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Kapitel 7

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„Was meinte Stubenrauch mit dem zwölften Mann?“, fragte Jan, als sie wieder am Tisch saßen. Karo verdrehte die Augen.

„Ein blöder Witz, wie das Publikum beim Fußball. Wir sind nunmal das Team Forensik XII“, antwortete sie. „Umso wichtiger, dass wir Ergebnisse liefern. Also dann mal los. Kommen Sie!“

Auch Karo fuhr einen Volvo, einen Kombi V 70, ungefähr fünfzehn Jahre alt, silberfarben, Benziner. Jan verkniff sich eine Bemerkung. Zum Glück besaß die Karre ein Schiebedach, wenigstens etwas.

„Wir müssen noch kurz zum Tempelhofer Damm, zum LKA“, hatte Karo verkündet, nachdem sie ihre übergroße Handtasche nach hinten geschleudert hatte.

„Die Fotos abholen, geht schneller.“

Sie kurbelte das Schiebedach auf und gab dann ordentlich Stoff, fuhr aber anscheindend ziemlich sicher, wie Jan fand. Wenn er da an Marie dachte, die immer eher gefahren wurde, als dass sie selbst fuhr. Sie wirkte dabei immer irgendwie hilflos, und der Mann machte mit seinem Helferinstinkt beim Autofahren dann eher alles noch schlimmer. Was hatte er sich mit Marie gestritten!

„Wir sehen uns dann aber erstmal die Fundstelle an und nicht die Fotos“, sagte Karo, „denn allein mit den Fotos kommt man nie weit, weil die meistens scheiße sind, ohne jede künstlerische Qualität.“

Jan schielte leicht irritiert zu ihr hinüber, sagte aber nichts. War das etwa Ironie? Bei Dunkelgelb schossen sie über die Kreuzung Mehringdamm Gneisenaustraße, dann schaltete Karo einen Gang zurück in den zweiten und röhrte hochtourig eine Steigung hinauf. Wahrscheinlich macht ihr das Spaß, dachte Jan, der nicht wirklich wußte, wo sie waren. Er kannte Berlin eigentlich nicht, drei-, vier Mal war er hier auf einer Konferenz gewesen, das war auch schon alles. Als ihm die Maklerin die Wohnung schmackhaft machen wollte und sagte, sie läge im Bötzow-Viertel, hatte er dementsprechend überhaupt keine Ahnung gehabt, wo das ist und nur „aha“ gesagt.

Sie hielten vor dem Betonklotz des Landeskriminalamtes, direkt am ehemaligen Flughafen Tempelhof, in zweiter Reihe. Karo sprang raus, wich einem Radfahrer auf dem Radweg elegant aus und verschwand im Gebäude. Was für ein Hintern, dachte Jan. Schon während der Fahrt musste er aufpassen, nicht in Karos Schoß zu starren, denn unter dem engen Hosenanzug konnte man den Schamhügel ziemlich gut erkennen. Weder in Freiburg noch in Mainz, Wiesbaden, Frankfurt, Darmstadt oder Offenbach hatte er die letzten zwei Jahre auch nur eine einzige wirklich attraktive Frau gesehen, abgesehen vielleicht von diesen Edelhuren in Frankfurt, aber das war natürlich etwas völlig anderes. Nach so einer Scheidung, das wusste er natürlich, dauerte es eben eine Weile, bis sich wieder etwas tat. Bei manchen Männern jedenfalls, bei den sensiblen. Auf der Konferenz damals in Wiesbaden hatte es dann aber gefunkt, ganz plötzlich, wenn auch leider nur einseitig. Karo Bartels, dachte er, auf den leeren Sitz neben sich blickend, Hauptkommissarin in Berlin, jung, schön, intelligent, nur dass sie nun so etwas war wie seine Chefin! So schnell veränderten sich die Dinge. Plötzlich wurde die Fahrertür aufgerissen. „Los geht’s, Jan“, rief Karo, „lösen wird den Fall! Und schön den Umschlag zulassen, bis wir vor Ort sind!“

Sie nahmen die A 113 bis Adlershof. „Das ist die Dahme“, sagte Karo, als sie dann auf einer Brücke in Köpenick in einem Stau standen, da vorne rechts das Schloss, links das Rathaus, ansonsten überall Wasser und Berge, die Berge allerdings mit Anführungszeichen, das sind eher Großhügel. Kennen Sie Berlin eigentlich?“

Jan hatte natürlich auch jetzt keine Ahnung, wo sie überhaupt sind. Köpenick, Osten, mehr wusste er nicht. Aber ein wenig Small-Talk war schon mal ein gutes Zeichen. Dann ging es weiter, ein Stück den Müggelheimer Damm hinunter und rechts in den Wald hinein, Richtung Müggelturm, dann schließlich mit Karacho einen kleinen steilen Anstieg hinauf bis zu einem Parkplatz.

„Ich weiß nicht, ob es der Sache dient, einen touristischen Teil einzubauen, doch ein wenig Klettern schadet ja nie.“

Sie grinste ihn an, während sie ihre Slipper gegen Wanderschuhe tauschte. Selbst Wandersocken hatte sie dabei. Wenn Jan gewusst hätte, dass der Parkplatz auf halber Höhe ist und noch ein steiler Anstieg zu Fuß zu bewältigen wäre, hätte er auf die Sache verzichtet. Vor allem bei mindesten 27 Grad im Schatten.

„Ich dachte, Berlin ist platt wie ’ne Flunder“, sagte er keuchend und sich den Schweiß abwischend, als sie endlich oben auf dem Platz vor dem Müggelturm standen. Karo kaufte am Kiosk zwei Karten, nahm den Schlüssel in Empfang und gab Jan ein Zeichen, ihr zu folgen. Leider bestand sie darauf, dass er vorgehen soll. Vielleicht, dachte Jan, als sie oben auf dem Turm standen und nur Wald und Wasser und in dunstiger Ferne den Fernsehturm sahen, will sie nur sehen, wie ich staune, weil doch alle Welt denkt, Berlin besteht nur aus Straßenschluchten und Häusern.

„Dort“, sagte Karo und zeigte mit dem Finger nach Nordosten in den Wald hinein, „ist der Teufelssee, eigentlich ein Hochmoor. Etwa hundert Meter vom südlichen Ufer lag die Leiche der Frau auf einer kleinen Lichtung. Ende des touristischen Programms, gehen wir mal zum Fundort.“

Je näher sie dem Teufelssee kamen, desto nervöser wurde Jan. Das Herz schlug ihm bis in den Hals. Es waren recht viele Spaziergänger unterwegs, auch Radfahrer, alle zu ihrem Vergnügen. Er, Jan, musste nun aber zeigen, was er draufhatte. Das bisschen Beratung und die Gutachten beim BKA hätte auch jeder andere Psychologe hinbekommen, der im Studium nicht nur gefeiert hatte und einen einigermaßen wachen Verstand besaß. Jetzt aber ging es los. Keine Ergebnisse hieß, keinen Job mehr zu haben. So einfach war das. Wahrscheinlich stand auf Seite 3 oder 4 seines Vertrages etwas zu Kündigung und Co. Dumm nur, dass er den Vertrag nicht gelesen hatte, abgesehen von dem Passus mit dem Honorar. Für Berliner Verhältnisse, hatte ihm Karo in einem zweiten Telefonat versichert, wäre das sehr ordentlich. Und jetzt lief er auf Ledersohlen durch einen Berliner Wald und besichtigte den Fundort einer Leiche. Hoffentlich waren wenigstens die Fotos gut. Natürlich hatte Karo Recht gehabt mit dem Vorschlag, die Fotos erst anzusehen, wenn der Fundort begutachtet war, doch was wäre, wenn ihm nichts einfällt? Er erschrak heftig, als ein Mountainbiker nur Zentimeter an ihm vorbeiraste.

Jan hatte ihr fast ein wenig leid getan, heute morgen. So gemütlich Hauptkommissar Stubenrauch auch wirken mochte, er war ein harter Hund, jedenfalls beruflich. Einer seiner Vorfahren war Polizeipräsident in Berlin gewesen, so weit sie wusste. Und Ehrgeiz hatte er sicher, vielleicht mehr, als ihm gut tat. Ihm verdankte sie zu einem guten Teil, dass sie nach dem Tod Stefans und der Geburt Alexandras überhaupt wieder auf die Beine gekommen war. Dass ihre Eltern wieder zurück nach Berlin ziehen würden, war ja ausgeschlossen, sie besaßen jetzt ein Haus, und all die so genannten Freunde hatten sich nicht mehr gemeldet, obwohl so ein Baby doch wohl der ideale Anlass war. Was nutzten ihr da ein hervorragender Abschluss und etliche Weiterbildungen, wenn sie in Depressionen verfiel und keinen Menschen mehr hatte, nicht mal eine beste Freundin? Stubenrauch hatte sie nicht in den Arm genommen und sie auch nicht getröstet. Er hatte sie nur ernst genommen. Die Erweiterung von ursprünglich acht geplanten forensischen Abteilungen auf schließlich zwölf war jedenfalls sein Werk gewesen. Sie hatte sogar den Eindruck gehabt, die Nummer XII habe er nur für sie, Karo Bartels, Witwe von Stefan Bartels, ins Leben gerufen. Und jetzt muss ich zeigen, dachte sie wieder einmal, was ich kann. Direkt vor ihnen begann der Holzsteg, der um den See herumführte. Sie waren ein Stück zu weit gegangen, wie es schien. Der Fundort musste schräg hinter ihnen liegen. Jan, der hinter ihr hergetrottet war, blickte sie müde an. „Schön hier“, sagte er, „ist das wirklich Berlin?“ Sie lächelte. „Da müssen wir lang“, sagte sie.

Sie hatte durchaus bemerkt, dass Jan ihr gestern mehr als nur ein Mal in den Ausschnitt geguckt hatte, ihr immer mal wieder auf den Hintern starrte und während der Autofahrt zwischen die Beine, doch nun schien er völlig verändert zu sein. Das wird wohl kaum, dachte sie, am Wetter liegen. Sicher hat er Angst, nichts zustande zu bringen. Kein Wunder, nach dem Auftritt von Stubenrauch heute morgen. Mehr als ein Stück Wald werden wir aber nun auch nicht sehen. Da vorne musste es sein. Sie stakste voran und hielt einige dürre Äste zur Seite, damit Jan nachkommen konnte. Sie konnte seinen Geruch wahrnehmen, diesmal war es wieder frischer Schweiß, wie in Wiesbaden auf der Konferenz. Für sie selbst, das wusste Karo, war das damals sicher so etwas gewesen wie eine Selbstbestätigung, das mit Jan, das mit diesem Abendessen und dem möglichen Danach. Mit Stefan lief es ja damals eher nicht, er wusste ja nicht einmal, dachte Karo jetzt, dass ich schwanger war. Und Jan ahnte sicher nicht einmal, wie nah ich dran gewesen war, ihn mit auf’s Hotelzimmer zu nehmen. Gut natürlich, dass sie es nicht getan hatte! Damals lebte Stefan noch, und er würde auch noch leben, wenn diese Razzia nicht verraten worden wäre! Das jedenfalls hatte Stubenrauch ihr gesagt, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, und ihr versprochen, den Schuldigen zu finden. Sie schüttelte sich, indem den Hals versteifte und einmal kurz mit dem Kopf ruckte. Reiß dich zusammen, Mädchen, sagte sie sich, reiß dich zusammen, denk an den Fall. Das ist deine Chance.

Eine etwa vier mal fünf Meter große Lichtung lag jetzt vor ihnen, wenn man das überhaupt eine Lichtung nennen konnte. Warum gerade hier, dachte Jan. Er zog die etwa zwanzig großformatigen Abzüge aus dem Umschlag.

„Warum gerade hier?“, fragte er. „Das ist einfach nur ein Stück Wald.“

Die zuoberst liegende Aufnahme zeigte ein Detail, nämlich die nackten Füße des Opfers. Er benötigte erst mal eine Gesamtsicht.

„Ja, warum hier“, antwortete Karo, „von hier bis zum nächsten befahrbaren Weg oder zur nächsten Straße ist es ein ganzes Stück. Reifenspuren waren übrigens keine da gewesen, Fußspuren kann man vergessen. Alles zertrampelt von dieser Wandertruppe, die die Tote endeckt hatte.“

Jan hatte inzwischen gefunden, was er brauchte, vier Fotos der Gesamtszenerie aus allen Himmelsrichtungen. Einmal ist ein Markierungstäfelchen umgefallen, ansonsten war alles gut zu erkennen. Wie man es aus Filmen kennt, dachte er.

„Der Boden ist hier überall eher matschig und tief“, sagte Jan, „man riecht auch das Wasser in der Nähe. Warum also bringt er, wenn es denn ein Mann war, sein Opfer nicht bis zum Wasser? Darf man überhaupt Opfer sagen, Karo?“

Ein älteres Paar in Wanderausrüstung stiefelte auf Sichtweite vorbei und grüßte.

„Ja, sicher“, erwiderte Karo, dem Paar kurz zunickend, „tot ist tot und die Todesursache gilt als nicht natürlich. Außerdem kursiert durch den Bericht der BN leider die Vermutung, dass die Frau erst vergewaltigt und dann ermordet worden ist. Der undichten Stelle im Apparat wird übrigens nachgegangen. Aber sie ist eben nicht vergewaltigt worden, und es gab auch kein irgendwie geartetes Eindringen post mortem. Das wüssten Sie aber alles, wenn Sie die Unterlagen studiert hätten.“

Sie grinste ihn schräg an.

„Vielleicht wollte der Täter, also der Leichenräuber“, fuhr sie fort, „sie ja in einem Boot auf den See schicken, vielleicht sogar nicht einmal auf diese Pfütze dort sondern auf den Langen See oder den Müggelsee. Man kennt das aus Filmen, denken Sie mal an ‘Dead Man’. Er hat es vielleicht einfach nicht geschafft bis dahin. Oder sich verlaufen in der Dunkelheit. Dann wäre diese Drapierung nur eine Verlegenheitslösung gewesen.“

Jan schritt, verschiedene Fotos in der Hand, hin und her. Langsam drang die Nässe durch die Ledersohlen hindurch.

„Sind auch keine Spermaspuren gefunden worden?“, fragte er plötzlich. „Ich weiß, hätte ich …“

„Nein“, erwiderte Karo, „weder auf der Leiche noch, wie gesagt, in ihr. Und hier auf dem Boden dürfte wohl kaum etwas zu finden gewesen sein. Immerhin lag die Frau hier laut Bericht fast zwei Tage. Als man sie hierher brachte, war sie übrigens auch schon mindestens zwei Tage tot. Das jedenfalls sagt die Rechtsmedizin, ohne sich wirklich festzulegen. Auch die Entomologie ist mit ihrer Zählerei von Insekteneiern nicht zu einem klaren Ergebnis gekommen. Aber wir sind ja auch noch da!“

Jan stellte sich an die vier Positionen, an denen auch der Fotograf gestanden hatte, um die Gesamtsituation zu fotografieren. „Der Leichnahm lag in Nord-Süd-Richtung“, überlegte er laut, „dabei zwar auf dem Boden, aber auf einer Art weißem Bettlaken, ein ziemlich großes, scheint mir, ein übergroßes Bettlaken. Ich frage erst gar nicht, ob …“

„Nein, da hat bisher keiner weiter nachgeforscht, bei Suizid wird eine Autopsie gemacht und die notwendigen Untersuchungen, um Fremdverschulden, also Mord oder Totschlag auszuschließen. Mehr nicht, vielleicht noch ein paar Befragungen, Stubenrauch hat’s ja gesagt. Unsere Leiche wurde jedenfalls, Stand jetzt, nicht ermordet, sie wurde sogar äußerst behutsam behandelt. Und ohne diesen Zeitungsartikel stünden wir auch nicht hier.“

„Das heißt aber auch, dass niemand zum Beispiel die Herkunft dieses blauen Kleides überprüft hat. Die Frage ist doch, ob das Opfer in diesem Kleid starb. Halt, stopp“ rief er plötzlich, so dass Karo zusammenzuckte, „was wäre, wenn sich das Opfer das hier gewünscht hätte?“

„Hatte ich auch schon dran gedacht, auch das mit dem Boot ist ja nicht so abwegig, aber natürlich hat niemand nach einem Boot gesucht.“

„Das sind ja tausend Fragen, wie soll man da jemals einen Täter finden!“

„Das nennt sich Polizeiarbeit, Jan, was wir hier tun. Kleinkram, Indizien, Fragen, Antworten und am Ende Beweise. Gewöhnen Sie sich schon mal dran. Wenn es einen Täter gibt, finden wir ihn auch. Sehen wir uns noch mal die Fotos an. Beschreiben Sie mir, was sie sehen, so als läge die Leiche noch dort.“

Jan zögerte. Beim BKA hatte er bei ein paar Fällen eine, seine Rolle gespielt, Stichworte geliefert, Fotos und Videos angesehen. An einem Tatort war er nie gewesen, und auch mit Verdächtigen oder Beschuldigten oder Zeugen hatte er nie Kontakt gehabt. Hier aber war das Ganze echter, realer. Hier hatte eine Leiche gelegen, ein anderer Mensch hat sie dorthin gelegt, sein Werk wahrscheinlich betrachtet, vielleicht auch fotografiert oder gefilmt. Und dann ist er irgendwann gegangen, zurück in sein normales Leben.

„Gibt es vielleicht“, sagte er, „Fotos von der Leiche im Internet? Das hier“, er beschrieb mit der rechten Hand einen Bogen, „muss doch einen Sinn ergeben, über die Sache selbst hinaus. Alles andere wäre doch kaum denkbar. Warum dieser Aufwand? Man spielt doch nicht Theater vor leeren Rängen. Oder immer nur mit sich selbst vor dem Spiegel. Der Täter sucht Öffentlichkeit.“

Jan musste an die gute Hilde denken, für die er als Therapeut die Öffentlichkeit gespielt hatte.

„Naja“, sagte Karo, immerhin ist die Presse dran. Aber Sie haben Recht, ich denke auch, dass der Täter Fotos gemacht haben könnte. Aber ob wir die in einem Bilderrahmen an einer Wand oder in einer Schublade finden oder im Internet, ist noch nicht ausgemacht.“

„Gut“, sagte Jan, „wir werden sehen. Jetzt mal zur Leiche.“ Er kam sich plötzlich ganz professionell vor. „Also! Eine Frau, Ende zwanzig, mittelgroß, rundes Gesicht, lange, fast schwarze und zu einem Zopf gebundene Haare, der links vom Kopf auf dem Laken liegt. Der Kopf ist nicht zur Seite geneigt, auch das fällt auf. Geschlossene Augen. Sie trägt ein hellblaues, sehr schlichtes Kleid, das fast bis zu den Knöcheln geht, die Füße sind nackt. Die Hände liegen unterhalb des Halses auf der Brust, die Handgelenke sind stark abgeknickt. Trotzdem sieht das nicht unnatürlich aus, wie überhaupt die ganze Figur etwas Gütiges ausstrahlt. Wenn man das so sagen darf. Was denken Sie?“

„Das Laken ist links und rechts oberhalb des Kopfes zusammengerafft, erwiderte Karo, „liegt sonst aber gleichmäßig auf. Das ist alles sehr ordentlich gemacht.“

Beide standen jetzt nebeneinander, sahen aber nicht auf eines der Fotos, sondern dorthin, wo die Leiche gelegen hatte.

„Sollten das vielleicht Flügel sein! Eine religiöse Metapher? Ist das hier ein Ritual gewesen?“, fragte Jan nach einer Weile.

„Es sind keine Substanzen irgendwelcher Art gefunden worden, keine Drogen, auch keine Kerzenreste, Streichhölzer oder sonst etwas in der Richtung. Aber vielleicht gibt es ähnliche Bilder im Internet, die so eine Zeremonie zeigen, vielleicht sogar ein Video. Wir haben da einen Spezialisten, den werde ich gleich mal anfordern. Aber religiöser Wahn? Glaube ich nicht, doch für so was sind Sie ja zuständig. Da drüben sind übrigens Fußstapfen, kommen Sie, hier ist der Mensch mit der Leiche auf den Schultern fast zwanzig Zentimeter eingesunken.“

„Also doch Spuren! Warum sind da vier Fußstapfen nebeneinander.“

„Das sind Referenzspuren, die Kollegen haben ausprobiert, wie tief man einsinken kann mit so einem Gewicht von etwa 60 Kilo auf den Schultern. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist das also eine Spur vom Täter, allerdings ohne großen Wert. So, und jetzt tragen Sie mich als Leiche mal bis zum Auto! Mal sehen, wie weit Sie als gesunder Mitteleuropäer kommen. Das ist auch ein Teil der praktischen Polizeiarbeit.“

Die Engel am Teufelssee

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