Читать книгу Ein Bruder lebenslänglich - Margrith Lin - Страница 16
In der Schneiderei
ОглавлениеDie meiste Zeit hielt ich mich im Schneideratelier auf, wo die beiden Grosstanten mit ihren Näharbeiten beschäftigt waren. Es war eine Fundgrube an Spielmaterial: alte Stoffresten, leere Fadenspulen, Knöpfe und sonst allerlei, was in einem Schneideratelier als Abfall anfiel. Die Grosstanten liessen mich an ihrem Arbeitstisch spielen. Ich schaute ihnen bei ihrer Arbeit zu und kopierte ihre grossen weissen Stiche für meine Näharbeiten. «Z’fadeschloh» nannten sie dies. Ich wusste nicht, dass diese grossen Stiche nur Heftnähte waren, die man nach Fertigstellung der Naht wieder auftrennen musste. Doch die Grosse Tante spendete mir Lob für meine Arbeit: «Aus dir wird sicher einmal etwas!» Obwohl sie sonst kaum Lob verteilte, war es ihr wichtig, mir das zu sagen. Ihre Patin, bei der sie nach dem Tod der Mutter für einige Zeit wohnen musste, hätte ihr immer gesagt, dass aus ihr nichts werden würde. Als die Grosse Tante dann ihre Ausbildung zur Schneiderin abgeschlossen hatte, war der lapidare Kommentar der Patin: «Ich hätte nie gedacht, dass aus dir einmal etwas wird.»
Ich sang gerne, was offenbar den beiden Tanten gefiel. Einmal während des Arbeitens wurde ich von der Grossen Tante aufgefordert, doch wieder dieses Lied zu singen, welches ich immer wieder vor mich hinträllerte. Voll Inbrunst sang ich Marias Lied vom kleinen Mädchen, welches sich am Grab seiner Mutter über die böse Stiefmutter beklagt. Offenbar hörte mir die Grosse Tante zum ersten Mal richtig zu. Sie wurde plötzlich ärgerlich und verbot mir, dieses Lied je wieder zu singen. Ich war verwirrt. Was hatte ich denn falsch gemacht? Erst später begriff ich: Grossmutter und die Grosse Tante waren ja selbst bei einer Stiefmutter aufgewachsen, ihre eigene Mutter lag eines Morgens tot neben ihnen im Bett. Aus Bemerkungen von Grossmutter und der Grossen Tante musste ich schliessen, dass sie sich von ihrer Stiefmutter sehr stiefmütterlich behandelt fühlten. Die Stiefmutter hatte noch zwei eigene Kinder. Eines davon war Tante Fanny, und Tante Fanny hob immer hervor, wie gut ihre Mutter zu allen Kindern war …