinen nackten Bauch zur Schau stellt und dazu grunzende Laute von sich gibt? Eine Gestalt mit einem riesigen Kropf, fast so gross wie ihr Kopf, hastet am Altar vorbei.

Diese hier versammelten Geschöpfe beelenden mich, schnüren mir das Herz zusammen. Ich bin als Angehörige eingeladen. Neben mir ist mein Bruder, auch er rastlos, im Sekundentakt wiederholt er die gleichen Fragen. Er ist neu und kennt dieses Fest noch nicht.

Tränen schiessen mir in die Augen. Doch die fröhliche Stimmung rundherum nimmt mich mit und lullt mich ein, ein calderonisches Welttheater, alle hier Versammelten spielen ihre Lebensrolle, und ich bin mittendrin in diesem grossen Spektakel. Dazu passt die barocke Kulisse der Klosterkirche vortrefflich. Wir sind alle in diesem Spiel gefangen, spielen die uns vom Schöpfer und Meister zugeteilten Rollen so, wie es unsere Lebensumstände bedingen.

«Ich selbst verteile die Rollen

Nach eines jeglichen Natur und Richtung. (…)

Und nun ans Werk! Derweilen ich dirigiere,

Sei du die Bühne und der Mensch agiere.»

Pedro Calderon, Das grosse Welttheater

«Ich habe das nicht gesucht, nehme nur ­meine Verantwortung als Schwester wahr …»

Auch ich könnte mit diesen Worten ­meine Geschichte als Schwester eines behinderten Bruders beginnen.

Ein Bruder lebenslänglich

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