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Nachdem Sabine ihre Tochter bei einem privaten Sprachinstitut angemeldet hatte – Stefanie wollte und sollte bis zum Beginn der Internationalen Schule im September Englisch und Französisch lernen –, meldete sie sich bei der Nord-Süd Société d’assurahces. Sie hatte gehofft, noch ein paar Tage für sich zu haben, um sich besser einzugewöhnen, doch man gab ihr freundlich, aber bestimmt zu verstehen, daß ihre Anwesenheit im Büro sofort erwünscht war.

Das Versicherungsbüro befand sich in der Rue de Rhone, auf dem linken Rhâneufer. Schon nach drei Tagen gab Sabine es auf, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren. Der Berufsverkehr war mörderisch, und in der Rue de Rhone, die eine der Haupteinkaufsstraßen war, fand man nur sehr schwer einen Parkplatz. Zu Fuß war das Büro in zwanzig Minuten zu erreichen.

Ihr neuer Chef war eine Frau, eine Tatsache, die Sabine ziemlich aus dem Gleichgewicht brachte. Madame Renée Archinard war um die vierzig, zierlich und elegant, mit perfekten Umgangsformen. Sie behandelte Sabine mit einer distanzierten Freundlichkeit, die sie verunsicherte. Obwohl die Vorgesetzte, wie Sabine bald erfuhr, sehr gut Deutsch sprach, half sie ihr nie, wenn sie mit ihrem Französisch nicht weiterkam.

Sabine hatte erwartet, daß man ihr einen Posten als Sachbearbeiterin geben würde, wie es ihrer Ausbildung entsprach. Jetzt erfuhr sie, daß sie im Laufe des Jahres nacheinander alle Aufgaben, die in der Firma anfielen, übernehmen sollte. Zunächst wurde sie zum Telefondienst eingeteilt, was für sie als Ausländerin besonders schwierig war und sie außerdem überhaupt nicht ausfüllte.

Ihre Kollegen und Kolleginnen waren nicht unfreundlich, schenkten ihr aber kaum Beachtung; sie schienen ganz mit ihren eigenen Problemen beschäftigt zu sein. Für Sabine, die sich nach all den Jahren in ihrer Münchner Firma fast wie in einer Familie gefühlt hatte, war auch das eine Enttäuschung.

Manchmal war sie nahe daran, die Flinte ins Korn zu werfen, ihre Koffer zu packen, Stefanie ins Auto zu setzen und nach Hause zu fahren. Aber etwas in ihr wehrte sich dagegen, die Niederlage hinzunehmen, auch wenn der Gedanke »Das hatte ich nötig!« ihr mehr als einmal durch den Kopf schoß.

Nur die Sekretärin Hélène Muller, ein hübsches, blauäugiges junges Mädchen mit auffallend langem, blondem, sehr gepflegtem Haar, bemühte sich um sie, begann immer wieder ein Gespräch mit ihr oder lud sie zu einem Kaffee ein.

Sabine schätzte, daß Hélène mindestens zehn Jahre jünger war als sie, und sie hatte das Gefühl, daß Welten sie trennten. Aber da Hélène der einzige Mensch im Büro war, der positiv zu ihr stand, mochte sie sie nicht vor den Kopf stoßen. So hörte sie sich denn geduldig den Büroklatsch an und die sehr wenig interessanten Wochenenderlebnisse Hélènes, ohne selber etwas zu diesen Gesprächen beizusteuern.

Mit Hélène oder auch allein nutzte Sabine manchmal die Mittagspause zu einem Schaufensterbummel in der Rue de Rhône. Waren sie zu zweit, so machten sie sich einen Spaß daraus, in dem für ihre Verhältnisse viel zu teuren Modehaus »Bon Génie« Kleider von Kenzo, Rykiel und anderen internationalen Modeschöpfern anzuprobieren. Im vornehmen »Café Auber« gönnten sie sich eine Tasse heiße Schokolade – echten Kakao, kein Tütchenprodukf – und ein Stück Torte.

Meist kauften sie sich aber nur eines der köstlichen Sandwichs, die in jeder Bäckerei zu haben waren.

War sie allein, setzte Sabine sich gern, mit oder ohne Sandwich, unter einen der exotischen alten Bäume im Jardin Anglais, einem am Ufer der Rhône gelegenen kleinen Park. Es machte ihr immer wieder Spaß, die Touristen zu beobachten, die nicht der Verlockung widerstehen konnten, sich vor einer bunten Blumenuhr fotografieren zu lassen. Der Fotografierende riskierte dabei jedesmal sein Leben, denn um Personen von Kopf bis Fuß auf das Bild zu bekommen, mußte er auf dem äußersten Rand der Bordsteinkante des stark befahrenen Quai Général balancieren.

Das waren die kleinen Lichtblicke in Sabines neuem Leben neben den Abenden mit Stefanie. Sabine, die ihre Tochter nicht belasten wollte, achtete darauf, die beruflichen Enttäuschungen und Mißverständnisse in ihren Erzählungen ins Komische zu ziehen.

Es erleichterte sie sehr, daß es Stefanie dagegen wirklich in der neuen Umgebung gefiel. Im Sprachinstitut hatte sie rasch Kontakt zu ihren Mitschülerinnen gefunden, Mädchen aus den verschiedensten Ländern, von denen einige sogar ohne Eltern und Verwandte den Rest ihrer Ferien in Genf verbrachten. Sabine war froh über diese Kontakte zu Gleichaltrigen, denn Stefanie, die als Einzelkind immer schon ein wenig altklug gewesen war, hatte nach dem Tod des Vaters eine gewisse Frühreife entwickelt, die die Mutter manchmal die Stirn runzeln ließ. Im Umgang mit ihren neuen Kameraden schien sie wieder ganz Kind geworden.

Sabines größte Sorge war zunächst das Wohnungsproblem. Jeden Tag, vor allem donnerstags und freitags, wenn die großen Tageszeitungen ihre Immobilienbeilagen hatten, begann das Telefonieren. Aber da sie es so einrichten mußte, daß die Leitungen im Büro nicht ständig besetzt waren, kam sie stets zu spät. Die Wohnungen, die vom Preis her akzeptabel schienen, waren schon vergeben. Andere waren zu weit außerhalb der Stadt oder boten nicht den minimalsten Komfort. Meist jedoch waren schlicht und einfach die Miete, die Ablösesumme oder die Kaution zu hoch.

In ihrer Verzweiflung vertraute sie sich Hélène an.

»Hier in Genf kommst du nur durch Beziehungen zu einer akzeptablen Wohnung«, behauptete die junge Sekretärin, »du kennst wohl niemanden?«

Sabine hatte sich daran gewöhnt, von Hélène ganz ungezwungen geduzt zu werden. »Eigentlich nur dich und unsere Kollegen hier bei der Versicherung. Soll ich mich mal beim Hotelpersonal umhören?«

»Ja, tu das! Schaden kann es nicht. Ich werde inzwischen meine Beziehungen spielen lassen. Aber mach dir keine allzu großen Hoffnungen!«

Doch schon wenige Tage später verkündete Hélène strahlend: »Sabine, ich glaube, ich habe eine Wohnung für dich gefunden. Zwei große Zimmer, Bad und Küche, möbliert, und alles in allem für lächerliche achthundertfünfundzwanzig Francs im Monat. Inklusive Nebenkosten. Was sagst du jetzt?«

Sabine wußte, daß sie auch in München für diesen Preis kaum eine entsprechende Wohnung bekommen hätte. »Klingt fantastisch!« rief sie begeistert. »Und wo liegt sie?«

»In der Rue de Bâle. Das ist zwar nicht gerade das feinste Viertel, aber zentral und nicht allzu laut.«

Sabine ließ sich von Hélène die Straße auf dem Stadtplan zeigen und stellte mit Freuden fest, daß es von dort nur zwei Minuten zu Fuß zum See und zum »Bains de pâquis« war.

»Fabelhaft! Da wird sich Stefanie freuen. Wann kann ich die Wohnung besichtigen?«

»Sie gehört einem Freund meines Onkels. Er hat versprochen, sie zwei, drei Tage für dich zu reservieren, bevor er die Annonce aufgibt. Am besten gehen wir heute gleich nach Büroschluß hin. Ich habe nämlich einen Schlüssel.«

»Du bist ein Schatz«, sagte Sabine aus tiefstem Herzen. Sie sah auf die Uhr. Stefanie mußte jetzt im Institut sein. Die Neuigkeit war wichtig genug, sie beim Unterricht zu stören, entschied sie und ließ ihre Tochter ans Telefon rufen.

Stefanie stieß einen Juchzer aus, als sie davon erfuhr, und erklärte, daß sie sehr wohl imstande sei, die Rue de Bale auf eigene Faust zu finden. Als die beiden Frauen eintrafen, wartete sie schon dort. Die Straße war wirklich ruhig, aber das Gebäude machte einen wenig einladenden Eindruck.

Stefanie zog eine kleine Grimasse.

»Spiel jetzt nur nicht die Prinzessin auf der Erbse!« entfuhr es Sabine, die sich die eigene Ernüchterung nicht anmerken lassen wollte.

»Ich habe ja gar nichts gesagt! « verteidigte sich das Mädchen.

»Sei mir nicht böse, Liebes, entschuldigte sich Sabine sofort. »Aber ich bin ein bißchen nervös.«

»Schon gut, schon gut, Maman.«

Hélène führte sie drei Stockwerke hoch durch ein schmuckloses Treppenhaus, und zur allgemeinen Erleichterung war die Wohnung dann doch durchaus akzeptabel, hell und modern und sehr zweckmäßig eingerichtet.

»Ihr schlagt also ein?« fragte Hélène.

»Na und ob!« stimmten Sabine und Stefanie fast gleichzeitig zu.

»Ich freue mich, daß ich euch helfen konnte«, erklärte Hélène und versprach die vertraglichen Angelegenheiten zu regeln.

Die Wohnung war vom Bettzeug bis zum Geschirr mit Schweizer Gründlichkeit ausgestattet und für ihre Bedürfnisse günstig geschnitten. Von einem kleinen Gang aus gingen zwei Zimmer – eines für Sabine, das andere für Stefanie –, Küche und Bad ab. Der Umzug war kein Problem. Außer ihren Kleidern und ein paar persönlichen Gegenständen hatten sie ja aus München nichts mitgenommen. Sie besorgten sich ein paar Pflanzen und Blumentöpfe, um es sich gemütlich zu machen. Alles andere würde sich im Lauf der Zeit ergeben.

Als sie das erste Mal nach ihrem Einzug in der winzigen Küche zu Abend aßen – in den beiden Zimmern gab es keinen Tisch in Eßhöhe –, sagte Sabine gedankenverloren: »So schön wie zu Hause ist es doch nicht.«

Stefanie lachte. »Aber, Maman, was hattest du denn erwartet?«

Sabine seufzte. »Ich weiß es selber nicht.«

Obwohl Sabine sich fest vorgenommen hatte, viel in Genf zu unternehmen, blieb es in dieser ersten Zeit bei dem Vorsatz. Sie war von der Versicherung so in Anspruch genommen, daß sie abends völlig erschöpft war.

Zwar gelang es ihr, von Tag zu Tag flüssiger zu telefonieren, aber Madame Archinard schien es darauf abgesehen zu haben, ihr das Leben schwerzumachen. Je besser Sabine verstand, desto weniger gab sich die Vorgesetzte Mühe, langsam und deutlich mit ihr zu sprechen, sondern rasselte die Anweisungen so schnell herunter, daß Rückfragen selten zu vermeiden waren. Sabine empfand das als demütigend.

»Mach dir nichts daraus«, tröstete Hélène sie, »die Archinard hat einfach Angst vor dir.«

»Daß ich nicht lache!«

»Du kannst mir schon glauben. Sie kommt nicht gut mit den Computern zurecht, und sie hat Angst vor jedem, der es vielleicht besser machen könnte.«

»Sie läßt mich ja gar nicht an den Computer.«

»Eben. Es heißt, die in München hätten dir ein fabelhaftes Zeugnis gegeben, und ich kann mir ganz gut vorstellen, daß sie fürchtet, du würdest sie ersetzen wollen.«

»Du lieber Himmel! Aber ich bleibe doch nur ein Jahr.«

»Das weiß sie nicht oder will es nicht glauben.« Vergeblich suchte Sabine das Gespräch mit Madame Archinard, um die Situation klarzustellen. Eine offene Auseinandersetzung wagte Sabine nicht, denn sie wußte, daß sie dabei bestimmt den kürzeren gezogen hätte.

Immerhin hatte Hélène s Erklärung Madame Archinards feindseliger Haltung den Stachel gezogen. Das machte jedoch die Arbeit nicht weniger anstrengend. Noch war Sabine weit davon entfernt, ihr Aufgaben routinemäßig zu erledigen.

Darüber hinaus gab es in der knappen Freizeit noch einiges zu erledigen. Jetzt, nachdem sie sich häuslich niedergelassen hatten, mußte sie sich und ihre Tochter bei der »Contrôle d’Habitant« anmelden, einen Telefonanschluß beantragen und sich vergewissern, daß die Aufnahme Stefanies auf die Internationale Schule geklappt hatte.

Am Wochenende beschlossen sie zusammen ins »Bains de Pâquis« zu gehen. Stefanie, die von Anfang an jede freie Minute schwimmen gewesen war, fühlte sich dort bereits als Stammgast.

»Zuerst muß man an diesem Schalter ein Ticket ziehen«, erklärte sie, »das mußt du für die Garderobe aufbewahren. Hier links geht es zu den Damenumkleidekabinen. Da oben, auf den Holzplatten, kann man sich oben ohne sonnen. Männer haben keinen Zutritt. Allerdings gibt es da auch ein kleines Café, das die Männer- von der Frauenseite trennt, und da sitzen natürlich immer ein paar Typen, um den Anblick der aufgereihten nackten Busen zu genießen.«

»Und wenn man ganz normal schwimmen will?« fragte Sabine leicht irritiert.

»Das kann man am besten auf der linken Seite, bis zur Platane. Aber ich warne dich, man wird da dauernd angemacht.«

»Ach was! Mich wird man schon in Ruhe lassen. Ich bin schließlich nicht mehr achtzehn.«

»Wie du meinst.«

Also trennten sie sich.

Stefanie ging zu dem kleineren, für Frauen abgetrennten Teil, während Sabine sich sofort ins Wasser gleiten ließ. Sie schwamm schnell einige Bahnen und war außer Atem, als sie sich endlich zur Sonnenboje hinaufzog. Dort legte sie sich auf den Rücken, schloß die Augen und genoß die Sonnenstrahlen auf ihrem Körper. Sie trug einen sehr dezenten einteiligen braunen Badeanzug. Beinahe hätten die schlingernden Bewegungen der Boje sie eingeschläfert, als sie einen Schatten über ihrem Gesicht spürte.

Sabine öffnete die Augen und sah dicht vor sich das Gesicht eines blonden jungen Mannes, der sich neben sie gekniet und tief über sie gebeugt hatte.

Er lächelte sie vergnügt an. »Hallo, sweetheart, how are you?« fragte er mit starkem französischen Akzent. Sabine fühlte sich unangenehm bedrängt. »Lassen Sie mich in Ruhe! « fuhr sie ihn an.

»Oh, ich habe sie beobachtet!« fuhr der junge Mann keineswegs entmutigt fort. »Sie schwimmen wundervoll. Ich mag sportliche Frauen.«

»Verziehen Sie sich, aber schnell oder…«

Sein Lächeln wurde breiter. »….oder was?«

Es war ihr gelungen, ein Stückchen fortzurutschen und sich auf den Ellbogen aufzustützten. Jetzt boxte sie ihn kräftig mit der freien Hand auf die Brust, so daß er das Gleichgewicht verlor. Mit Schwung kam sie auf die Füße und hechtete gekonnt ins Wasser.

Als sie nach ein paar Metern über die Schulter zurückblickte, stellte sie fest, daß er keine Anstalten machte ihr zu folgen. Der hat seine Lektion gelernt, dachte sie zufrieden.

Am liebsten wäre sie jetzt aus dem Wasser gestiegen, aber sie wollte dem Blonden nicht den Triumph gönnen, sie vertrieben zu haben. Also drehte sie noch ein paar Runden. Wenn sie sich bei Stefanie beschwerte, das wußte sie, würde sie nur Spott ernten.

Doch ihre Tochter hatte den Zwischenfall beobachtet.

»Na, warum erzählst du mir nichts! « fragte sie, als sie später am See entlangspazierten.

»Was willst du hören?«

»Ob dir der blonde Jüngling nicht doch ein bißchen gefallen hat!«

Sabine versuchte sich dumm zu stellen. »Wovon redest du?«

Stefanie grinste. »Von jenem jungen Mann, den du so erfolgreich auf die Bretter gelegt hast.«

»Ach so! Daran habe ich schon gar nicht mehr gedacht.«

»Er sah doch sehr gut aus.«

»Ich fand ihn widerlich. Ich mag keine aufdringlichen Menschen.«

»Du solltest das nicht so eng sehen, Maman. Er wollte bestimmt nur flirten.«

»Dann hat er es aber reichlich plump angefangen. Und im übrigen ist es genau das, was ich hasse: Ich will keinen Flirt, und ich will mich nicht wie ein leichtes Mädchen behandeln lassen.«

Jetzt lachte Stefanie herzlich. »Bei all deiner jugendlichen Schönheit – für ein Mädchen wird dich bestimmt niemand mehr halten!«

Fast hätte Sabine beleidigt reagiert, aber dann entsann sie sich eines Besseren und stimmte in das Gelächter ihrer Tochter mit ein.

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