Читать книгу Die Engel am Teufelssee - Marie Louise Lennart - Страница 10
Kapitel 8
ОглавлениеKaro telefonierte mit einem gewissen Bruno wegen der Internetrecherche. Er sei der beste Mann aus dem Cyber-Crime-Team, erklärte sie, irgendwie zwar auch eine Art Nerd, aber ein netter. Dann gingen sie schweigend zum Parkplatz zurück, wie ganz normale Ausflügler. Auf dem Adlergestell ging es schließlich Richtung Mitte, immer eine Spur zu schnell.
„Für Antworten“, sagte Karo, „ist es zu früh. Trotzdem, ich denke, der Täter ist ein Mann, und er hat wahrscheinlich alleine gehandelt. Waren Sie schon mal in Neukölln, da wo es so gefährlich sein soll? Nein? Nun, dann mal weiter im Sightseeing. Wir sehen uns die Wohnung von Jana Schäfer mal an. Schlüssel habe ich. Kienitzer Straße, der obere Teil zum ehemaligen Flughafen hin. Hab da mal um die Ecke gewohnt, also keine Angst, Herr Kollege, ich kenne alle Fluchtwege.“
Jan sagte nichts. Schade, dass er Karo nicht hatte tragen dürfen. Er wusste selbst, dass das nur ein Scherz gewesen war. Andererseits gehörte es ja tatsächlich zur Methode der operativen Fallanalyse, den Hergang nachzustellen, lange bevor man sich überhaupt an ein Täterprofil heranwagte. Sein Handy klingelte. Die Umzugsfirma. Wie war das nun zu regeln? Karo bekommt, dachte Jan sofort, natürlich jetzt alles mit, und wenn er nun nicht einmal so ein kleines Problem lösen konnte, was sollte sie dann von ihm halten? Schließlich einigte man sich darauf, über den Verwalter den Schlüssel zu besorgen, dann mussten noch Kisten gepackt und ein Kleiderschrank zerlegt werden. Alles gegen Aufpreis. Er stimmte einfach allem zu. „Entschuldigung“, sagte Jan überflüssigerweise, während Karo eine riesige Allee entlangschoss. „Treptower Park“, sagte sie, „ist ein kleiner Umweg, aber ich mag Alleen und große Bäume.“
Von der Hermannstraße bogen sie rechts in die Kienitzer Straße ab. „Folgendes noch ganz kurz, Jan“, begann Karo, nachdem sie eingeparkt hatte. „Wir kennen uns noch nicht. Sie haben etwas aufgegeben in Freiburg, und ich bin dabei, eine große, berufliche Chance zu nutzen, die ich Stubenrauch verdanke. Er hat mir den Fall warmgehalten, auf seine Art. Für mich, damit ich wieder reinkomme in die Arbeit. Es wäre schön, wenn wir den Täter finden, selbst wenn er noch so harmlos ist. Das wäre für uns beide gleichermaßen gut.“
Jan nickte und sah sie an.
„Wer Leichen durch die Gegend fährt, kann so harmlos ja auch nicht sein“, sagte er. „Mal sehen, was in der Wohnung zu finden ist.“
Jan glaubte, eine andere Welt zu betreten, kaum standen sie im Treppenhaus. Ach was, eine andere Welt. Eine andere Zeit! Die rundgelaufenen Holztreppen, die dunkelbraun gestrichenen Wohnungstüren, vier auf jeder Etage, dazu dieser saure Geruch und das trübe Licht. Die Wohnung Jana Schäfers lag im zweiten Obergeschoss links. Karo ratschte mit dem Schlüssel durch die polizeiliche Versiegelung und schloss auf. Ein dunkler Flur, die Türen zu den angrenzenden Räumen waren geschlossen. Ein Geruch nach Weichspüler, nach muffeliger Enge drang ihnen entgegen.
„Also hier ist es passiert“, fragte Jan leise.
Karo tastete nach dem Lichtschalter.
„Mutmaßlich schon“, sagte sie. „Allerdings war nur der Hausmeister hier drin und zwei Polizeibeamte, nachdem einem Mieter aufgefallen war, dass die Wohnungstür nur angelehnt war. Zwei Tage später wurde die Leiche am Teufelssee gefunden und recht zügig als die Jana Schäfers ermittelt, worauf die Wohnung dann versiegelt wurde. Der Bericht der Polizeibeamten gibt keine Besonderheiten zur Wohnung an.“
Jan war seltsam zumute. Er spürte so ein Kitzeln im Beckenboden, als hätte er Angst. Oder Lust. Ich könnte heute auch ganz gut mit einer zahlungskräftigen Patientin in Freiburg sitzen und mir irgendeinen Unsinn über Zwangshandlungen anhören, dachte er. Reiß dich zusammen, Jan! Karo öffnete die Küchentür, helles Licht drang in den Flur. Ein länglicher Raum, rechts eine Art Einbauküche, ziemlich neu offensichtlich, vor dem Fenster ein Tisch mit zwei Stühlen, Spüle, Waschmaschine, hinten links ein Besenschrank, Heizkörper unter dem Fenster.
„Nicht grad ein fröhlicher Raum“, sagte Karo, und öffnete dann die niedrige Tür zum Klo. Ein Schlauch, kaum einen Meter breit, Duschkabine am Ende, Kloschüssel auf halbem Weg, ein kleines Waschbecken, ein Becher mit Zahnpasta, die Zahnbürste hatte man zur Bestimmung der DNA mitgenommen. Durch das winzige Fenster oben unter der Decke drang ein wenig Licht herein. Karo öffnete die Tür zum Wohnraum, der etwa 20 Quadratmeter groß war. Rauhfasertapete, in einem hellen Gelb gestrichen war, rechts an der Wand nur ein schmales Bett, so eine Art Couch, mit einem Nachttischchen daneben, links ein Kleiderschrank der eher billigsten Bauart, ein alter Teewagen und ein kleines Tischchen mit einem kleinen Fernseher. Die Fernbedienung lag auf dem Gerät.
„Puh“, sagte Karo, „das sieht wirklich nicht lustig aus.“
Jans Blick fiel auf das Bett. Eine dunkelblaue Tagesdecke ohne Muster lag ordentlich darüber. Sicher hatte sich Jana Schäfer auf das Bett gelegt, als sie die Tabletten intus hatte, dachte er. Das letzte, was sie im Leben sah, war die Decke über ihr. Was sie wohl gehört haben mag, überlegte er weiter. Vielleicht fröhliches Kindergeschrei, oder einen Streit im Hof. Aber er durfte jetzt nicht rührselig werden. Die Frage war, was hatte der Täter, der Leichenräuber, hier an Spuren hinterlassen.
„Nun, was sagt uns die Wohnung des Opfers“, fragte Jan in den Raum hinein.
Karo stand am Fenster und blickte hinaus.
„Nicht mal einen Balkon hat die Wohnung“, sagte sie und drehte sich zu Jan um.
„Nun?“
Jan stand mitten im Raum und schloss die Augen.
„Es ist sehr ordentlich hier“, begann er, „nicht nur, weil es keine Bücher oder CDs oder was auch immer zu geben scheint. Selbst das Bett ist gemacht. Die Frage ist, wie der Täter, derjenige, der die Leiche mitgenommen hat, in die bestehende Ordnung oder Unordnung eingegriffen hat.“
Karo lehnte sich an die Fensterbank.
„Ja“, sagte sie, „hier liegt nichts herum, kein Buch, keine Zeitung, das ist eine Wohnung ohne persönliche Note. Keine Bilder von Freunden oder den Eltern, keine Ecke, in der Postkarten stecken, nichts dergleichen.“
Sie ging noch einmal in die Küche und öffnete alle Schränke. Geschirr und Besteck und Töpfe und Pfannen waren vorhanden, auch Geschirrtücher, Schwämme, Waschpulver, Weichspüler und so weiter, doch es gab nichts Persönliches, selbstgehäkelte Topflappen oder so etwas. Im Schrank Kleider und Shirts, ein Wintermantel, in den Schubladen Unterwäsche, neben dem Schrank ein kleines Schuhregal mit drei Paar billigen Schuhen, einem schwarzen und zwei braunen. Alles sehr ordentlich. Auch die Fenster schienen geputzt zu sein, doch keine einzige Zimmerpflanze, ja überhaupt kein Leben in der Wohnung, nicht mal eine Fliege.
Jan stand noch immer mitten im Raum. Er fror ein wenig. Nach der Hitze draußen und im Auto war es hier ziemlich kühl. Je eher er sich alles eingeprägt hatte, desto eher könnten sie hier raus.
„Karo“, sagte er, „wir müssen herausfinden, ob Jana Schäfer das alles getan hat. Vielleicht wollte sie die Wohnung so hinterlassen. Das wäre eine Botschaft, ohne Zweifel.“
„Der Welt nichts zu hinterlassen, weil auch die Welt ihr nichts gegeben hat?“, fragte Karo.
„Ja, so ungefähr, aber das glaube ich eigentlich nicht. Ich glaube, der Täter hat das so hergerichtet, so arrangiert. Es geht um Sauberkeit. Um Reinigung. War die Leiche sehr sauber?“
„Der Bericht sagt, sie sei aufwändig gewaschen worden. Aber wer weiß, vielleicht hat sie sich selbst sozusagen sauber gemacht, bevor sie die Tabletten nahm!“
„Das müssen wir herausbekommen.“
Jan stand irgendwie plötzlich neben sich. Er sah sich selbst, wie er hier den Ermittler spielte, er, Jan Nordhäuser, Diplompsychologe aus Freiburg, nun Mitarbeiter der Berliner Hauptkommissarin Karo Bartels, Team Forensik XII, das zur Zeit nur aus ihr und ihm bestand. Aber es war real, es war seine Rettung nach der fürchterlichen Zeit, die auf die Scheidung von Marie folgte, nicht nur wegen der ganzen Selbstvorwürfe. Er hatte feststellen müssen, schon vor der eigentlichen Scheidung, dass er keine eigenen Freunde hatte, trotz einer langen Liste mit Telefonnummern. Er schweifte ab. Karo hatte ihn irgendetwas gefragt.
„Bitte?“
„Ich sagte, es könnte also doch Mord gewesen sein? Das dürfen wir nicht ausschließen.“
„Wieso?“
„Weil das nach Planung aussieht, über die Planung des Suizids hinaus. Vielleicht hat der Täter den Wunsch des Opfers zu sterben ausgenutzt, ihr also die Tabletten besorgt und sie ihr vielleicht sogar verabreicht. Dass die Spurensicherung keine Spuren fand, kann ja sowohl das Eine wie das Andere bedeuten. Sagten Sie nicht, auch die Art der Aufbahrung im Wald könnte vom Opfer gewünscht worden sein? Was also, wenn er ihr das versprochen hat, obwohl er selbst dies am meisten wollte?“
„Kann sein, ja“, sagte Jan, sich die Hände reibend. „Können wir mal hier raus, ich hol mir noch ’ne Lungenentzündung.
Karo schloss die Tür ab und entfernte die Reste der Versiegelung. Dann zückte sie ihr Smartphone, wischte sanft darüber und rief eine Streife wegen der neuerlichen Versiegelung der Wohnung, man warte unten vorm Haus.
„Wer also war Jana Schäfer?“, sagte sie und gab Jan Feuer. Sie hatten die Straßenseite gewechselt, um sich in der Sonne zu wärmen. „Hat sie sich aus freien Stücken umgebracht, oder ist sie ermordet worden? Wollte sie sich ermorden lassen. Suizid by Stranger, sozusagen. Oder by friend?“
„Niemand bringt sich aus freien Stücken um“, sagte Jan, immer noch fröstelnd, „Tatsache aber ist, dass da ein Jemand Sinn hat für Sauberkeit und Reinheit, für Klarheit, wenn man so will. Deswegen auch keine Leichenschändung.“
„Das nehmen wir wenigstens an. Aber die Leiche ist sehr sauber, das dürfen wir nicht vergessen! Womöglich ist er, wenn es sich denn um einen Mann handelt, doch post mortem eingedrungen und hat sich befriedigt.“
„Denkbar, sicher. Er hat womöglich ein Kondom und Gleitmittel benutzt.“
Es schüttelte ihn. Wäre er vielleicht doch besser bei seinen frustrierten, verzweifelten Hausfrauen in Freiburg geblieben? Die waren zwar auch nicht sehr lebendig, aber wenigstens nicht tot. Andererseits hatte so eine operative Fallanalyse ohne Zweifel einen großen Reiz. Neben dem letztlich zu erstellenden Profil des Täters musste ja auch meist das des Opfers erstellt werden, was allerdings nur auf den ersten Blick einfacher war. Aber das, hatte er mal in einem Artikel gelesen, gehört immerhin in gewissem Maße zum postmortalen Persönlichkeitsrecht, denn wer ermordet werde, so hatte das da gestanden, der sei in größtmöglicher Weise in seiner Menschenwürde verletzt worden, so seltsam sich das anhören möge.
„Sind eigentlich alle ehemaligen Arbeitskollegen befragt worden, und alle Nachbarn?“, überlegte Jan laut.
„Routinemäßig, einige, allerdings ohne Druck. Hat Stubenrauch ja erzählt, steht auch in den Unterlagen. Einmal hinfahren, klingeln, Frage, Antwort, fertig. Die Akte ist dünn wie eine Sterbeurkunde. Nicht ausgeschlossen natürlich, dass ein Kollege von ihr das getan hat, oder ein Nachbar. Ah, da sind sie ja“, unterbrach sich Karo und schnippte ihre Kippe in den Rinnstein, „wie gut, dass wir trotz all der Neuerungen immer noch den kompletten Polizeiapparat zur Verfügung haben. Ich klär das mal eben.“
Er sah Karo hinterher, wie sie über die Straße lief und die beiden missmutig dreinblickenden Polizeibeamten begrüßte, eine junge Frau und ein sicher kaum älterer Kollege mit Schnäuzer. Sie verschwand mit ihnen im Haus. Nach ein paar Minuten stiegen die Beiden freundlich lächelnd in ihren Streifenwagen. Karo reckte das Kinn schräg nach oben und zückte den Wagenschlüssel. „Kommen Sie schon“, rief sie, „ich habe Hunger.“
Das Café in der Wiener Straße platzte aus allen Nähten. Überall schnatterte die Jugend in allen möglichen Sprachen, Babys schrien, Geschirr klapperte und die Espressomaschine machte einen Höllenlärm. Karo eroberte aber sofort einen eben frei werdenden Tisch.
„Ich nehm immer das vegetarische Tagesgericht“, sagte sie. „Nehme ich dann auch“, sagte Jan der Einfachheit halber. Ohne ihn zu fragen bestellte sie dazu Leitungswasser.
„Ich geh gern in Cafés, die ich lange kenne“, sagte sie, „ich hab mal in der Wiener gewohnt, ganz hinten, am toten Ende.“
Dann kam auch schon der Gemüsestrudel und das Wasser. Sie aßen schweigend. „Hören Sie, Jan“, sagte Karo plötzlich ohne jeden Zusammenhang, „versuchen Sie nicht, mich dazu zu bringen, alles auf einmal zu erzählen, von mir, meine ich, und schon gar nicht am zweiten Tag. Das mache ich nach und nach, so wie ich es für richtig halte. Okay?“
Er nickte etwas verdutzt. Hatte er Fragen gestellt? Seine Stärke war es ohnehin eher, Antworten zu bekommen, ohne zu fragen. Apropos, dachte er, das Gemüsezeug würde durch ein Stück Fleisch deutlich gewinnen, vielleicht sollte ich … Karo aß mit Appetit und blickte sich derweil neugierig um. Jan war sicher, dass sie ihm trotzdem irgendwas sagen wollte, sozusagen im Schutz des Lärms.
„Nur damit Sie das alles einordnen können“, begann sie schließlich, „ich bin in der Hauptsache Hauptkommissarin beim LKA 1, zuständig für Delikte am Menschen. Ich war einige Monate dienstunfähig, es war nicht sicher, ob ich in den Beruf zurückkehren würde. In dieser Zeit hat sich Stubenrauch um mich gekümmert, und ich bin ihm sehr dankbar dafür. Von ihm bekommen wir auch die Fälle, zumindest so lange, bis sich die neue Teamstruktur eingeschliffen hat. Sind keine Fälle für uns da, werden wir aber anderen Teams zugewiesen. Kein sehr erfrischender Gedanke. Alles klar?“
Jan nickte. Er wunderte sich, dass Karo hier in normaler Lautstärke von der Polizeiarbeit sprach. Wenn ich richtig im Bilde bin, dachte er, ist das hier doch Kreuzberg! Andererseits achtete wirklich niemand auf sie, schon gar nicht das japanische Pärchen neben ihnen.
„Doch zum Däumchendrehen kommen wir bestimmt nicht“, setzte Karo wieder an, „es gibt immer viele Fälle, in denen psychologischer Spürsinn gefragt ist. Ich habe alle meine Fortbildungen in dem Bereich gemacht. Ein bisschen was über Psychologie weiß ich also auch. Um aber weiterhin wichtige Fälle zu bekommen, sollten wir den hier lösen, wie gesagt. Da ist dann auch für Stubenrauch besser.“
Mit einem Coffee-to-go in der Hand saßen sie eine halbe Stunde später auf einer völlig mit Grafitti besprühten Bank im Görlitzer Park, gegenüber einem Kinderspielplatz, auf dem aber nicht viel los war. Ein paar Typen mit Kapuzenpullis lungerten herum, das war alles.
„Gehen wir einmal durch, was nun zu bewerkstelligen ist, um dem Täter näherzukommen“, begann Karo, während Jan ihre Fesseln bewunderte. Sicher hat sie auch schöne Füße, dachte er. Einen kurzen Blick hatte er ja schon darauf werfen können, als sie die Schuhe wechselte. Die weißen Slipper stehen ihr gut, ging ihm durch den Kopf, und wenn er an einer Frau die Füße mochte, mochte er die ganze Frau. Das war immer so. „Und?“, fragte Karo. Offensichtlich erwartete sie, dass er die Punkte noch einmal aufzählte.
Dass sich Nordhäuser bloß nicht daran gewöhnt, ständig unterwegs zu sein, dachte sie. Aber was sollte man im Turm, so lange nicht einmal ein Whiteboard und ein Stadtplan dort war? Sie bemerkte durchaus, wie er sie ansah, aber das hätte sie sich früher überlegen können. Stubenrauch hatte ihr mindestens zehn Vorschläge gemacht für die Stelle des Psychologen, alle aus Berlin, darunter vier Frauen. Warum nur hatte sie von Anfang an gesagt, sie hätte einen Kandidaten für die Stelle? Auf der Tagung in Wiesbaden war Jan nicht besonders aufgefallen, er hatte nicht einmal ein Referat gehalten. Zugehört hatte er, das war alles, besonders ihr, nämlich während des Abendessens damals. Sie hatte viel geredet. Müssen wohl die Hormone gewesen sein, dachte sie, oder noch der Schock, schwanger zu sein. Sie holte tief Luft.
„Ich warte, Herr Nordhäuser“, sagte sie und zog die Füße unter die Bank, „liefern sie mir den Täter.“
„Gut“, sagte Jan, „machen wir uns zunächst ein ungefähres Bild von ihm, natürlich ohne uns auf irgendetwas festzulegen.“
Er hatte ja nicht umsonst dutzende Fachartikel gelesen in die letzten Wochen, und er wusste auch, wie groß die Gefahr jedes Mal ist, alles aus dem Altbekannten zu erklären. Stubenrauch hatte es angedeutet, das Normalmodell funktionierte hier womöglich nicht, es gab zu viele Abweichungen.
„Wir gehen vorläufig davon aus“, begann er also, „dass es ein Mann ist. Er hat einen Sinn für Ordnung und Sauberkeit, was mit der Beziehung zu seiner Mutter zusammenhängen mag. Hört sich nach einem Klischee an, ist aber nicht selten der Fall. In welchem Alter sehen Jungs ihren Müttern bei der Hausarbeit zu? Sagen wir um die zehn Jahre, da ist das noch kindlicher Anhänglichkeit geschuldet, die mit der Pubertät verlorengeht.“
Karo bot ihm eine Zigarette an und gab ihm Feuer. Er nahm noch einen Schluck Kaffee, zog ein paar Mal tief den Rauch ein und fuhr dann fort.
„Ich spekuliere also mal. Der Junge ist zehn, elf Jahre alt, die Mutter so um die fünfunddreißig. Er hilft ihr, die Bettwäsche ordentlich zusammenzulegen, sie in den Schrank zu legen, unterhält sich mit ihr, nimmt Gerüche war, etwa, wenn die Wäsche befeuchtet und gebügelt wird. Oder denken Sie an das Parfüm der Mutter oder den Geruch der Schminke, des Haarsprays. Lippenstift hat einen prägnanten Geruch. All dies prägt ihn, es prägt sich ihm ein. Die Mutter bleibt, auch wenn sie natürlich altert, für ihn auf eine bestimmte Weise immer ungefähr in diesem Alter. Jede Frau in dem Alter, die ihrem Typ entspricht, fällt ihm auf. Einige Männer fühlen sich sexuell zum Typ Mutter hingezogen, die meisten eher nicht. Unser Mann könnte der Typ sein, der sich hingezogen fühlt. Seine Mutter wäre also dunkelhaarig, eher von blassem Teint und runden Gesichtszügen, nicht so sehr Dame der Gesellschaft, eher untere Mittelschicht oder sogar Unterschicht, wie unser Opfer.“
Er warf die Zigarette vor sich auf den Boden und trat sie aus. Da Karo nichts sagte, fuhr er fort.
„Daraus lässt sich nicht auf das Alter des Täters schließen, ich würde aber trotzdem davon ausgehen, dass er älter als das Opfer ist, um die vierzig vielleicht, mindestens, und emotional und sozial etwas zurückgeblieben. Das vermute ich wenigstens. Beruflich ist er wahrscheinlich nicht sehr erfolgreich und lebt mit einiger Sicherheit nicht in einer Partnerschaft, wenn auch nicht mit der Mutter zusammen. Das wäre zuviel des Guten, oder Schlechten. Es könnte jedenfalls sein, dass seine soziale Kompetenz nicht sehr ausgeprägt ist, was aber auch heißen könnte, dass er die Tat vollbracht hat, weil sich ihm einfach plötzlich eine Gelegenheit bot. Vielleicht ist er zu der Leiche gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. Ich würde aber vorsichtig immerhin annehmen, dass unser Mann eine ängstliche, eine vermeidende Persönlichkeitsstörung hat. Neigt er allerdings im Ganzen zum Theatralischen, wie es die Drapierung der Leiche andeutet, so hätten wir eine histrionische Persönlichkeitsstörung. Oder alles in Kombination.“
Was rede ich da für einen Blödsinn, dachte er. Und wie er das eben gesagt hatte – nicht in einer Partnerschaft lebend! Als wenn das eine Krankheit wäre, wenn man keinen Partner hat. Und vielleicht stimmte auch nichts von all dem, denn eigentlich war das alles nur wilde Spekulation. Es war viel zu früh für ein Täterprofil, er hängte sich fürchterlich weit aus dem Fenster. Das wusste Karo so gut wie er selbst. Trotzdem aber gab es einen Menschen, der die Leiche Jana Schäfers zum Teufelssee gebracht und sie dort aufgebahrt, sie drapiert hatte. Dass dieser Mensch zuvor mutmaßlich auch noch die Leiche gewaschen, die Wohnung geputzt und die persönlichen Gegenständen entsorgt hatte, sprach nicht gegen die Vermutung, dass er zufällig zu der Leiche gekommen sein könnte. Aber auch nicht dagegen, dass es sich vielleicht doch um Mord handelte und dass er bald wieder morden würde, weil er das Gefühl so schnell wie möglich wieder haben wollte – welches Gefühl auch immer! Karo schwieg und rauchte.
„Ich hoffe, es war nicht zu sehr fachchinesisch“, sagte er schließlich, obwohl er wusste, dass es das auf keinen Fall war. Er neigte ohnehin nicht dazu. Wie zur Belohnung für seine Mühe streckte Karo die Beine aus und drehte die Fußspitzen zueinander.
„Dann haben wir ja jetzt“, sagte sie, „zwei Optionen. Entweder wir suchen die Mutter des Täters, oder wir lassen die Mutter in Ruhe und greifen uns gleich den Sohn.“
Karo grinste. Auf Spott war Jan nicht eingestellt gewesen, es gab ihm einen kleinen Stich.
„Entschuldige“, sagte Karo, aufstehend, „war nur ein Witz. Ich seh jetzt schon ein wenig klarer, oder sagen wir, weniger verschwommen. Ich brauche halt so ein vages Täterbild, selbst wenn am Ende alles anders ist.“
Jan nickte. Sollte das „Entschuldige“ ein erster Schritt sein, zum Du zurückzukommen, dachte er, zu der Lockerheit, die in Wiesbaden auf der Tagung da gewesen war? Obwohl Lockerheit eigentlich nicht das richtige Wort war. Schließlich hatte sie ihn in der Hotellobby einfach stehen gelassen. Jan nahm die leeren Kaffeebecher und drückte sie in einen bereits übervollen, orangefarbenen Abfalleimer, auf dem der Spruch ‚Corpus für alle Delicti’ prangte. Na dann, dachte Jan, mal rein damit.