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Fratzen und Krankheiten
ОглавлениеWas ein Mann schöner ist wie ein Aff, is ein Luxus!
„Tante Jolesch“ von Friedrich Torberg
Abgesehen von den Erfindern und Benutzern neuer Technologien scheint eine andere Profession von diesen ebenso zu profitieren: die Ärzteschaft. Wir haben bereits von der Aufzugskrankheit gehört, die Fahrstuhlbenutzer bei der Einführung dieser Innovation befiel. Zuerst, wenn es nach oben ging, später, als man Aufzüge auch zum – man halte nun den Atem an – zum Herunterfahren benutzte. Die ersten Eisenbahnen sorgten für die „Eisenbahnkrankheit“, die durch die hohen Geschwindigkeiten und das Rütteln der Waggons verursacht wurde.35 Sigmund Freuds Theorie war, dass der Körper einen „Schutzschild gegen Stimuli“ hatte, der bei fortwährendem Ausgesetztsein gegenüber diesem Reiz zu einer graduellen Desensibilisierung der „Bewusstseinsschicht der Haut“ führe.36
Neben Krankheitssymptomen, die durch Bewegung zu zeitweiligem Schwindel und Erschöpfung führten, identifizierten die Ärzte noch weitere Krankheiten, die lang anhaltendere Effekte hatten – so zumindest meinten es die Experten. Wer will denen schon widersprechen? Es handelte sich dabei um „Faces“, also um „Gesichter“ oder korrekter „Fratzen“, die durch die neue Technologie entstanden.
Das Fahrrad war eines der ersten dieser Innovationen, bei denen das beobachtet wurde. Das „bicycle face“ oder Fahrradgesicht entstand durch die Geschwindigkeit, mit der tollkühne Velozipedisten durch die Gegend sausten und nicht nur ahnungslose Passanten verschreckten, sondern durch den Winddruck sich selbst der Gefahr aussetzten, ihre Gesichter zu entstellen. Der auf das Gesicht einwirkende Wind verziehe die Wangen und das Kinn, zwinge zum Zusammenkneifen der Augen, lasse die Ohren flattern und hinterlasse – sofern man nicht sorgsam genug im Geschwindigkeitsrausch sei und die Lippen zu einem Lächeln öffne – auf den Zähnen die Spuren unvorsichtiger Insekten, die dort vorzeitig ihr Ende fanden. Speziell weibliche Velozipedisten wurden davor gewarnt mit dem Hinweis, dass sie aufgrund dieser Entstellungen auf ewig alte Jungfern bleiben würden. Okay, das mit den Insekten auf den Zähnen habe ich erfunden, das mit der alten Jungfer stimmt aber so.
War das Fahrrad schon gefährlich, dann erst recht das Automobil. Das Automobilgesicht („automobile face“) wurde erwartungsgemäß auch als Krankheit identifiziert und folgerichtig diese Erfindung des Teufels verdammt. Als dann Orville und Wilbur Wright im Jahr 1908 die ersten öffentlichen Schauflüge mit ihrem Flyer in Le Mans und in Washington, D. C., durchführten und es klar wurde, dass Flugzeuge ein reales Ding sind, identifizierte noch im selben Monat der erste Arzt – ein Phrenologe, also „Schädelkundler“ – das wenig überraschend so benannte „aeroplane face“ („Flugzeuggesicht“), das auf charakteristische Eigenschaften von Flugzeugpionieren und damit die Weiterentwicklung der Menschheit hinweisen ließ. Die New York Times vom 30. August 1908 berichtete darüber mit humoristischer Skepsis:37
Ein gewisser Londoner Phrenologe, der sich selbst als Entdecker des „Fahrradgesichts“ und des „Automobilgesichts“ bezeichnet, hat nun mithilfe einer illustrierten Arbeit das „Flugzeuggesicht“ entlarvt. Er hat einige Zeit lang die Gesichtszüge der Herren WRIGHT, FARMAN, DELAGRANGE, BLERIOT und SANTOS-DUMONT betrachtet und bestimmte, allen gemeinsame Merkmale notiert und tabellarisch aufgelistet, die sich in saubere Unterscheidungen und Launen von Herz und Verstand verjüngen.
[…] Und aus diesen Daten zieht der Phrenologe die Folgerung, dass mit dem Fortschreiten der Wissenschaft und Kunst des Fliegens alle, die ihr frönen, ein Gehirn erwarten können, das ungewöhnlich über den Augenbrauen massiert ist und durch Vernachlässigung in anderen Richtungen leidet und schrumpft […]
Das alles ist interessant, wenn auch nicht absolut überzeugend. Mark Twain, so meinen wir, war es, der einmal glaubte, die Gesetze der Physiognomie so festgelegt zu haben, dass er den Beruf eines jeden auf einen Blick erkennen konnte. Er wählte zwei Herren aus und erklärte nach einer sorgfältigen Untersuchung ihrer Gesichter den einen zum Humoristen und den anderen zum Bestatter. Auf persönliche Nachfrage entdeckte er seinen Fehler. Das lächelnde und joviale Gesicht gehörte dem Bestatter, und die traurige und tränenüberströmte Visage war die des Humoristen.
Zu diesen furchtbaren Gesichtsentstellungen gesellten sich noch das „U-Bahn-Gesicht“ („subway face“)38, das „Golf-Gesicht“ und das „Pingpong-Gesicht“39, das „Kino-Gesicht“ („moving picture face“)40, das Gesicht, das man im Jahr 1910 aufsetzte, sofern man über ein „sehendes Telefon“ verfügt,41 und das „Radio-Gesicht“, von dem Frauen im Jahr 1925 in England sprachen, weil sie sich beim konzentrierten Zuhören vor dem Radio vor „wireless wrinkles“, also „drahtlosen Gesichtsfalten“ fürchteten.42
Lustig, diese Menschen vor 100 Jahren? Wie primitiv musste die Generation unserer Ur- und Ururgroßeltern wohl gewesen sein, nicht wahr? Nicht so schnell. Schon einmal vom „duck face“ gehört, also dem Gesicht, das Gerüchten zufolge vor allem junge Frauen machen, wenn sie bei einem Selfie die Lippen zuspitzen und diese dabei einem Entenschnabel ähneln? Oder schon einmal den Smartphone-Nacken beobachtet, der bei Jugendlichen bleibende Schäden vom ständigen Herunterblicken auf das Smartphone in ihren Händen hinterlässt?
Nicht nur die Angst vor der Entstellung von Gesichtern durch neue Technologien ist uns modernen Menschen von unseren Vorfahren vor 100 Jahren geblieben, auch andere Befürchtungen verlieren nicht ihren Schrecken. Der Telegraf brachte nicht nur eine Flut an Informationen in entlegene Gegenden, bei denen man fürchtete, sie würden zu einer Überreizung des Nervensystems führen und den gewohnten Tagesablauf von Menschen ändern, man verdächtigte ihn auch der Übertragung von Krankheiten. Als im Jahr 1849 eine Choleraepidemie durch die jungen Vereinigten Staaten fegte, wurde die Schuld an der so raschen Verbreitung den Telegrafenleitungen zugeschrieben und konsequenterweise nahmen die Bewohner die Sache in die eigene Hand. An vielen Orten wurden die Telegrafenleitungen umgesägt. Damit schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe: Ärzte und Psychologen befürchteten nämlich auch, durch die immer stärker werdende Vernetzung der Menschen durch Telegrafen und durch die wachsende und damit enger zusammenlebende Bevölkerung in den Städten würde es zu einer „Übersozialisierung“ und damit zu mehr Nervenleiden kommen.43
Wie ist das heute? Nicht anders, wie öffentliche Diskussionen beweisen. Von angeblich krankmachenden Handystrahlen, nicht nachgewiesenem „Infraschall“ bei Windturbinen, der „Reisekrankheit“, die Experten bei einer Fahrt in autonomen Autos vorhersagen, bis hin zum Gegenteil der „Übersozialisierung“, nämlich der „Einsamkeit durch soziale Medien“ reicht die moderne Palette an Ängsten. Selbst das moderne Äquivalent der angeblichen Übertragung der Choleraepidemie durch Telegrafenleitungen gibt es: die Verbreitung von Covid durch 5G-Sendemasten.44 200 Jahre nach den ersten Impfgegnern finden diese nach wie vor regen Zulauf, allerdings mit einem modernen Twist. Heute ist es weniger die Angst vor den Schäden einer Impfung selbst (auch die gibt es) als die Angst vor einer Regierung, die Menschen damit einen Chip – vermutlich vom Microsoft-Gründer Bill Gates gefördert – injizieren wollen, um so über ihre Aufenthaltsorte immer Bescheid zu wissen und sie aus der Ferne kontrollieren zu können.
Ein Spaßvogel nahm diese Impfskeptiker nach dem Erhalt der Covid-Impfung und dem vermeintlichen Injizieren solcher Chips auf die Schippe, indem er auf Twitter postete: „Habe nun die Covid-Impfung erhalten, aber Internetempfang ist immer noch schlecht. Was ist los?“
Wir sehen schon: Erfinder, Wissenschaftler, Technologen, Ingenieure haben kein Problem damit, technologische Probleme zu lösen. Die wahre Herausforderung ist, Menschen psychologisch darauf vorzubereiten. Und das haben sie nie gelernt.