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Die gute alte Zeit

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Das ist es, was die Gegenwart ausmacht. Es ist ein bisschen unbefriedigend, weil das Leben unbefriedigend ist.

Gil Pender

Was macht man als erfolgreicher Drehbuchautor, um sich beruflich weiterzuentwickeln? Diese Frage stellte sich der Amerikaner Gil Pender und beschloss, sich in ein anderes literarisches Fach zu bewegen und einen Roman zu schreiben. Als Vorbild hatte er sich die 1920er-Jahre genommen, die er bewunderte. Er bedauerte, sie nicht selbst erlebt zu haben. Als ihn bei einem Aufenthalt in Paris spätabends ein Oldtimer mitnimmt, findet er sich in einer Gesellschaft wieder, die eine Kostümparty zu feiern scheint. Alle Teilnehmer sind in Mode der 1920er-Jahre gekleidet. Gil realisiert, dass die Personen auf der Party keine Geringeren als F. Scott Fitzgerald, Jean Cocteau, Josephine Baker und andere längst verstorbene Berühmtheiten sind.

Gil ist – wie meine filmhistorisch gebildeten Leser sicherlich rasch erkannt haben – der fiktive Charakter, den Owen Wilson in Woody Allens Film „Midnight in Paris“ aus dem Jahr 2011 spielt.2 Der Oldtimer, den Gil bestiegen hatte, hatte ihn in einer Zeitreise in diese Epoche zurückgebracht. Gil ist, wie leicht verständlich, völlig hingerissen und kann sein Glück nicht fassen. Er lernt Picassos Geliebte Adriana – gespielt von Marion Cotillard – kennen, die von ihrer Epoche gelangweilt ist. Sie träumt von der „Belle Époque“, in der sie gerne Maler wie Henri de Toulouse-Lautrec oder Edgar Degas kennengelernt hätte.

Am selben Straßenrand, an dem Gil von dem Oldtimer aufgegabelt und in die Zeit zurückversetzt worden war, wartet eine Kutsche, die sie in die – wie nun leicht zu erraten ist – Belle Époque bringt. Dort allerdings erfahren Adriana und Gil, dass die angebeteten Helden wiederum einer anderen Epoche, nämlich der Renaissance, nachweinen und ihre eigene erbärmlich langweilig finden.

Die Moral der Geschichte ist, dass wir diesen nostalgischen Filter der Vergangenheit überstülpen, die das meiste an Schlechtem aus dieser Epoche ausblendet und nur den Glamour durchlässt. Wir trauern einer verklärten Vergangenheit nach, die es so nie gegeben hat. Sie war selten einfacher, sie war zumeist gefährlicher und für die wenigsten Menschen gab es die Möglichkeiten, die vielen von uns heute offenstehen.

Lassen wir uns doch auf ein Gedankenexperiment ein und fragen uns, wann denn die Vergangenheit besser gewesen ist als die heutige? Und dies sollte uns leichtfallen, weil wir gerade in den Nachwehen der Covid-19-Pandemie stecken, also somit in einer Periode, die sicherlich kein Spaß ist. Vielleicht springen wir doch einfach einmal 100 Jahre zurück und landen zu Beginn der Goldenen Zwanzigerjahre.

Im Jahr 1920 befinden wir uns gerade in den Nachwehen einer noch größeren Pandemie, die 500 Millionen Menschen erfasst und geschätzte 50 Millionen Menschen dahingerafft hatte. Ein Impfstoff für die damals grassierende Spanische Grippe ist selbst 100 Jahre später nicht gefunden. Und das ist eine Epoche, in der wir jeden Tag auf den Straßen Kriegsinvaliden sehen. Menschen, die im Ersten Weltkrieg ein Bein, Auge, einen Unterkiefer, Arm und mehr verloren haben oder durch den Shell Shock – neumodern PTBS – unter Kriegstraumata litten. Ganz zu schweigen von den kriegsbedingt mangelernährten Menschen und dem Überschuss an Frauen, die wegen der vielen gefallenen Männern keine Familie gründen konnten. Dazu die große Änderung, die den Übergang von einer Monarchie in eine Demokratie gebracht hatte. Und die Wirtschaft, die von Rüstungsgütern auf zivile Produkte umstellen will, findet keine Abnehmer. Deutschland und Österreich ächzen unter den Kriegsreparationen an die Gewinner und Österreich sieht sich als den Rest, der von der Monarchie übriggeblieben ist, und als nicht lebensfähig.

Was ist, wenn wir großzügig den Zweiten Weltkrieg, der ganz sicher – auch nostalgisch verklärt – nichts Gutes an sich gehabt hatte, überspringen und 50 Jahre vorausgehen? im Jahr 1970 befinden wir uns in den Nachwehen der Studentenproteste, die USA sich mitten im Vietnamkrieg, nukleare Abrüstung wird durch die Friedensbewegung zu einem Thema und in Deutschland beginnt der RAF-Terror, der das Land mehrere Jahre in Atem hält. Knapp zwei Jahre später wird es zu einem Terroranschlag bei den Olympischen Spielen in München kommen und im Jahr 1973 der Ölpreisschock die Wirtschaft treffen. Im Jahr 1975 gibt es eine Geiselnahme von OPEC-Ministern in Wien durch den venezolanischen Terroristen Ilich Ramírez Sánchez, besser bekannt als Carlos, der Schakal.

Auf der positiven Seite lassen die Mondlandungen die Menschen von einer Zukunft im All träumen. Dieser Traum erfährt aber mit dem Explosionsdrama am Bord der siebten Mission Apollo 13 einen Dämpfer. Klar, die Tapeten von damals waren psychedelisch und Schlaghosen und lange Haare waren in, aber das war nicht unbedingt etwas, womit wir auf Dauer leben möchten. Und die Erfindung der Antibabypille hatte eine Neuverhandlung im gesellschaftlichen Umgang zwischen Männern und Frauen gebracht, die nach wie vor zu Spannungen führt. Und bevor ich es vergesse: Das Internet gab es auch noch nicht, dafür aber LSD und eine ganze Reihe neuer Rauschmittel.

Die 1970er sind also auch nicht ganz so toll, wie unsere Erinnerungen es uns weismachen wollen. Für mich allerdings schon, denn ich wurde im Jahr 1971 geboren. Wir wäre es mit 100 Jahren davor, mit dem Jahr 1870? Da war Deutschland noch in kleine Herzogtümer aufgeteilt und sollte den deutsch-französischen Krieg von 1870 bis 1871 nutzen, um mit dem Deutschen Bund zum ersten Mal ein vereinigtes Reich deutschsprachiger Staaten zu gründen. Die von den Franzosen abgepressten Reparationszahlungen führen zur Gründerzeit in Deutschland, langfristig aber zu weiteren, noch blutigeren Konflikten mit dem Nachbarn.

Transportmittel der Wahl waren nach wie vor das Pferd und die Kutsche, auch wenn die Eisenbahn und die Dampfmaschine einen rapiden Wandel losgetreten hatten. Damit gewann die industrielle Revolution an Geschwindigkeit, die eine Migration vom Land in die Städte zur Folge hatte. Viele Städte vervielfachten ihre Bevölkerungszahlen in nur wenigen Jahrzehnten und die Lebensbedingungen in den überforderten Städten unterschieden sich nicht viel vom Mittelalter. Erst zu diesem Zeitpunkt sollten die Stadtväter fundamental den Charakter ihrer Städte zu ändern beginnen.

Auch war man lieber nicht eine Frau, die vor der Entbindung stand. Die Theorien zu Viren und der Übertragung von Krankheiten befanden sich erst im Entstehen – und damit auch das Verständnis, wie wichtig Hygiene für die Gesundheit ist. Einige Ärzte wie Ignaz Semmelweis hatten erkannt, dass von Ärzten, die aus der Pathologie kamen, offenbar Krankheiten an entbindende Frauen weitergegeben wurden, sodass diese im Kindbett verstarben. Impfungen waren bereits bekannt, wurden allerdings noch mit Misstrauen beäugt.

Egal, welches Jahrzehnt in der Vergangenheit wir wählen und welches Jahrhundert oder sogar Jahrtausend wir betrachten, wenn wir – um den ehemaligen amerikanischen Präsidenten Barack Obama zu zitieren – uns auszusuchen hätten, wann wir geboren sein wollen, aber keinen Einfluss darauf hätten, ob als Mann oder Frau, in welchem Stand und in welches Land, wir würden mit hoher Wahrscheinlichkeit die heutige Zeit wählen. Und sollten wir doch – wider besseren Wissens – den Knopf für eine andere Epoche drücken, wir würden sehr bald unsere Entscheidung auf das Bitterste bereuen. Auch Gil Pender akzeptierte nach seinen Pariser Zeitreisen seine eigene Epoche als das, was sie ist: brutal wirklich, noch nicht nostalgisch verklärt und die beste aller Zeiten, die er noch beeinflussen und mitgestalten konnte.

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