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Das Funktionsdilemma

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Die Bedeutung deines Lebens ist etwas, das du schaffst.

Noam Chomsky

Es ist ein regnerischer Novembertag, als ich mich auf den Weg zu einem Vortrag vor Studenten und Absolventen der Technische Universität München ins neu eingeweihte Werksviertel mache. In diesem Stadtentwicklungsgebiet, von dem aus die Pfanni-Knödelfabrik jahrzehntelang die Bundesrepublik mit Fertigknödeln belieferte, befinden sich heute Bürogebäude, schicke Container mit Weinbars sowie gleich neben einem Partydach Schafe und Hühner auf einer „Dachalm“. Dass die Tiere dort überhaupt sein dürfen, war nicht dem Münchner Veterinäramt zu verdanken, das sich nicht dazu äußern wollte, ob sich Hühner und Schafe überhaupt miteinander vertragen. Das Amt übertrug die Verantwortung den Betreibern, sie dort anzusiedeln. Bei jeder Party auf dem begrünten Dach der ehemaligen Fabrik kommen die Schafe neugierig an die Partyzone heran, staunen und lauschen.

Genauso lauschten und staunten vermutlich die Studenten bei meinem Vortrag über die Technologietrends in der Automobilbranche. Fahrerlose Autos navigieren heutzutage sicher durch die Straßen der San Francisco Bay Area. Ein Physikabsolvent hob nach dem Vortrag die Hand und erklärte überzeugt:

Ich habe ein Haus in den Bergen und im Winter ist das immer zugeschneit. Da muss ich zehn Kilometer über schneebedeckte Straße fahren, um dorthin zu gelangen. Das wird ein autonomes Auto nie können.

Das war im Jahr 2019, genau 50 Jahre nach der ersten bemannten Mondlandung. Das war einige Tage, nachdem die Voyager-2-Sonde unser Sonnensystem verlassen und endgültig in den interstellaren Raum vorgedrungen war. Das war Jahre, nachdem Menschen in 10.000 Metern Tiefe mit U-Booten und Tauchrobotern im Meer die Welt erkundet haben, nachdem wir Raumsonden auf andere Planeten und Monde in unserem Sonnensystem gesandt haben und wir mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit auf unserem eigenen Planeten fliegen können.

Dennoch ist ein Physiker der TU München felsenfest davon überzeugt, autonome Autos würden nie eine zehn Kilometer lange schneebedeckte Strecke zurücklegen können – von derselben TU, dessen Hyperloop-Team viermal in Folge den Wettbewerb zum schnellsten Hyperloop-Pod gewonnen hat und sogar eine eigene Teststrecke um München erhalten wird.

Ich könnte diese Behauptung als einen statistischen Ausreißer ignorieren. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Ein Physiker macht noch keine TU. Doch ist dies kein Einzelfall, denn gerade aus dem deutschsprachigen Raum kommen zu selbstfahrenden Autos immer wieder solche Reaktionen. Kritischer sehe ich solche Aussagen, wenn sie von Ingenieuren stammen. Menschen, die ausgebildet wurden, Probleme zu identifizieren und Lösungen zu finden, die dem Wohl der Menschheit dienen.

Wer erinnert sich nicht an die Prüfungsfragen in der Schule und an der Universität, die üblicherweise die Form von „Finde den Wert von x“ aufweisen? Ich kann mich nicht erinnern, dass je eine Aufgabe die Prüflinge aufforderte, alle Gründe zu finden, warum etwas niemals funktionieren könne.

In den nächsten Kapiteln werden wir uns mit Beispielen zu Erfindungen und Innovationen aus der Vergangenheit befassen, die zeitgenössisch mit Skepsis oder sogar mit Warnungen vor dem moralischen Verfall der Gesellschaft aufgenommen worden waren. Oft zeichneten sich diese Erfindungen bereits ab. Dennoch fanden sich genügend „Expertenstimmen“, die das Streben nach der Lösung als vergebliche Liebesmüh und als etwas Widernatürliches bezeichneten. So druckte 1903 die New York Times unter der Schlagzeile „Flugmaschinen, die nicht fliegen“ („Flying Machines Which Do Not Fly“) zehn Wochen, bevor Wilbur und Orville Wright den ersten kontrollierten Flug mit einem Motorflugzeug erfolgreich absolvierten, eine Kolumne ab, die die bisherigen Fehlversuche als nichts Überraschendes darstellte.5

Wenn es also zum Beispiel tausend Jahre dauert, bis ein Vogel, der mit rudimentären Flügeln begonnen hat, für einen einfachen Flug geeignet ist, oder zehntausend Jahre für einen Vogel, der ohne Flügel begonnen hat und sie erst ausbilden musste, dann könnte man davon ausgehen, dass der Flugapparat, der tatsächlich fliegen wird, durch die gemeinsamen und kontinuierlichen Bemühungen von Mathematikern und Mechanikern in einer Million bis zehn Millionen Jahren entwickelt werden könnte – vorausgesetzt natürlich, dass wir inzwischen so kleine Nachteile und Unannehmlichkeiten wie das bestehende Verhältnis zwischen Gewicht und Festigkeit bei anorganischen Materialien beseitigen können.

Wie kommt es, dass gerade Technikexperten derart überzeugt davon sind, dass etwas nicht und niemals klappen wird? Und warum tendieren sie dazu, zuerst sämtliche Gründe aufzuzählen, warum etwas nicht funktionieren könnte? Ist unser Ausbildungssystem nicht eigentlich darauf ausgelegt, unsere Sinne darin zu schärfen und uns Werkzeuge an die Hand zu geben, Lösungen und Antworten zu finden? Wo also auf dem Weg vom Schüler, Studenten und Experten läuft da etwas schief?

Während die einen vor allem erklären, warum etwas nie klappen wird, befürchten die anderen, dass es zu gut klappen kann. Erstere agieren in einem Umfeld absoluter Sicherheit, die Letzteren hingegen leben in einem von Unsicherheit und Angst geprägten Umfeld.

Eine E-Mail, die ich zur Digitalisierung des Gesundheitswesens über eine Informationsplattform erhielt, drückte das aus. Der Autorin ging es vor allem um ethische Fragen und listete eine Reihe von Gefahren auf: digitale Gesundheits-Apps, die eine Abhängigkeit von Arbeitgebern schafften; die Anfälligkeit von Patientendaten, die gehackt werden könnten und das Arztgeheimnis verletzten; künstliche Körperteile, die uns zu Cyborgs machten; Organspenden, die zu einem lukrativen illegalen Organhandel führen würden.

Dieser Angstfokus erinnert an den Film „Die Truman Show“, in der Jim Carrey den Versicherungsangestellten Truman Burbank spielt, der – ohne sich dessen bewusst zu sein – der Hauptdarsteller einer Realityshow ist, die sich um sein Leben dreht. Von seiner Geburt bis zu seinem Berufseinstieg lebt er in der unter einer Kuppel gelegenen künstlichen Seestadt Seahaven. Damit er nicht den Wunsch entwickelt, verreisen zu wollen, und so die Illusion verlässt, in der er sich unwissentlich befindet, ließen sich die Showproduzenten viele Tricks einfallen, um in ihm die Angst vor Reisen zu verstärken. So soll sein Vater (ebenfalls ein Schauspieler) angeblich bei einem Bootsunfall verstorben sein. Und als der inzwischen misstrauische Truman Burbank ein Reisebüro aufsucht, um eine Reise nach Fidschi zu buchen, wo seine ehemalige Freundin angeblich hingezogen war, sieht man an diesen Wänden eher ungewöhnliche Plakate. Diese warnen vor Terroristen, Krankheiten, Wildtieren, Banden und von Blitzen getroffene Flugzeuge.

Würden wir in ein Reisebüro gehen oder eine Reiseplattform benutzen, die uns vor allem auf einen möglichen, aber sehr unwahrscheinlichen katastrophalen Ausgang einer Urlaubsreise hinweist? Und weitergedacht: Würden wir zu einer Ärztin gehen, uns in ein Krankenhaus legen oder eine Gesundheitsplattform benutzen, wenn diese hauptsächlich den lukrativen Organhandel oder die Gefahren aufzeigt, dass unsere Patientenakten in falsche Hände fallen und wir durch Körperimplantate wie Herzschrittmacher oder Hörapparate zu willenlosen Werkzeugen anonymer Technologieunternehmen werden? Wie würden wir uns beim Griechen oder Italiener um die Ecke fühlen, wenn dieser uns zuerst auf die Gefahren von Ersticken am verschluckten Essen, vor Verbrühungen an Heißgetränken, Alkoholproblemen und tödlich endenden Erdnussallergien hinweisen und die Hintergrundmusik ständig von Warnungen unterbrochen werden würde?

Vermutlich gar nicht gut. Wir suchen doch eigentlich nach einer Lösung für ein bestehendes Problem, nicht nach weiteren Problemen, die dieses noch verstärken würden, ohne dass uns eine Lösung angeboten wird. Und das Problem, das wir lösen wollen, ist, wieder gesund zu werden, den Hunger zu stillen oder den wohlverdienten Urlaub anzutreten.

Aus evolutionärer Sicht ist unser Fokus auf bedrohliche Szenarien verständlich. Es haben diejenigen überlebt und ihre Gene weitergeben können, die dem Brüllen eines Tigers die sofortige notwendige Aufmerksamkeit geschenkt haben. Heute, wo die Gefahr, einem Tiger zur Mahlzeit zu dienen, verschwindend gering geworden ist, reagieren unsere Affenhirne trotzdem immer noch wie vor Hunderttausenden von Jahren. Gefahren erhalten unsere sofortige Aufmerksamkeit, denn die richtige Antwort darauf garantierte unser Überleben.

Doch in einer modernen Welt kommen uns ebendiese so erfolgreich weitervererbten Gene in die Quere. Zehn Lösungen wiegen weniger schwer als ein Problem. Wir sehen vor allem die mit Rotstift markierten Fehler bei Klausuren, nicht die richtigen Antworten. Wir schießen uns auf ein gescheitertes Projekt ein und suchen nach den Schuldigen, anstatt kontrolliertes Scheitern zu ermöglichen und daraus für folgende Projekte zu lernen.

Damit sollen die Probleme nicht verharmlost werden. Datenschutz, die Auswirkungen von Körperimplantaten und Organhandel ebenso wie mögliche Risiken selbstfahrender Autos oder das Brandverhalten eines Elektroautos nach einem Unfall sind wichtige Themen. Doch sollten wir nicht vergessen, dass viele dieser potenziellen Gefahren recht selten eintreten und oft auch nicht in dem Ausmaß, wie sie von Warnern an die Wand gemalt werden.

Wir werden darauf zurückkommen, wie Technologieinnovationen in der Vergangenheit zu ähnlicher Skepsis geführt haben. Heute, wo diese Technologien für uns selbstverständlich sind, erscheinen uns die damaligen Ängste absurd. Stattdessen traten seit der Einführung dieser Technologien andere Probleme als die befürchteten auf, die wiederum durch Fortschritte in der Technologie gelöst werden konnten.

Viele der Argumente aus der Vergangenheit ähneln denen, die den heutigen Technologien vorgeworfen werden. Waren es damals der Spiegel, der Lift, die Glühbirne oder das Radio, so sind das heute die künstliche Intelligenz, das Smartphone, soziale Medien oder das autonome Auto. Das ist dieses Funktionsdilemma, vor dem wir stehen. Wie viel Gutes und Schlechtes bringt uns die Technologie? Wir können Lehren aus der Vergangenheit ziehen, wie wir ein gutes Gleichgewicht zwischen den Chancen und Möglichkeiten und den Risiken und Gefahren bei der Entwicklung und Anwendung neuer Technologien finden können.

Trotz aller auftauchenden Probleme dürfen wir die Gründe für die Entwicklung dieser Technologien nie aus den Augen verlieren. Mit jeder Innovation stellt sich diese Frage nicht nur aufs Neue, sie fordert uns auch immer wieder neu heraus zu erkennen, wo dieses Gleichgewicht des größten Nutzens für die Menschheit eigentlich liegt. Schon im Jahr 1947 beschäftigte sich der britische Autor W. H. Auden in seinem Gedichtband „The Age of Anxiety“ („Das Zeitalter der Ängste“) mit den Auswirkungen der Industrialisierung auf die Suche des Menschen nach Inhalt und Identität.6 War es damals die Industrialisierung, so ist es heute unter anderem die Automatisierung durch künstliche Intelligenz, die ähnliche Fragen aufwirft.7 Was damals Ängste auslöste, wird heute als normaler Bestandteil unseres Alltags gesehen. Es fällt nur auf, wenn es nicht funktioniert oder wenn es nicht vorhanden ist.

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