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Ein anderer Bruder
ОглавлениеInzwischen war ich in der ersten Klasse. Ich lernte Lesen und Schreiben und entwickelte eine rege Schreibtätigkeit. Was ich früher zeichnend verarbeitete, tat ich nun schreibend. Ich verlangte bei der Lehrerin nach Papier und blieb freiwillig länger in der Schule, um meine kleinen Aufsätze zu schreiben. Die Lehrerin nannte mich «Blättlischluckerin». Sie korrigierte jeweils meine Texte und strich die Fehler mit roter Tinte an. Als nun fast das ganze Blatt rot angestrichen war, befand sie, ich würde besser etwas abschreiben, als eigene Geschichten voller Fehler zu schreiben. So wurde meiner Schreib- und Fabulierlust ein Ende gesetzt.
Ich war nun bald anderweitig beschäftigt, denn als ich eines Tages von der Schule heimkam, hatte die Mutter Matratze, Decken und Kissen zum Sonnen über die Teppichstange gehängt.
«Wir können am Sonntag den Bruder abholen.»
Die Sonne beschien das Bettzeug, als wollte sie meinem Bruder als Vorschuss etwas Wärme bringen.
«Kommt er nun für immer nach Hause?»
Wir beiden konnten damals nicht ahnen, wie oft der Bruder noch von zu Hause fortgehen musste.
Beim Austrittsgespräch sagte der Arzt meinen Eltern, ihr Sohn würde sehr viel Liebe benötigen. «Wohl wird es kaum einen Studierten aus ihm geben, aber es müssen ja nicht alle studieren.» Das war alles, was meinen Eltern als Aufklärung über die durch die Krankheit hinterlassenen Schäden ihres Sohnes mit auf den Weg gegeben wurde. «Mach’ dass er brav studiert. Belohn damit sein Streben, dass einst berühmt er wird», dieser Geburtswunsch aus der Feder des Wiener Künstlers musste somit schon früh begraben werden.
Ich war voller Freude, dass der Bruder nun wieder bei uns war und ich einen Spielgefährten hatte. Das Schwesterchen war einfach noch zu klein für meine Spiele.
Mein Bruder machte jedoch wenig her als Spielpartner:
Ich hatte die Kiste mit den Bauklötzen auf den Boden geleert und wollte mit meinem Bruder zusammen etwas bauen. Er war jedoch nicht am Bauen interessiert, sondern nahm zwei Holzklötze und schlug sie einfach nur gegeneinander. Er wusste wohl nichts Besseres damit anzufangen. Ich nahm ihm die Klötzchen aus der Hand und wollte ihm zeigen, was man alles damit machen konnte. Sogleich fiel er über mich her. Seine Finger griffen nach meinen Haaren und zerrten so fest, dass ich zu weinen begann. Mama eilte herbei, um mich zu befreien. Das war nicht einfach, denn seine Finger waren so fest in meine Haare verkrallt! Voll Entsetzten sah ich, wie er ganze Haarbüschel in seinen Händen hielt, meine Haare! Ich konnte nicht verstehen, warum er denn so böse wurde. Ich wollte ihm ja nur helfen.
Solche Anfälle traten immer wieder auf. Oft wusste ich kaum, wie ich mich nachts hinlegen sollte, da mich der Kopf so schmerzte, wenn der Bruder sich wieder an meinen Haaren vergriffen hatte.
Auch das kleine Schwesterchen bekam seinen Teil ab. Für den Bruder gehörte es nicht in diese Familie. Er hatte es ja vorher noch nie gesehen. Als er nach Hause zurückkam, hatte die kleine Schwester gerade Gehen gelernt und war noch unsicher auf den Beinen. Immer wieder stupste er sie um, wenn sie in seine Nähe kam. Glücklicherweise hatte sie damals noch fast keine Haare, und so konnte er sie nicht an den Haaren reissen. Später, als ihre Haare gewachsen waren, fielen auch ihre goldblonden Locken den Wutanfällen des Bruders zum Opfer.
Ich hatte mich mächtig auf meinen Bruder gefreut, so wie ich ihn in Erinnerung hatte, bevor er krank wurde. Doch dieser Bruder hier war ein Anderer. Er war unberechenbar in seinen Reaktionen. Er konnte lieb und fröhlich sein, doch urplötzlich begann er zu toben oder über uns herzufallen. Oft war es schwer nachvollziehbar, was ihn derart in Rage versetzte.
Einmal war der Bruder wieder krank. Er war unruhig und weinte die ganze Nacht. Ich musste mit ihm das Zimmer teilen und hatte deswegen kaum ein Auge zugetan. Am andern Tag in der Schule war ich sehr müde. Die Augen wollten mir zufallen. Bereits mehrmals wurde ich von der Lehrerin ermahnt, ich sollte mich anständig hinsetzen und nicht so in der Bank herumhängen. Nun verlor sie die Geduld. Ich musste mich zur Strafe in die Ecke stellen. In diesem Moment trat der Schulinspektor ein. Wie schämte ich mich, hier in der Ecke zu stehen. Wie ungerecht fand ich die Strafe, doch ich konnte nicht erzählen, warum ich so müde war.
Warum denn eigentlich nicht? Die Lehrerin kannte unsere Familie gut. Sie war auch schon bei uns zu Hause, weil meine älteste Schwester bei ihr im Sommerlager war. Warum war denn mein behinderter Bruder nie ein Thema? Heute frage ich mich, warum ich mich nicht erklären konnte, wenn mein Bruder mir das Zeichnungsblatt zerriss oder wenn durch seine Schuld Tintenkleckse mein Heft verunstalteten? Ich kassierte Schelte und musste mich damit abfinden, dass ich einen besonderen Bruder hatte, dass unsere Familie anders war. Deswegen schämte ich mich auch immer wieder.
Erst viel später erfuhr ich, dass einer meiner Mitschüler einen schwerstbehinderten Bruder hatte. Der Mitschüler stammte aus einer alteingesessenen Arztfamilie. Es hätte mir sehr geholfen, wenn ich von diesem Bruder gewusst hätte.