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Von Weinfässern, Napoleon und dem Stethoskop

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So wie die Melone und der Regenschirm für den Engländer und die Baskenmütze und das Baguette unter dem Arm für den Franzosen stereotypisch sind, ist es für den Arzt der weiße Kittel und das Stethoskop um den Nacken. Dieses heute nicht wegzudenkende und so einfache medizinische Gerät fand nicht von Anfang an Anklang bei der Ärzteschaft.

Selbst der weiße Kittel war bis ins 19. Jahrhundert eigentlich schwarz und üblicherweise völlig verdreckt gewesen. Die Ärzte waren stolz auf das getrocknete Blut, den Eiter und andere Verunreinigungen, die von ihrer Arbeit und ihren Heilkräften zeugten. Erst durch den österreichisch-ungarischen Arzt Ignaz Semmelweis, der erkannt hatte, dass Ärzte, die in einem berüchtigten Wiener Krankenhaus aus der Pathologie kommend zur Geburtenstation wechselten und wegen fehlender Desinfektion zur erhöhten Sterblichkeit bei Gebärenden beitrugen. Verursacht durch den sogenannten Kindbetttod und durch die Entdeckung der Keimtheorie durch Louis Pasteur wurde man sich so langsam bewusst, dass verschmutzte schwarze Kittel ein schlechtes Zeichen für Hygiene waren.

Auf die Idee zum Stethoskop war der französischen Landarzt René Marie Théophile Hyacinthe Laënnec durch den österreichischen Arzt und Librettisten Johann Leopold Auenbrugger gekommen. Letzterer hatte die Perkussion als medizinische Technik zur Untersuchung von Lungenkrankheiten erfunden. Die Inspiration dazu erhielt er aus seiner Kindheit. Der Vater schickte den Grazer Gastwirtssohn immer in den Weinkeller und trug ihm auf, den Füllstand der Weinfässer durch Klopfen auf das Fass zu bestimmen. Daran erinnerte er sich, als er als Arzt in Wien begann, die Brustkörbe seiner Patienten abzuklopfen. Dabei gelang es ihm, die ersten Diagnosen bei Lungenkrankheiten zu stellen. Wie musikalischer und damit wienerischer kann man eine solche Untersuchungsmethode benennen, die als Perkussion Eingang in das medizinische Werk finden sollte? Kein Wunder: Auenbrugger hatte nicht nur ein Libretto für das Singspiel „Der Rauchfangkehrer“ von Antonio Salieri geschrieben, sondern war im Jahr 1775 auch dessen Trauzeuge gewesen.

Die Übersetzung von Auenbruggers Behandlungsmethode aus dem Lateinischen ins Französische durch Jean-Nicolas Corvisart, niemand Geringerem als der Leibarzt Napoleons, aus dem Jahr 1808 fiel Laënnec in die Hände. Er las die Schrift Auenbruggers mit Interesse und sie kam ihm im Jahr 1816 bei der Visite einer stark übergewichtigen jungen Patientin mit Herzproblemen wieder in den Sinn. Die übliche Methode, sein Ohr an den Brustkorb zu legen und abzuhören, kam aufgrund der starken Beleibtheit und der Keuschheit der jungen Frau nicht infrage.

Er entsann sich Auenbruggers Schrift, rollte ein Blatt Papier und schnürte es zusammen. Diese Rolle legte er mit einer Öffnung an die Brust der Patientin. An das andere Ende presste er sein Ohr und konnte somit den Atemgeräuschen und dem Herzrhythmus lauschen. Das war die erste primitive, aber nützliche Version des Stethoskops, das Laënnec zuerst einmal „Pectoriloque“ taufte.

Ich erinnerte mich zufällig an eine einfache und bekannte Tatsache in der Akustik … die große Deutlichkeit, mit der wir das Kratzen einer Stecknadel an einem Ende eines Holzstücks hören, wenn wir unser Ohr an das andere Ende anlegen. Auf diese Anregung hin rollte ich sofort eine Papierrolle zu einer Art Zylinder und brachte ein Ende davon im Bereich des Herzens und das andere Ende an meinem Ohr an. Ich war nicht wenig überrascht und erfreut, als ich feststellte, dass ich dadurch die Tätigkeit des Herzens in einer Weise wahrnehmen konnte, die viel klarer und deutlicher war, als ich es je durch das unmittelbare Anbringen meines Ohres hätte tun können.


Abbildung 5: Laënnecs hölzernes Stethoskop, wie es sich im Science Museum in London befindet.

Laënnec hatte die Bedeutung seiner Erfindung erkannt und verwendete sehr viel Zeit darauf, sie weiterzuentwickeln, bis er die praktischere und heute bekannte Form des Stethoskops vor sich hatte. Sein neues medizinisches Gerät bot einige Vorteile. Neben dem Abhören des Brustkorbs erlaubte es auch seinen weiblichen Patienten, ihre Keuschheit zu bewahren. Laënnec musste nicht mehr sein Ohr auf die Brust seiner Patientinnen pressen, um Lungenuntersuchungen durchzuführen, mit dem Stethoskop hielt er sie auf Distanz. Auch konnte ein Arzt die Ansteckungsgefahr verringern, indem er nicht selbst den Patienten berühren musste. Und so nebenbei wurde damit die bisher alternativ eingesetzte Methode der Uroskopie abgelöst. Das war nichts andere als das Lesen aus einer Urinprobe durch einen „Experten“. Die Harnschau galt übrigens schon bei den alten Griechen als Scharlatanerie, dank der Arbeit von Auenbrugger und Laënnec zog die physische Diagnose in den medizinischen Alltag ein.

So viele Vorteile, die diese Erfindung brachte, und so viele Probleme, die auf einen Schlag gelöst wurden, führten sicher unweigerlich zu einem Begeisterungssturm unter den Ärzten dieser Zeit? Nicht so schnell. Wir können bereits vermuten, dass dem sicher nicht so gewesen war. Doch welche Gründe waren wohl gegen den Einsatz des Stethoskops gefunden worden?

Es sollte 20 Jahre dauern, bis das Stethoskop Anklang bei der Ärzteschaft finden sollte. Die verzögerte Akzeptanz spiegelte die konservative Natur der älteren Ärzte wider, die dagegen waren, Herztöne lernen zu müssen. Sie wollten auch kein Instrument zwischen ihre „heilenden Hände“ und den Patienten kommen lassen. Ein Zitat des englischen Arztes John Forbes aus dem Jahr 1821 zeigt das deutlich:

Dass es ungeachtet seines Wertes jemals in den allgemeinen Gebrauch kommen wird, ist äußerst zweifelhaft; weil seine nutzbringende Anwendung viel Zeit erfordert und sowohl dem Patienten als auch dem Arzt einige Schwierigkeiten bereitet; weil sein Farbton und sein Charakter fremd sind und im Gegensatz zu all unseren Gewohnheiten und Assoziationen stehen.

Forbes hatte Laënnecs Buch „De l’auscultation médiate: ou traité du diagnostic des maladies des poumons et du cœur, fondé principalement sur ce nouveau moyen d’exploration“ („Von der mediatrischen Auskultation: Oder die diagnostische Behandlung von Krankheiten der Lunge und des Herzens, basierend auf dem neuen Untersuchungsgerät“) aus dem Französischen ins Englische übersetzt. Diese Arbeit hätte sich Forbes vermutlich nicht angetan, wäre das Buch eine reine Abhandlung über das Stethoskop gewesen. So übersetzte er das gesamte zweibändige Werk und fühlte sich verpflichtet, in seinem Vorwort als Übersetzer seine Skepsis zum neuen Untersuchungsgerät für die Ewigkeit auszudrücken. Den Siegeszug trat das Instrument dann aber doch an. Dieser wurde vor allem durch die jungen Ärzte ermöglicht.

200 Jahre später und in die Jahre gekommen, ist das Stethoskop nach wie vor eines der wichtigsten Instrumente für die Ärzteschaft. Und das, obwohl es bereits bessere neue Instrumente gäbe, die es ersetzen könnten. KI-unterstützte Ultraschallgeräte in der Größe eines Handys, die den Herzschlag und die Lungenfunktion nicht nur hörbar machen, sondern auch die Herzkammern anzeigen und zusätzlich noch die Flüssigkeitsmenge in der Lunge errechnen, kosten verhältnismäßig wenige Tausend Euro. Trotzdem hängen die Ärzte an ihren analogen Stethoskopen.24 Warum? Weil es finanziell einträglicher ist, die Patienten mit teuren und stationären Echokardiogrammen und Ultraschallgeräten vom Spezialisten untersuchen zu lassen. Damit fallen pro Jahr Milliarden an Mehrkosten für Versicherungen und damit für uns Patienten an. Bevor wir über die Ärzteschaft von vor 200 Jahren und deren Widerwillen schmunzeln, sollten wir uns fragen, was moderne Ärzte davon abhält, neue Technologien einzusetzen. Und die Gründe scheinen um einiges verwerflicher zu sein als diejenigen ihrer Kollegen um das Jahr 1800.

Die tragische Ironie der Geschichte ist, dass ausgerechnet er, der Erfinder des modernen Stethoskops, René Laënnec, im Alter von 45 an einer Lungenkrankheit – Tuberkulose – erkrankte und mit einer mittelalterlichen Methode, dem Aderlass, behandelt wurde. Das gab ihm, der immer unter einer angeschlagenen Gesundheit gelitten hatte, den Rest. Wie es seiner jungen, übergewichtigen Patientin ergangen war, bei der er zum ersten Mal seine spontane Erfindung ausprobiert hatte, hat uns die Chronik nicht überliefert.

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