Читать книгу Die Engel am Teufelssee - Marie Louise Lennart - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеAm nächsten Morgen stand Jan Nordhäuser in aller Herrgottsfrühe auf, trank einen starken Kaffee und fuhr dann schließlich um sieben Uhr fünfzehn los. Gefühlte Zeit: Vier oder fünf Uhr am Morgen. Normalerweise machte er keine Termine vor dreizehn Uhr. Das Thermometer zeigte trotz der nachtschlafenden Stunde bereits neunzehn Grad Celsius. Blauer Himmel, kein Wölkchen, kein Wind. Am Abend zuvor hatte der Höllentalwind die Stadt vom Sommermief befreit, wie jeden Abend. Nordhäuser nahm an, dass das Wetter in Berlin im Sommer angenehmer sein würde. Platt wie eine Flunder und weit und breit keine richtigen Berge, die sich einem frischen Lüftchen in den Weg stellen würden. Allzu stickig konnte es in der Hauptstadt also nicht werden. Obwohl ... allein der Gedanke an seine neue Chefin Karo Bartels trieb Nordhäuser den Schweiß auf die Stirn. Was nicht nur daran lag, dass er bis jetzt sein eigener Chef gewesen war und sich immer noch über ihren Befehlston von gestern ärgerte. Klar, Karo sah einfach verdammt gut aus, aber selbst von schönen Frauen ließ er sich nicht gerne hetzen. Er fuhr, nachdem er eine Weile im frühmorgendlichen Berufsverkehr gesteckt hatte, auf die A 5 Richtung Karlsruhe auf und warf einen Blick auf die Uhr. Und die ganze Zeit Autobahnfahren käme auch nicht in Frage, er benötigte auch mal eine Pause, das stand fest. Vielleicht hätte er doch früher losfahren sollen.
Für die sechshundert Kilometer von Freiburg bis Leipzig benötigte er dann schon fast neun Stunden, nachdem er kurz nach Würzburg auf die Landstraße gewechselt war. Und bei der einzigen Pause kurz vor Eisenach hatte er sich dann auch noch festgequatscht. Doch damit musste man rechnen, wenn man einen ‚Buckelvolvo’ fuhr, einen PV444L von 1958, in rot, das 85-PS-Modell, noch dazu mit Sicherheitsgurten und top in Schuss. Er hatte den Fehler gemacht, das Drei-Gang-Getriebe mit unsynchronisiertem ersten Gang anzusprechen, worauf der schon ältere Zeitgenosse am Tisch gegenüber erst einmal richtig ausgeholt hatte. Ab Leipzig nahm er dann die A 9 Richtung Berlin. Noch 170 Kilometer. Damit würde er mit reichlich Verspätung in Berlin eintreffen. Wahrscheinlich sollte ich Karo anrufen und ihr Bescheid geben, dachte er ein paar Mal. Das wäre vernünftig. Dabei beließ er es.
Er hatte Karo im vergangenen Jahr zufällig auf einer Tagung in Wiesbaden kennengelernt, bei der Experten einem Haufen Krimi- und Drehbuchautoren Rede und Antwort standen. Die Veranstaltung fand einmal im Jahr statt und war inzwischen beinahe so etwas wie eine Institution. Dieses Mal war der Schwerpunkt ‚Serienmörder und ihre Opfer’ gewesen. Karo war als eine erfolgreiche junge Ermittlerin vorgestellt worden, was sie mit einer lässigen Handbewegung und einem umwerfend kühlen Blick sowohl bestätigt als auch kokett zurückgewiesen hatte. Genauso souverän hatte sie auch ihren Vortrag gehalten. Es ging um weibliche und männliche Serienmörder, die operative Fallanalyse, um Abweichungen vom so genannten Normalmodell, aber auch um die Neustrukturierung der Forensik in Berlin nach neuesten Erkenntnissen, um im besten Falle einen Serienmörder so frühzeitig wie möglich zu erkennen und zu fassen. Nordhäuser selbst war dieser ganze kriminalistische Kram eigentlich eher zuwider. Er war da zufällig hineingeraten, genauer gesagt wegen des Falls Hilde Knifflinger. Die gute Hilde! Frau Knifflinger war jahrelang seine Patientin gewesen und hatte ihren Rachephantasien drei Mal wöchentlich bei ihm Luft gemacht. Es waren ziemlich heftige, detaillierte Phantasien gewesen, aber so etwas kam vor, auf die Realität bezogen hatte das in der Regel keinerlei Bedeutung. Bei einer Kassenpatientin hätte er vielleicht kurzen Prozess gemacht, sie medikamentös eingestellt oder sie für eine Weile irgendwo eingewiesen. Aber er nahm von jeher nur Privatpatienten, er war ja nicht umsonst in Freiburg, denn viele dort konnten sich das Schimpfen bei einem Psychologen meist locker leisten, genau so wie notfalls auch einen Anwalt. Durch den Fall Knifflinger hatte er dann zum ersten Mal Kontakt mit der Polizei gehabt, denn nur er allein wusste überhaupt etwas über die Dame. Im Fall eines Mordes war die ärztliche Schweigepflicht natürlich aufgehoben. Danach war er mehrmals in verschiedenen Fällen zu Rate gezogen worden, von der Kriminalpolizei in Freiburg ebenso wie auch zwei, drei Mal vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden.
„Wie die Jungfrau zum Kind bin ich dazu gekommen“, hatte er zu Karo gesagt, als sie ihn nach der Wiesbadener Tagung beim Abendessen im Schwarzen Bock angesprochen hatte. „Ich bin als Psychologe ja für die Lebenden da. Wenn Sie so wollen, mache ich ihnen das Leben für eine kleine Gebühr wieder lebenswert. Mord und Totschlag interessieren mich eigentlich gar nicht.“ Sie hatte ihm das nicht abgenommen und großes Interesse an seiner Arbeit gezeigt, speziell am Fall Knifflinger. Leider nur daran, denn seine kleinen feinen Flirtversuche hatte sie eiskalt abgeblockt, auch nachdem sie übereingekommen waren, sich zu duzen. Am Ende des Abends war sie dann ein wenig verärgert gewesen, weil er immer wieder abgestritten hatte, dass seine wahre Berufung eher im Aufspüren und Jagen und sein eigentliches Talent womöglich im Erstellen von Täterprofilen liege. Ihre Worte und die Leidenschaft, mit der sie ihre Meinung vertrat, hatten ihn sogar ein wenig befremdet. Vielleicht hatte Karo auch ein bisschen zu viel von dem ausgezeichneten Riesling gehabt. Obwohl: Wenn er sich richtig erinnerte, hatte sie den ganzen Abend über nur Wasser getrunken. Er war auf jeden Fall ziemlich betrunken gewesen und war schließlich alleine auf sein Hotelzimmer getorkelt.
„Du bist ein Menschenjäger, das kann ich deinen Augen ansehen“, hatte Karo jedenfalls mehrmals gesagt. Ihre Worte waren ihm noch lange im Kopf herumgespukt. Nicht, weil er glaubte, dass sie Recht haben könnte. Aber er hatte schon überlegt, dass sie wahrscheinlich doch noch rumzukriegen gewesen wäre, wenn er ihr einfach zugestimmt hätte. Ja, klar, ich bin ein Menschenjäger. Für dich, Karo! Für diese Nacht! Er wusste selbst nicht, warum er ihr so vehement widersprochen hatte, doch wahrscheinlich, so dachte er damals, würde er sie ohnehin nie wiedersehen.
Aber dann hatte er geraume Zeit später ihre Stimme gehört, nicht in seinem Kopf, sondern aus dem Radio. Er hatte auf der A 5 irgendwo zwischen Basel und Freiburg im Stau gestanden und einen Nachrichtensender gehört, als der Bericht über ein neues Kompetenzzentrum der Kriminalpolizei in Berlin angekündigt wurde. Die Leitung einer der neuen Einheiten sollte eine junge, dynamische und taffe Hauptkommissarin übernehmen: Karo Bartels. Allein die Erwähnung ihres Namens hatte ihn schon elektrisiert, aber als er dann auch noch ihre raue, dunkle Stimme hörte, versetzte es ihm einen regelrechten Schlag. Karos Stimme klang nach filterlosen Zigaretten, Whisky pur, schummerigen Bars, Chansons und gedämpfter Klaviermusik. Und das in ihrem Alter! Wie alt mochte sie sein. Mitte dreißig? Nordhäuser war klar, dass das alles nicht wirklich zu der nordisch blonden, leidenschaftlichen und gleichzeitig kühl beherrschten Frau passte, die er in Wiesbaden kennengelernt hatte. Überhaupt nicht! Außerdem meinte er sich zu erinnern, dass Karo Bartels eine ernsthafte Läuferin und eine beinahe militante Nichtraucherin war. Er hatte sich beherrscht und war nur ein Mal, als sie zur Toilette mußte, vor der Tür gewesen zum Rauchen, doch als er wieder an den Tisch zurückgekommen war, hatte sie die Nase gerümpft. Trotzdem musste er bei ihrer Stimme an Zigaretten denken, an Whisky, an Chansons und all diese wunderbaren alten Tom-Waits-Songs – an Dinge, die ihm gefielen.
Zwei Tage nach dem Radiobericht hatte Karo ihn in seiner Praxis angerufen. „Erinnern Sie sich an mich, Nordhäuser?“, hatte sie mit ihrer rauen Stimme gefragt.
„Karo? Waren wir nicht beim Du?“, hatte er sofort zurück gefragt.
„Im Moment bin ich bei einer Freundin in Emmendingen. Einen Katzensprung von Ihnen entfernt. Können wir uns treffen? Ich will Ihnen ein Angebot machen, Jäger.“
„Okay“, sagte er und spürte, wie ihm ganz heiß wurde.
Falls er sich irgendwelche Hoffnungen gemacht hatte, Karos Angebot könne vielleicht ein unmoralisches sein, hatte er sich getäuscht. Sie war nicht nur kleidungsmäßig extrem zugeknöpft. Auch ihr Ton machte klar, dass es sich nicht um ein privates Treffen handelte. Sie trafen sich im Art-Café in der Freiburger Innenstadt, ganz nah an der Uni, das Nordhäuser immer auswählte, wenn ein Gespräch tagsüber auf neutralem Boden stattfinden sollte. Wie immer waren viele Studenten da, er ergatterte aber fast sofort einen Platz und bestellte sich einen Kaffee, „einen normalen bitte, wie früher.“ Die Bedienung zog die Augenbrauen zusammen, strahlte ihn dann aber an. Danach bestellte er sich ein Bier. Karo verspätete sich.
„Nett hier“, hatte Karo dann gesagt, noch bevor sie sich überhaupt zu ihm gesetzt hatte. Sie bestellte ziemlich schnippisch, wie Jan fand, ein stilles Mineralwasser mit einem Eiswürfel und einer ganzen Zitronenscheibe. Irgendwie hatte sie sich verändert, schien ihm. Vielleicht war sie ja nur müde, doch ihre Augen hatten nicht mehr den Glanz, an den er sich erinnerte. Außerdem schien sie zugenommen zu haben, aber das konnte auch daran liegen, dass sie flache Schuhe trug, wie er enttäuscht feststellte. Nordhäuser nahm jetzt einen doppelten Espresso. Karo kam sofort zur Sache. Sie wollte ihn in ihrer Einheit dabei haben, in Berlin. Er sollte für sie arbeiten, mit ihr arbeiten.
„Ich brauche einen guten Psychologen im Team, Nordhäuser, nicht so einen Sesselfurzer. Ihre Aufgabe ist eintauchen, nachfühlen, sich Klarheit verschaffen, begreifen, was passiert ist, aufklären natürlich, und was der Schlagworte noch mehr sind, kurz, einen Profiler, wie man das im angloamerikanischen Bereich nennt.“
Als er nichts sagte, fuhr sie fort: „Das Verhindern von Straftaten gehört ausdrücklich auch zu unserer Aufgabe, das wurde in der Polizeiarbeit der Vergangenheit zu sehr vernachlässigt. Deswegen ist das Begreifen so wichtig, verstehen Sie! Und das Erstellen einer entsprechenden Datenbank, das natürlich auch. Also, was sagen Sie?“
Na bitte, da war das Funkeln ihrer Augen ja wieder. Sie hatte an ihrem stillen Wasser genippt und ihn über den Rand ihres Glases hinweg angesehen. Es lag nichts Forschendes in ihrem Blick, keine Zweifel, keine Frage, sondern einfach der Ausdruck eines Triumphs, der sich einstellt, wenn man einen anderen richtig eingeschätzt hat. Wenn der genau so reagierte, wie man es vorausgesehen hatte. Sie schien auch nicht einen Moment daran gezweifelt zu haben, dass er sein geliebtes Freiburg verlassen würde, um in diesen grausigen Moloch Berlin zu ziehen. Und das, obwohl das Beraterhonorar, das sie ihm anbieten konnte, für ihn sicher nur ein schlechter Witz sein würde! Aber sie hatte sein Interesse geweckt, das konnte sie sehen, seinen Jagdinstinkt, seine Neugierde auf etwas ganz Neues.
Was für eine Wendung, überlegte er, als er mit Tempo 105 gemächlich eine Lastwagenkolonne überholte: Bis vor einem Monat noch praktizierender Psychologe in Freiburg, und nun fester freier Mitarbeiter der Kriminalpolizei in Berlin. Auf einmal musste er wieder an Hilde Knifflinger denken. Die gute Hilde!, kam es ihm reflexartig in den Sinn. In ihrer Kindheit und Jugend hatten alle sie immer nur die gute Hilde genannt. Ihre Eltern besaßen ein Weinlokal in Eltville, und während Hildes jüngere Schwestern geheiratet und ein eigenes Leben aufgebaut hatten, hatte sie jahrelang im Lokal ihrer Eltern geschuftet. Ein gutes und fleißige Mädchen, das sich ohne zu murren ausbeuten ließ. Bis sie ihren ersten Mann kennengelernt hatte, Kurt. Als Hilde Knifflinger das erste Mal zu Nordhäuser in die Praxis gekommen war, hatte sie die sechzig bereits überschritten und war zum vierten Mal verheiratet. Die Sitzungen bestanden aus endlosen Schimpftiraden auf ihren Vater … und die Männer, mit denen sie verheiratet gewesen war: Kurt, Hannes und Adalbert, alle verstorben. Die Sitzungen waren wie ein immer gleiches Theaterstück, das aus einem einzigen zornigen Monolog bestand, nur unterbrochen von einigen wenigen Fragen seinerseits. Am Ende sagte Hilde immer, sozusagen als Schlusswort: „Aber natürlich kümmere ich mich trotzdem um ihre Gräber. Die sehen immer picobello aus, da kann mir niemand was vorwerfen!“ Die gute Hilde! Und dann hatte eines Tages die Polizei bei ihm in der Praxis gestanden.
Ein wütendes Hupen riss Nordhäuser aus seinen Gedanken. „Ja doch!“, brüllte er und zog auf die rechte Spur. Er wusste schon, warum er lieber die Landstraße benutzte.
Die gute Hilde hätte das Ende seiner Karriere bedeuten können, einen schlechten Ruf hat man schnell weg. Als die Polizei bei ihm aufgetaucht war, lag Ehemann Nummer Vier mit einer schweren Vergiftung im Krankenhaus, und die inzwischen siebenundsechzigjährige Hilde hatte sich den Polizisten, die sie zur Vernehmung mit aufs Revier nehmen wollten, mit einem Faustschlag und einem Tritt vors Schienenbein widersetzt und war dann durch die Kellertür und den Garten verschwunden. Unglaublich, dachte er, wie im Film. Nordhäuser trat das Gaspedal durch und glitt elegant wieder auf die linke Spur. Schleichen musste er ja nun auch wieder nicht. Kein Mensch wusste jedenfalls, wo die gute Hilde sich versteckt halten könnte, bei wem und wovon sie lebte. Es war ein kalter Winter und eher unwahrscheinlich, dass sie in irgendeiner Laube oder etwas ähnlichem untergeschlüpft war. Man überprüfte alle Möglichkeiten und forschte in alle Richtungen, so dass ehemalige Klassenkameraden Hildes im Hunsrück oder im Taunus Besuch von der Polizei bekamen, ebenso wie Pensionwirtinnen auf Sylt oder auf Mallorca, wo sie mehrmals in Urlaub gewesen war. Schließlich hatte Jan den entscheidenden Einfall gehabt, wie Hilde vielleicht gefasst werden könnte. Die Polizei hatte dann Fotos von einem Dutzend verwahrloster Gräber machen lassen, darunter die inzwischen tatsächlich unansehnlich gewordenen ihrer drei verblichenen Ehemänner, die mit einem passenden Artikel in den Lokalzeitungen der Region unter der Schlagzeile: ‚Schandflecken auf dem Friedhof – Niemand kümmert sich!’ veröffentlicht wurden. Zwei Tage später war Hilde dann am frühen Morgen mit Gießkanne, Gartenwerkzeug und einem Zwölferpack Stiefmütterchen auf dem Friedhof aufgetaucht. Ein bißchen Glück war natürlich dabei gewesen, das war Jan klar, denn auf Sylt hätte die Gute den Artikel nicht lesen können. Oder wollte sie sich schnappen lassen, wenn sie ausgerechnet die Gräber ihrer Opfer pflegte? Während des Prozesses hatte sie ihm dann einige Male lächelnd zugenickt. Schließlich wurde sie zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gutachten über ihren Geisteszustand hatte ein Kollege erstellt, der sie als voll schuldfähig einstufte, und der ihn, Jan, dann unter vier Augen der Naivität bezichtigte. „Sei mir nicht böse, Jan“, hatte er gesagt, „aber das hättest du mitbekommen müssen, dass da eine Mörderin vor dir sitzt. Definitiv.“