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Kapitel 6

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Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass sein Handy klingelte. Dann hörte es wieder auf, nur um gleich wieder zu klingeln. In der Sporttasche, irgendwo unter den Klamotten. Er wälzte sich über den auf dem Bett verteilten Papierkram auf den Bauch, zog die Tasche zu sich, fischte das Handy heraus und drückte auf die grüne Taste. „Briefing in dreißig Minuten“, bellte eine Stimme, „wenn sie nicht pünktlich da sind, fangen Stubenrauch und ich ohne Sie an.“

„Wer?“, brachte Jan verschlafen hervor. „Stuben was?“

Aber Karo hatte schon aufgelegt. „Die zornige Karo“ sagte er zu sich selbst. Er schaute auf die Uhr, es war viertel nach neun und er lag nackt auf dem Bett. Wahrscheinlich war er so plötzlich eingeschlafen, wie andere Leute in Ohnmacht fielen. In Freiburg hatte er nie Termine vor 13 Uhr gemacht und trotzdem ziemlich gut von seiner Arbeit leben können! 9 Uhr! Mitten in der Nacht! Er gab sich einen Ruck. „Okay, Alter, das hast du dir selbst eingebrockt“, rief er und sprang aus dem Bett. Er kramte schnell ein paar frische Klamotten und seine Lieblingsschuhe, schwarze Halbschuhe, spitz, mit Ledersohle, 60er-Jahre-Stil, heraus und legte alles aufs Bett. Das Sommerjacket war arg zerknittert, aber egal. Das hier war schließlich Berlin, also: anything goes. Oder nicht? Und hatte er nicht auch noch diesen komischen Rucksack mit dem großen Aufnäher eines wütenden Donald Duck in die Tasche geworfen, den er damals für diese 3-Tage-Reise nach Rom gekauft hatte? In Rom hatten Marie und er ein letztes Mal versucht, ihre Ehe zu retten. Erfolglos. Er fand den Rucksack und stopfte die Unterlagen hinein. Ein kurzer Blick in den Spiegel: In Freiburg hätte er jetzt nur noch einen Pappbecher gebraucht, um als Penner betteln gehen zu können.

Ob ich es zu Fuß rechtzeitig bis zum Frankfurter Tor schaffe?, fragte er sich, schob sich die Sonnenbrille ins Haar, schloss sein Zimmer ab und lief die Treppe hinab nach unten. Ein älterer Mann saß am Empfang, grüßte freundlich und nahm den Schlüssel. „Schönen Tag noch“, rief er Jan nach.

Draußen schlug Jan trockene warme Luft entgegen, nicht die feuchte Soße, die es in Freiburg nicht selten gab. Doch es waren bestimmt schon über zwanzig Grad. Er schätzte die Strecke auf knapp zwei Kilometer, wenn überhaupt, das kann man locker zu Fuß gehen, dachte er. Na, dann mal los, und bloß nicht in die falsche Richtung gehen, immer schön an den Zuckerbäckerhäusern der ehemaligen Stalinallee entlang. Apropos Bäcker. Ein schöner großer Kaffee und ein belegtes Brötchen sollten wohl noch drin sein. Sein Magen war nur noch ein großes Loch.

Jan stieg aus dem Fahrstuhl, Kaffeebecher in der einen und den Rest des eher zähen Brötchen mit Käse in der anderen Hand. Hätte er mal in der Palisadenstraße sein Brötchen beim Bäcker gegenüber gekauft, doch da war eine lange Schlange gewesen. Sicher so eine DDR-Reminiszenz, hatte er gedacht und über seine eigenen blöden Gedanken gelacht. Hatte wohl seinen Grund, die Schlange, da musste es einfach gute Sachen geben. Ruckelnd, irgendwie zögerlich, öffnete sich die Fahrstuhltür. Diesmal stand keine zornige Karo vor ihm. Von oben aus dem Turmzimmer hörte er aber Stimmen, die Karos und die von diesem Stubensoundso. Also eine wichtige Miene aufgesetzt und die Wendeltreppe hoch gestiefelt. Das erste, was er sah, waren ausgelatschte Sandalen mit nackten Männerfüßen drin, dann zum Glück die weißen Lederslipper mit Noppensohle, die Karo heute trug. Der Mann saß an dem Platz, an dem Jan gestern gesessen hatte und sah ihn mit kleinen Knopfaugen an. Eine massige Gestalt, Jeans, kariertes Hemd und kakifarbenes Sommerjackett, das er trotz der Wärme hier oben nicht ausgezogen hatte, eine dicke Nase mit einem fast grauen Schnäuzer darunter, tiefer Haaransatz, dickes, ebenfalls bereits fast graues Haar, schätzungsweise Mitte oder auch Ende fünfzig. Vor ihm ein zugeklappter Laptop, drei blaue Schnellhefter, ein Glas Wasser und eine Pfeife nebst Tabak. Typ gemütlicher Dicker, dachte Jan, doch das konnte natürlich täuschen.

Karo stellte sie vor, „Jan Wilhelm Nordhäuser, Diplom-Psychologe, Hans Hubert Stubenrauch, Hauptkommissar, 1. Polizeidirektion.“ Wie Karo das sagte, hörte es sich fast militärisch an. Stubenrauch nickte nur kurz. Jan stellte seinen Rucksack an ein Tischbein und hängte sein Jackett über den Stuhl. Die Balkontüren waren geschlossen, vielleicht sollte er sie öffnen, dachte er, bei der Hitze hier.

„Setzen Sie sich“, sagte der Kommissar. „Können wir also beginnen?“ Er warf Karo einen kurzen Blick zu, dann fixierte er Jan.

„Frau Bartels“, begann er, „hat Ihnen ja bereits die Unterlagen ausgehändigt, sie sind also so weit im Bilde.“

Er sah auf seine Armbanduhr, fixierte sie ein, zwei Sekunden, und fuhr dann fort.

„Etwas zur Klarstellung Ihrer Aufgaben und zu den Notwendigkeiten der polizeilichen Praxis. Herr Dr. Knippschildt, sozusagen Ihr Vorgänger, hat sich nicht eben beliebt gemacht. Er sprach Fachchinesisch und behandelte seine Erkenntnisse wie absolute Wahrheiten. Das hat die Ermittlungen mehr behindert als unterstützt. Wie mir Frau Bartels allerdings versicherte, sind sie ein anderer Typ Wissenschaftler, eher Praktiker als Fachidiot. Nun, wollen wir es hoffen. Ich habe mich natürlich in Freiburg und auch bei den Kollegen des BKA erkundigt, man versicherte mir, dass man ihren Ausführungen im allgemeinen folgen konnte. Also herzlich willkommen im Team.“

Jan warf Karo einen Blick zu, die jedoch dabei war, ihren Laptop in Betrieb zu setzen, sah wieder Stubenrauch an und sagte „Danke.“ Der Kommisassar warf wieder einen langen Blick auf seine Uhr, dann fuhr er fort.

„Sollten sich aber unsere Vorstellungen nicht decken, so trennen wir uns wieder, selbstverständlich gemäß der Vereinbarungen im Vertrag. Ich verlasse mich da ganz auf Frau Bartels.“

Jan nickte. Er fühlte sich wie in einer Prüfung, für die er nicht gelernt hatte. Der Kommissar und Karo lächelten sich kurz an. Hieß das etwa, dachte Jan, dass Karo ihn einfach wieder an die Luft setzen konnte? Er hatte doch nicht die Praxis in Freiburg aufgegeben, um in Berlin ohne Job zu sein! Und schließlich hatte er beim BKA doch wohl gezeigt, dass er als Berater etwas taugt. Aber warum sich rechtfertigen, dachte er noch, als Stubenrauch wieder ansetzte.

„Das Merkblatt für freiberufliche wissenschaftliche Mitarbeiter haben sie ja sicher zur Kenntnis genommen“, begann er wieder in geschäftsmäßigem Ton, „trotzdem aber noch einmal ganz deutlich das Wichtigste. Frau Bartels ist bei allen polizeilichen Maßnahmen weisungsberechtigt, sie dürfen nicht allein ermitteln ohne ausdrückliche Anweisung und keine Waffe tragen. Wenn notwendig und wenn sie es sich zutrauen, dürfen sie einen Verdächtigen vorläufig festnehmen, so wie jeder Bürger, wenn sie den Verdächtigen deutlich darauf hinweisen. Darüberhinaus … ach, lesen Sie sich den Scheiß doch selber durch, Nordhäuser!“

Seine Augen funkelten zornig.

„Zum Fall“, sagte er.

Jan wurde ganz schummerig. Schnell kramte er die Unterlagen aus seinem Rucksack. Natürlich hatte er nicht daran gedacht, einen Stift mitzunehmen. Er fragte Karo, sie schob ihm einen kleinen, silbernen Kugelschreiber rüber.

„Zum Fall“, sagte Stubenrauch noch einmal und fixierte Jan. „Wie Sie wissen handelt es sich, nach dem jetzigen Erkenntnisstand, nicht um Mord, sondern um Suizid. Das Opfer, denn ein Opfer ist es ja in jedem Fall, nicht wahr, heißt Jana Schäfer, 27 Jahre, Verkäuferin, in Berlin geboren und aufgewachsen, seit einem halben Jahr arbeitslos, geschieden, keine Kinder, keinen neuen Partner, Mutter tot, Vater unbekannt. Nach Aussage ihrer Hausärztin litt sie seit ihrer Entlassung zunehmend unter einer neurotischen Depression. Ihr wurden Antidepressiva verschrieben. Keine illegalen Drogen, keine Vorstrafen. Tod durch eine Überdosis handelsüblicher Schlaftabletten, dazu Alkohol. Recht sichere Methode. Aber das wissen sie ja schon aus den Unterlagen.“

Jan nickte. Der Schweiß lief ihm aus den Achselhöhlen und kitzelte ihn an der Hüfte. Karo schien weder ihn noch den Kommissar zu beachten und tippte etwas in ihren Laptop.

„Okay“, sagte Jan, worauf Stubenrauch weitere Fakten herunterspulte, Zeitpunkt des Leichenfundes, Ort, Besonderheiten wie das Laken und das blaue Kleid und die Tatsache, dass es sich offensichtlich nicht um ein Sexualdelikt handelt. Dann machte er eine Pause. Jan fragte sich, ob er etwas sagen sollte, doch es würde wohl besser sein, zu schweigen. Von wegen, gemütlicher Dicker! Endlich fuhr Stubenrauch fort, nicht ohne zuvor wieder seine Uhr zu fixieren. „Wir haben den Fall letztlich nicht zu den Akten gelegt, erstens weil er publik geworden ist, dummerweise, zweitens, weil er im Rahmen des so genannten Normalmodells nicht ausreichend zu erklären ist. Was wir am wenigsten gebrauchen können ist eine Suizidwelle oder noch schlimmer einen Serienmörder, der Gefallen gefunden hat an der Aufbahrung toter Frauen in den Berliner Wäldern.“

Jan nickte. Jetzt bloß nichts sagen, dachte er, bloß nicht. Das Normalmodell war ihm natürlich ein Begriff. Er fühlte sich gleich besser. Im Rahmen eines Normalmodells, sagte er sich in Gedanken auf, wird die ermittelte Spurensituation mit vorgelagerten, ähnlichen Fällen verglichen. Der Täter hat also das getan, was die Ermittler in solchen Fällen erwarten, woraus sich dann meist ergibt, dass der Täter tatsächlich ermittelt wird. Scheint hier aber, schloss er seine Überlegung ab, erst einmal nicht der Fall zu sein.

„Ich sehe“, nahm Stubenrauch den Faden wieder auf, „Sie verstehen. Für unseren Fall heißt das, es geht um ein Exklusivmodell, also etwas Neues für die Datenbank. Lassen Sie es mich so sagen: Selbst wenn der Täter, also der Leichenräuber, wenn ich das mal so ausdrücken darf, ein harmloser Wicht sein sollte und womöglich einfach in die Klappse gehört, so dürfte uns die genaue Kenntnis seiner Vorgehensweise und vor allem seiner Motivation weiterhelfen. Es ist also eine Kombination gefragt von routinierter kriminalistischer Arbeit und professionellem Querdenken. Sie kennen das sicher – man versetzt sich in eine Art künstlicher Dummheit, und schon kommt man auf Ideen, die in der Fachliteratur nicht mal ausgeschlossen werden, so abwegig sind sie. Der Vorgang des Sich-Reinigens von allem Wissen wird allerdings in diesen Texten durchaus ausführlich beschrieben, wie Sie sicher wissen.“

Jan nickte. Auch das noch, dachte er, ein psychologisch versierter Kommissar. Auf so etwas war er nicht gefasst gewesen.

„Also, Jan, hören Sie zu.“ Endlich meldete sich Karo zu Wort. Sie zog die Farb-Kopie eines Zeitungsberichtes hervor und legte das Blatt mittig auf den Tisch.

„Das war noch nicht in Ihren Unterlagen. Fest steht, dass Sie ohne den Übereifer dieser Journalistin von den BN, den Berliner Nachrichten, Trixi Matschke mit Namen, die sonst wohl eher für Stars und Sternchen zuständig ist, noch in Ruhe Ihren Umzug hätten abwickeln können. Online war der Artikel übrigens schon früher zu lesen gewesen.“

Jan zog das Blatt an sich. Der Bericht war von Mittwoch, von gestern. ‚Triebtäter am Teufelssee?’ hieß die Überschrift, darunter das Bild, das Karo ihm schon gezeigt hatte.

„Wir haben natürlich“, mischte sich Stubenrauch wieder ein, „alle Archive, so weit sie digitalisiert sind, nach dem möglichen Täter durchsucht, der die nach jetzigem Stand der Untersuchungen schon tote Frau mutmaßlich aus ihrer Wohnung in den Wald gebracht und dort so drapiert hat. Wir hatten auch schon damit begonnen, ihr Umfeld zu untersuchen, also mit einem ehemaligen Arbeitskollegen in Eberswalde gesprochen und einigen hier in Berlin. Auch eine Bekannte der Frau haben wir vernommen, die einen Wohnungsschlüssel besaß, zur Tatzeit aber in Urlaub war und so weiter und so weiter.“ Er schnaufte vernehmlich. „Damit war die Untersuchung aber ehrlich gesagt abgeschlossen gewesen“, fuhr er fort, „da kein überragendes öffentliches Interesse bestanden hat und auch keine Kapazitäten frei waren, ganz gleich, ob etwas Neues für die Datenbank herausspringt oder nicht. Bis vorgestern, bis klar wurde, dass diese Frau Matschke von den BN diesen Blödsinn hier veröffentlichten würde.“ Er lehnte sich rüber zu Jan und schlug mit der flachen Hand zwei Mal auf die Kopie des Artikels. „Und im Netz war der Scheiß ja auch schon und wurde ziemlich oft gelesen, das hat mir der Chefredakteur, den ich gut kenne, bestätigt.“

Er sah wieder auf die Uhr, so als stoppe er die Zeit, die er fürs Reden verwendete. Dann stand er auf und packte seinen Laptop und die Aktendeckel in eine schwarze Schultertasche aus Kunststoff, auf der unübersehbar in grünen Lettern, die sicher im Dunkeln leuchteten, ‚POLIZEI’ stand.

„Nun gut“, sagte er, „legen Sie mal los, wir erwarten Ergebnisse. So eine von der Presse behauptete Triebtätergeschichte ist nie gut. Da kann man noch so oft sagen, dass von einem Sexualverbrechen nicht die Rede sein kann. Ach ja, die Einrichtung kommt morgen am Vormittag, alles neu, Drucker, Scanner, Whiteboard, Stifte, Magnete, Kühlschrank, Kaffeemaschine und so weiter. Alles außer einer Sekretärin, sonst aber haben wir weder Kosten noch Mühen gescheut. Wir wissen ja, wie wichtig der zwölfte Mann sein kann. Also ahoi.“

Mit ernster Miene reichte er Karo die Hand, boxte Jan mit der linken Faust augenzwinkernd gegen den Oberarm und war verschwunden.

„Puh“, sagte Jan nach einer Weile und lächelte Karo an, „das ist also so ein echter Berliner Polizeikommissar?"

Karo kramte, zur Überraschung Jans, eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Tasche und machte ihm ein Zeichen.

„Ist es zu viel verlangt, pünktlich zu sein“, fragte sie trocken, als sie draußen standen und über die Stadt sahen, die irgendwie zu glühen schien.

„Der Typ schmeißt Sie achtkant wieder raus, wenn Sie nicht aufpassen. Der weiß wie das geht, glauben Sie mir. Da fragt der weder mich noch den Polizeipräsidenten.“

Die Engel am Teufelssee

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