Читать книгу Die Engel am Teufelssee - Marie Louise Lennart - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеKaro Bartels stieg schnell die Wendeltreppe ins Konferenzzimmer hinauf. Sie kümmerte sich nicht darum, welchen Eindruck die Büroräume des Teams Forensik XII auf Nordhäuser machen würden. Eigentlich hatte sie gedacht, ihm alles in Ruhe zu zeigen, doch das war jetzt natürlich passé. Als sie sie zum ersten Mal gesehen hatte, war sie beeindruckt gewesen. Von jedem Raum aus bot sich ein atemberaubender Blick auf die Stadt. Die Unterbringung ihres Teams ganz oben über den Wohnetagen in der doppelstöckigen Kuppel und dem Geschoss darunter war aber nur temporär, und bei dem Gedanken, hier wieder raus zu müssen, blutete ihr jetzt schon das Herz. Man konnte sogar bei gutem Wetter auf der viereckigen, umlaufenden Dachterrasse arbeiten, und um den Turm oben lief auch noch eine Balkon rundherum, ideal zum Nachdenken, fand sie.
Karo Bartels war vierunddreißig Jahre alt und leitete das neue Team Forensik XII, das zur Polizeidirektion I gehörte, zuständig für Delikte am Menschen und für Prävention. Forensik XII war ein Pilotprojekt, das die Effektivität der polizeilichen Ermittlungsarbeit erhöhen sollte, indem in sogenannten Kernteams gearbeitet wurde. Ein Team bestand meistens nur aus einem Hauptkommissar und ein oder zwei Spezialisten aus den Bereichen Chemie, Biologie, IT und so weiter. Allerdings arbeiteten nicht alle dieser Spezialisten hauptberuflich für die Polizei, einige waren an einer Uni oder einem Institut beschäftigt oder hatten eigene Praxen oder Firmen. Alles natürlich auch aus Kostengründen, das Land Berlin musste sparen. Doch wenn es Karo Bartels gelang, das Pilotprojekt erfolgreich zu etablieren, gäbe es womöglich mehr Geld und mehr Planstellen. Jedenfalls war das jetzt ihre Chance, ihr Ehrgeiz war angestachelt wie nie!
Jetzt gerade war sie allerdings vor allem damit beschäftigt, ihren Ärger auf Nordhäuser in den Griff zu bekommen. Der Ärger war natürlich berechtigt, denn was bildete sich dieser Kerl überhaupt ein! Sie atmete tief durch. Beruhig dich, sagte sie sich, für die Arbeit, die jetzt ansteht, brauche ich einen klaren Kopf. Leider weigerte sich ihr Kopf gerade irgendwie, die Gedanken wieder in vernünftige Bahnen zu lenken. Und vor ihm die Treppe hinaufzugehen ist natürlich falsch gewesen, dachte sie jetzt unwillkürlich, sozusagen gegen ihren Willen. Wenn der Typ wüsste, wie schwer es gewesen ist, auch nur annähernd wieder in Form zu kommen! Eine Hollywood-Diät war das Einzige, das geholfen hatte, und ihre Ärztin hatte natürlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen! Ein Glück aber wenigstens, dass ich heute diesen nicht auftragenden Slip angezogen habe, dachte sie weiter – es war wie ein Zwang. Die Verkäuferin hat aber extra noch betont, wie sehr sich diese Slips für Hosenanzüge eigneten, vor allem im Sommer. Nur ein String-Tanga oder nichts drunter anzuziehen ist noch besser, hatte die Verkäuferin gesagt. Himmel, Karo!, ermahnte sie sich. Dieser Typ starrt dir auf den Hintern und du denkst gleich über deine Unterwäsche nach! Reiß dich gefälligst zusammen! Eine Frau ist tot und du ... Der Gedanke an die tote Frau ließ sie mit einem Schlag wieder klar werden. Arbeit wirkte bei Karo Bartels immer. Wie Medizin. Auch wenn sie manchmal bitter schmeckte, man nahm sie doch ein. Weil sie half. Immer. Na ja, fast immer.
Der Konferenzraum befand sich in der Kuppel des Turms. Karo ging direkt auf den Tisch zu. Nordhäuser, der hinter ihr die Treppe heraufgeschnauft gekommen war, blieb erstaunt stehen. Er schaute zu der hohen, kuppelartigen Decke hinauf, die mit weiß getünchten, leicht hervorstehenden Rechtecken verziert war. Die Häuser an der Karl-Marx-Allee, das wusste er, waren Prestigeobjekte der neu gegründeten DDR gewesen und hatten mit ihrer Pracht und Weitläufigkeit die Stärke und Überlegenheit des sozialistischen Staates demonstrieren sollen. Auch der Turm stammte aus den Fünfzigerjahren. Aber wenn man sich hier oben unter seiner Kuppel befand, konnte man durchaus das Gefühl haben, in einer altehrwürdigen Kirche zu stehen. Auch Karo staunte jedes Mal, wenn sie den Konferenzraum betrat, aber Nordhäuser wollte sie dafür heute keine Sekunde Zeit geben.
„Setzen Sie sich“, sagte sie barsch und hätte beinahe mit der Faust auf den Tisch gehauen, als er ihrer Aufforderung nicht umgehend folgte. Sie mahlte mit den Zähnen. Er ließ sich noch drei, vier Sekunden Zeit, dann kam er zu ihr an den Tisch.
„Gibt’s Kaffee?“, fragte er.
Der Typ hatte Nerven!
„Wasser“, sagte sie. „Treppe runter und rechts ist das Klo. Sie dürfen sich gerne am Wasserhahn bedienen. Dieser Tisch, ein paar Stühle, Strom- und Wasseranschluss und W-LAN. Mehr haben wir hier noch nicht. Alles andere kommt erst in ein paar Tagen, am Freitag, wenn wir Glück haben.“
Er ließ sich schulterzuckend auf einen Stuhl fallen und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Tatsächlich fühlte es sich ein bisschen so an, als wären sie auf einen nicht isolierten Dachboden geklettert. Obwohl die beiden, knapp nebeneinander liegenden Türen zum umlaufenden Balkon geöffnet waren, regte sich kein Lüftchen und es herrschten mindestens dreißig Grad. Karo wies energisch auf die Unterlagen, die vor ihr lagen und sah ihn herausfordernd an. Sein zerknittertes, ehemals wohl weißes Oberhemd stand weit offen, so dass die dunklen Brusthaare fast schon hervorquollen, und als er jetzt auch noch sich streckend die Arme nach oben reckte, zog ihr ein scharfer Schweißgeruch in die Nase. Sie fühlte sich leicht angewidert und musste sich zwingen, den Blick von seinem Oberkörper abzuwenden und ihm in die Augen zu sehen. „Ich habe mehrmals versucht, Sie auf dem Handy zu erreichen. Wo waren Sie?“
„Ich dachte, damit wären wir durch“, erwiderte er, ohne eine Miene zu verziehen.
„Schon mal was von Probezeit gehört?“, fragte sie.
„Ich bin freiwillig hier. Ich kann jederzeit wieder gehen“, sagte er. Lügner, dachte sie und musste sich das Grinsen verkneifen. Er schien es trotzdem bemerkt zu haben, denn sein Blick wurde plötzlich hart. Er beugte sich vor, wie zum Sprung, zum Kampf bereit. Sie hatte ihn als einen seriösen und gepflegten, vierzigjährigen Psychologen aus Freiburg kennengelernt. Dann, später, hatte sie den Eindruck gewonnen, er lasse sich nur gar zu gern überreden, die Privatpraxis aufzugeben und sich in ein berufliches Abenteuer in Berlin zu stürzen. Dass da ein Ehering am Ringfinger fehlte, war ihr natürlich sofort aufgefallen, noch bevor er in einem kurzen Nebensatz seine Scheidung erwähnt hatte. Es dauerte immer eine Weile, bis das nicht mehr zu sehen war, vor allem, wenn man ihn lange getragen hatte. Sie selbst trug ihren Ring auch nicht mehr. Aber aus einem ganz anderen Grund als Nordhäuser. Der Gedanke an ihren Mann versetzte ihr einen kurzen schmerzhaften Stich in die Brust. Dann fing sie sich wieder und wandte ihre ganze Aufmerksamkeit nun dem schmierlappigen Typ zu, der da jetzt vor ihr saß. Sie betrachtete ihn ganz genau, so als sei er ein Verdächtiger, der gut und gerne schon in ein paar Minuten ein Beschuldigter sein konnte. Das war immer eine gute Übung, wenn man es nicht übertrieb. Gut ein Meter achtzig groß, dunkelbraune, halblange Haare, gewellt, begann sie in Gedanken und der Reihe nach, kantiges Gesicht, blass, länglich, normale Nase, keine angewachsenen Ohrläppchen, blaue Augen, unauffälliges Gebiss, großes Kinn, kein sichtbarer Adamsapfel, Brustbehaarung, schlank und mittelprächtig muskulös, ziemlich kräftige Unterarme – und außerdem, schloss sie ihre Beobachtung ab, ist er unrasiert und stinkt nach Schweiß.
Jan schob den Unterkiefer vor wie ein trotziges Kind. „Ich habe mich verspätet. Aber jetzt bin ich hier. Können wir dann also anfangen,“ sagte er. „Sicher“, sagte sie und setzte ein süßliches Lächeln auf. „Womit wollen wir denn anfangen? Vielleicht mit den Arbeitsstrukturen? Also gut, zunächst mal zu den forensischen Teams, damit Sie einen Überblick bekommen. Passen Sie auf.“ Eigentlich hatte sie weder Lust noch Zeit für Spielchen, aber der Typ ärgerte sie. Von der forensischen Traumatologie bis hin zur digitalen Bildforensik zählte sie nun ein Team nach dem anderen auf und genoss es dabei zuzusehen, wie Nordhäusers Ungeduld wuchs. „Und schließlich wir, Forensik XII. Zwölf ist meine Lieblingszahl.“ Er nickte nur, und sie fuhr fort. Während sie sprach, beobachtete sie Nordhäuser unablässig. Inzwischen war er immer mehr auf dem Stuhl nach vorne gerutscht und hatte die Beine weit von sich gestreckt. Das Hemd klebte ihm an den Schultern. Er sah aus, als stehe er kurz vor einem Hitzschlag. Auch sie hatte das Gefühl, hier oben gebacken zu werden, aber zum Glück schwitzte sie nicht so leicht. Vielleicht setzte in ihrem Gehirn aber auch schon etwas aus, auf jeden Fall hatte sie keine Ahnung, wie sie jetzt auf semiotische Grundlagen und hermeneutische Polizeiforschung gekommen war, über die sie nun gerade wie automatisch sprach, und auch ihr war schließlich so heiß, dass ihr Körper Gegenmaßnahmen einleitete. Sie bekam eine Gänsehaut und wurde von einem leichten Frösteln geschüttelt.
„Imgrunde aber“, sagte sie schnell, „üben wir uns ab einem gewissen Punkt der Untersuchung alle in der Kunst der Heuristik!“
Nordhäuser reagierte nicht. Sie blickte ihn herausfordernd an.
„Sie haben keine Ahnung, was das bedeutet. Habe ich Recht?“, fragte sie. Das war ein Angriff, den sie sich nicht verkneifen konnte, der Gipfel der Unverschämtheit. Natürlich wusste Nordhäuser, was Heuristik bedeutete, das war ihr natürlich klar, denn in seinem Fach ging es trotz allen Fachwissens am Ende immer auch darum, aus wenig Informationen viel herauszulesen und daraus schnell Schlüsse zu ziehen. Imgrunde musste man ziemlich oft einfach mit dem gesunden Menschenverstand vorgehen, um komplexe Situationen zu beurteilen, zum Beispiel um festzustellen, wo in einer Ordnung die Unordnung beginnt. An diesem Punkt besaß die Arbeit von Kriminalisten und Psychologen unverkennbar eine Schnittmenge. Am besten machte man sich sogar ein Bild von einem Menschen oder der Lage an einem Tatort, noch bevor konkrete Informationen vorlagen, denn wer wusste schon, ob sich überhaupt etwas Stimmiges fand. Gefühlssache eben, aber erlernbar. Ihre Provokation erreichte Nordhäuser endlich. Mit schräggelegtem Kopf und geschürzten Lippen sah er sie an.
„Hör zu, Karo“, sagte er, „ich habe eine immerhin halbtägige Reise hinter mir.“ Er sah auf die Uhr. „Ich möchte dich also bitten, mir einen Gefallen zu tun. Ich bin müde und will mir nur noch ein Hotelzimmer nehmen und mich aufs Bett schmeißen. Also komm endlich zu Sache.“
Wenn Blicke töten könnten!
„Aber sicher doch, sicher. Und keine Sorge, Hotelzimmer gibt es in Berlin wie Sand am Meer“, sagte Karo, während sie in ihren Papieren zu kramen begann. Sie blickte dabei zwei, drei Mal hoch und lächelte ihn an. Er wirkte jetzt auf sie tatsächlich wie ein Verdächtiger, der Angst hatte, dass nun der entscheidende Beweis gegen ihn aufs Tapet kommt, dachte sie vergnügt. Sogar sein Brusthaar war jetzt klatschnass und klebte auf der Haut, die kleinste Bewegung ließ den herben Schweißgeruch zu ihr herüberströmen. Schon in Freiburg bei der Tagung damals war ihr das mit dem Schwitzen aufgefallen, doch da war es frischer Schweiß gewesen. Nordhäuser hatte ihr gefallen, sie konnte ihn gut riechen, wie man so schön sagte. Trotzdem hatte sie ihn nach dem Abendessen einfach stehen lassen. Eiskalt abserviert. So war es ihm wahrscheinlich vorgekommen. Aber was hätte sie ihm denn sagen sollen? Dass sie schwanger war? Immerhin hatte sie den ganzen Abend weder Alkohol getrunken noch geraucht, während er wie ein Irrer gesoffen hatte und am liebsten alle paar Minuten zum Rauchen rausgerannt wäre. Man musste doch wohl kein Psychologe sein, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen!
Sie suchte weiter in dem Stapel Papier, nach einem Ausdruck, einem Foto. „Ich hab’s gleich“, sagte sie, „ich hab’s gleich. Ah, da haben wir’s ja, es lag mit der Oberseite nach unten. Da kann ich ja lange suchen.“ Sie zog vorsichtig ein Blatt aus dem Stapel. Ein Farbfoto, auf normalem DIN-A4-Papier ausgedruckt, mit einem weißen Rand. Das Bild selber war überwiegend grün und braun, in der Mitte etwas Hellblaues auf etwas Weißem. Karo Bartels schob es über den Tisch. „Das hier ist unser Fall!“