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Der Präfekt, der dem Abfalleimer seinen Namen gab

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Mit dem starken Wachstum der Städte in Europa, hervorgerufen durch die industrielle Revolution und die einsetzende Landflucht, standen die noch zumeist einen sehr dörflichen Charakter ausstrahlenden Städte des frühen 19. Jahrhunderts vor neuen Herausforderungen. Wohnungen mussten errichtet und Stadtmauern abgerissen werden und durchgehend gepflasterte Straßen sollten den Staub und Matsch reduzieren und sie bei jedem Wetter befahr- und begehbar machen. Straßenmobiliar wie Laternen, Sitzbänke, öffentliche Zeit- und Wetteranzeiger oder Urinale kamen als neue städtische Elemente hinzu, die das zivilisierte und hygienische Zusammenleben großer Menschenmassen ermöglichen sollten.

Auch der Abfall und der damit einhergehende Gestank und die Seuchengefahr wurden zu einem Thema. Abfälle wurden einfach auf die Straßen oder in nahe Flüsse gekippt. Pferdekot und dessen Gestank waren in den Straßen der Stadt allgegenwärtig. Die Pferde, die als Arbeitstiere zum Einsatz kamen, lebten im Durchschnitt nicht länger als zwei Jahre. Oft kollabierten sie mitten auf der Straße und wurden dort tagelang liegen gelassen, bis sie ausgetrocknet genug waren, damit man sie fortschaffen konnte.

Eine Lösung musste her. Und die manifestierte sich unter anderem in Mülleimern, die zuerst in jedem Haus, anschließend auf öffentlichen Plätzen und in Straßen aufgestellt wurden.

Unter der Zuständigkeit des französischen Präfekten Eugène Poubelle befand sich im Jahr 1883 auch die Stadt Paris. Um die hygienischen Zustände einer wachsenden Bevölkerung zu verbessern, erließ er im selben Jahr eine Verordnung, wonach jedes Haus über einen „Kehrichtkasten“ für seine Bewohner verfügen musste, in dem der Unrat abgelegt wird. Die Länge und Breite, die Farbe und das Material waren vorgeschrieben sowie, wann der Hauswart diesen vor die Haustür zu stellen hatte. Die Form dieser ersten Pariser Abfalleimer ähnelten einem überdimensionierten, abdeckbaren Blumenkasten mit zwei Tragegriffen an den Seiten, auf denen auch die Straßennummer angebracht war.

Diese an sich sehr lobenswerte Erfindung wurde allerdings– wie sollte es auch anders sein – nicht überall wohlwollend aufgenommen. So berichtet die Zeitung Der Vorarlberger am 22. Februar 1884, knapp zwei Monate nach Inkrafttreten der Verordnung, dass hauptsächlich eine Berufsgruppe gegen diese neue Einrichtung protestierte: die Lumpensammler.9

Vom 16. Jänner ist die Abfuhr des Kehrichtes auf drei weitere Jahre verpachtet und da heißt es in den Artikeln 18 und 19 des Vertrages ausdrücklich: „Die Unternehmer haben das Recht auf die vollständige Überlassung des Kehrichtes und können daher diejenigen gerichtlich verfolgen, welche Bestandteile desselben wegschaffen.“ Dadurch ist das Lumpensammeln thatsächlich unter Strafe gestellt und unmöglich gemacht.

Lumpensammler waren über Jahrhunderte entscheidend für den Buchdruck. Alte Lumpen, die sich zum Tragen nicht mehr eigneten, wurden als Rohstoff für die Papierherstellung verwendet. Damit war dieser Abfall wie auch beispielsweise Pferdekot ein Rohstoff, mit dem sich die Armen ihren Unterhalt verdienen konnten. Und die geschätzten Erlöse der Lumpensammler lagen im Jahr 1883 in Paris bei fast vier Millionen Francs im Jahr.10 Und das hatte ihnen der Präfekt nun per Verordnung weggenommen. Kein Wunder, dass es zu Anschuldigungen kam.

Das Ergötzlichste bei der Sache ist immerhin die Entrüstung der Radikalen über den Präfekten Poubelle, der durch die Verordnung sich eines ungeheuren Amtsmißbrauches schuldig gemacht haben soll.

Auch im deutschsprachigen Raum waren Lumpensammler vielen Verordnungen unterworfen. Egal, ob Schlesien, Preußen, Danzig, Nassau oder Breslau, um nur ein paar der Polizeigesetze oder fürstlichen Verordnungen zu nennen, diese Länder regelten, was Lumpensammler wann und wo an Unrat aufsammeln und verwerten konnten. Auswärtigen Lumpensammlern wurde die Ausübung der Tätigkeit meist unter Androhung von Strafe untersagt. Zahlreiche Polizeiberichte geben Zeugnis von tatsächlichen oder vorgeblichen Übertretungen durch die Lumpensammler. Der Wächter – Polizeianzeiger für Norddeutschland nennt für das Jahr 1852 die Fallzahlen für Preußen:11

19,732 Krämer und Lumpensammler zogen 1852 allein in Preußen umher und 9917 Musikanten machten gewerbeweise in Wirthshäusern Musik.

Eine Zeile weiter in diesem Artikel „Die Lage der Wandergesellen“ versteht man aber auch gleich, wieso Lumpensammler und herumziehendes Volk so stark reguliert wurden und unter Polizeibeobachtung standen.

Mit unglaublicher Schnelligkeit verbreiten diese fahrenden Leute, wie das Mittelalter sie genannt haben würde, Einfälle und Bemerkungen, Nachrichten und geistige Richtungen, welche Censur und Preßpolizei in den Tagesblättern unterdrückt, über ganz Deutschland bis in die kleinste Stadt, bis in das kleinste Dorf; sie sind das für ein Land, was das Männercasino oder der Frauencaffee für die Stadt ist und die Spinnstube für das Dorf war. Wer aber achtet auf sie. Wer geht ihnen nach?

Poubelles Erlass löste als Nebeneffekt dieses „Problem“. Auch wenn sich an der Verordnung zur Einrichtung von „Kehrichtkästen“ und der Auftragsvergabe an ein Privatunternehmen nichts mehr rückgängig machen ließ, die „Rache“ der Lumpensammler an Poubelle war eine andere: Im Jahr 1890 nahm das französische „Große Universalwörterbuch des 19. Jahrhunderts“ von Larousse das Wort „Poubelle“ als Bezeichnung für Mülleimer in sein Register als Eintrag auf. Bis heute heißt „poubelle“ im Französischen Mülleimer.

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