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Spieglein, Spieglein an der Wand

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Man kann keinen unbenutzten Spiegel kaufen.

Das Bedürfnis, sich selbst betrachten zu können, wird dem eitlen Narziss aus der griechischen Mythologie zum Verhängnis. Nachdem er stolz mehrere Verehrerinnen abgewiesen und sich eine von ihnen enttäuscht das Leben genommen hat, wird Narziss von Nemesis, der Göttin des (gerechten) Zornes, dazu verdammt, sich in sein eigenes Spiegelbild zu verlieben, von dem er seinen Blick nicht mehr abwenden kann, was ihn letztendlich zu Tode bringt.

Einige Tausend Jahre vorher schon, nicht unweit davon in der heutigen Türkei, wurden vulkanische, glasartige Gesteine glattgeschliffen. Der sogenannte Obsidian ist ein Überbleibsel von rasch abgekühlter Lava, der dank seiner Kristallstruktur teils durchsichtig und, wenn geschliffen, reflektierend sein kann. In Grabesstätten im heutigen Çatalhöyük wurden mehrere dieser Obsidianspiegel als wertvolle Grabbeigaben entdeckt. Diese waren nicht größer als ein Handteller und filterten wegen ihrer natürlichen Färbung die meisten reflektierten Farben heraus. Diese primitiven Spiegel, in denen man sich selbst erkennen konnte, wurden vor allem Frauen als Grabbeigabe beigelegt.

Es ist nicht bekannt, ob die Menschen die Spiegel verwendeten, um sich selbst darin zu betrachten, ob sie bei religiösen Ritualen Verwendung fanden oder vielleicht, um die Zukunft vorherzusagen. Tatsächlich ist im Fachbuch „The Wiccan’s Dictionary of Prophecy and Omens“ der neureligiösen Wicca-Bewegung – so eine Art moderner Hexer- und Hexenverband – der Begriff „Katoptromantie“ zu finden, der unter anderem die Weissagung und die Aufschlüsselung verborgener Geheimnisse aus der Vergangenheit aus Spiegeln beschreibt. Wie auch immer, bei der Betrachtung meines zerknautschten Morgengesichts im Spiegel entschlüsselt sich für mich immer das Geheimnis, was ich gestern gemacht haben muss, um so auszusehen, und ich kann weissagen, was ich heute sicher nicht machen werde.

Spiegel fanden sich in allen Zivilisationen. Die Römer hatten welche, bei den Olmeken im heutigen Mexiko wurden Spiegelsteine gefunden, ebenso bei den Maya, den Etruskern, den Ägyptern und bei den Bewohnern einer Pfahlbausiedlung am Neuenburgersee in der heutigen Schweiz. In China wurden vor etwa 4.000 Jahren die ersten Spiegel aus Metallen gefertigt. Selbst Jahrtausende später und nach einigen technologischen Weiterentwicklungen waren Spiegel aus Stein, Glas oder Metall vor allem klein und teuer. Mehr als sein Gesicht konnte man nicht erkennen. Sich selbst betrachten konnten sich ausschließlich Adelige mit dem notwendigen Bargeld.25

Um das Jahr 1400 begannen mit Zinnblech hinterlegte und mit Quecksilber beschichtete Glasspiegel aus Venedig Europa zu erobern – und das für saftige Preise. So kostete ein reichlich verzierter und in einem Silberrahmen angefertigter Spiegel mit 8.000 Pfund mehr als die Gemälde des begehrtesten Künstlers der Hochrenaissance Raffael, die es schon für Schnäppchenpreise ab 3.000 Pfund gab. Kein Wunder, dass Venedig die Fertigungstechniken der Spiegelproduktion als Staatsgeheimnis hütete und die Spiegelmacher als Künstler betrachtete und mit einigen Privilegien bedachte.26

[Venedig] schützte und überwachte [die Spiegelmacher] und gewährte ihnen viele Privilegien wie das Recht, Töchter von Adligen zu heiraten.

Das konnte der Sonnenkönig Ludwig XIV. nicht ausstehen, der wohl für damalige Zeiten mit seinem französischen Hofstaat den Zenit der Eitelkeit darstellte. Er lobte eine hohe Prämie aus, wenn es gelänge, venezianische Spiegelmacher nach Frankreich zu locken. Anfang 1660 gelang das auch und mehrere Spiegelmacher zogen aus der Lagunenstadt nach Frankreich. Doch damit begann eine neue Episode des „Spiegelkriegs“. Schon einige Jahre später erkrankten und verschieden gleich drei der Künstler. Die Franzosen vermuteten eine gemeine Giftattacke der eifersüchtigen Venezianer, und das nicht ganz unbegründet. Im Jahr 1547 hatten zwei abtrünnige Spiegelmacher, die nach Deutschland ziehen wollten, ein vorzeitiges Ende gefunden, und die Familienmitglieder anderer Abtrünniger waren zu Strafarbeiten verurteilt worden. Die nächsten Jahrzehnte hatte es einige Gewalt gegen Spiegelmacher und deren Familien gegeben, die aus Venedig wegziehen und ihre Betriebsgeheimnisse mitnehmen wollten.

Durch eifriges Experimentieren fanden die Franzosen schließlich den Schlüssel zur Spiegelmacherei und mit der Einweihung des Spiegelsaals in Versailles im Jahr 1684 wurde es den Venezianern klar, dass ihr gut gehütetes Geheimnis gelüftet war. Dass es dazu gekommen war, war dem französischen Finanzminister Jean-Baptiste Colbert zu verdanken, der im Jahr 1665 die königliche Spiegelmanufaktur „Manufacture Royale de Glaces de Mirroirs“ eingerichtet hatte, um das Wirtschaftswachstum anzutreiben und Frankreich bei der Produktion von Luxusgütern vom Ausland unabhängig zu machen. Sobald die Produktion aufgenommen worden war, wurde der Import von venezianischen Gläsern und Spiegeln untersagt.

Die Todesursache der beiden ersten Venezianer in den Diensten des Sonnenkönigs hatte allerdings nichts mit Attentätern aus Venedig zu tun. Der Tod war vielmehr durch die giftigen Substanzen bei der Herstellung von Spiegeln bedingt, bei der unter anderem das giftige Quecksilber zum Einsatz kam. Nicht nur das Quecksilber wurde als Gift angesehen. So beschrieben Zeitgenossen bei der Einweihung des Spiegelsaals den Effekt der endlosen Reihen an Spiegeln:

In Versailles haben die Wände Augen, und die mit Spiegeln bedeckten Galerien schaffen eine beängstigende Sicht. … Der Spiegel ersetzt die Realität durch seine eigene symmetrische Nachbildung, ein Theater der Reflexion und des Kunstgriffs.

Erst durch die vom deutschen Chemiker Justus von Liebig im Jahr 1835 erfundene Silberschicht, die auf eine Glasfläche kostengünstig aufgetragen und mit einem Schutzlack versehen werden konnte, sanken die Preise bei der Herstellung von Spiegeln und sie konnten kostengünstig großformatig hergestellt werden.

Die Erfindung des Spiegels, vor allem, wenn er so groß war, dass man sich vollständig darin betrachten konnte, war für die Menschen, die sich zum ersten Mal darin sahen, augenöffnend. Wie es uns heute geht, wenn wir unsere Stimme zum ersten Mal auf einem Tonband oder einer Videoaufnahme am Computer hören, ging es den Menschen mit ihrem Ebenbild. Die innere Vorstellung, wie man selbst aussieht, kollidiert mit dem wirklichen Bild. Es gestattet eine realistische Einschätzung und den Vergleich mit anderen, der nicht unbedingt zum eigenen Vorteil ausfallen muss.

Der aus Israel stammende Professor für Psychologie und Verhaltensforschung an der Duke University Dan Ariely berichtet von seiner Jugend, als er eine solche Erkenntnis durchleben musste. Als er seinen Wehrdienst bei den israelischen Verteidigungsstreitkräften absolvierte, war eine Kiste mit Leuchtgranaten, in deren Nähe er sich befunden hatte, in Brand geraten und explodiert. Die brennenden Trümmer hatten ihn getroffen und ihm schwere Brandverletzungen zugefügt. Er musste mehrere Jahre im Krankenhaus bleiben und einen äußerst schmerzhaften Heilungsprozess durchleben. Einige Monate nach dem Unfall, als er das erste Mal wieder auf eigenen Beinen humpeln konnte, ging er den Krankenhausflur entlang und kam an einem Spiegel vorbei. Er blickte nur kurz hinein und sah eine verstümmelte, hagere Person in Bandagen und mit halb verbranntem Gesicht. Erst einige Augenblicke später wurde ihm klar, dass er sein eigenes Spiegelbild sah. In seiner Vorstellung war er nach wie vor der junge, gutaussehende Israeli und nicht dieser Krüppel gewesen. Innerlich war er derselbe geblieben, aber sein Körper hatte eine schreckliche Transformation durchgemacht, die Einfluss auf seine Chancen beim anderen Geschlecht und letztendlich auch auf seine Berufswahl haben sollte.

Mit der Erfindung des Spiegels manifestierten sich auch andere Widerstände, speziell, wenn ein Spiegel nicht zur Ausübung religiöser Zeremonien oder zur Weissagung diente. Man begann, vom langsamen Gift zu sprechen, das die zwanghafte Betrachtung des eigenen Spiegelbilds bei manchen Menschen auslöste. Sie konnten sich davon nicht mehr lösen. Diese Menschen waren laut den Kritikern vor allem Frauen.

In den Galerien und Museen der Welt hängen Hunderte Gemälde von Frauen, die ihren Blick in ihrer Reflexion im Spiegel verloren haben. Manche gehen sogar so weit, dass sie ihr eigenes Spiegelbild küssen. Was die vorwiegend männlichen Künstler den weiblichen Subjekten in ihren Werken vorwarfen, traf auf die Künstler selbst klarerweise nicht zu. Wenn sich Männer im Spiegel betrachteten, dann war das rein künstlerischen Zwecken zuzuschreiben. Eitelkeit war ihnen zufolge ein Laster der Weiblichkeit. Dabei verewigten sich die Maler selbst immer wieder durch Spiegel in ihren Gemälden. In Selbstporträts als spitzbübischer Künstler, der Frauen bei der Anprobe betrachtet und sich ironisch ins Bild schummelt, oder einfach, um seine Fähigkeit als Künstler zu demonstrieren, wenn es sich um einen spiegelnden Gegenstand handelt, der das Ebenbild verzerrt darstellt. Also ein Mann vor dem Spiegel: Ironie und Kunst. Eine Frau vor dem Spiegel: Eitelkeit.


Abbildung 6: Eitelkeit von Auguste Toulmouche, circa 1870

Mitte des 19. Jahrhunderts zogen Spiegel in immer mehr Haushalte ein und wurden somit für breitere Bevölkerungsschichten zum Alltagsobjekt. Und das rief, wie nicht anders zu erwarten, die Moralapostel der damaligen Zeit auf den Plan, deren Kritik sich vor allem gegen die Weiblichkeit wandte. In einer Zeitung namens The New York Ledger von 1890 fand sich folgender Satz in einer Abhandlung zum Spiegel:

Frauen sind eine Spezies der Selbstanhimmlung.

So findet sich in der Ausgabe des Chicago Record aus dem Jahr 1895 folgendes Zitat:

Die Eitelkeit wurde geboren, als der Spiegel entdeckt wurde.

Und so ging es weiter. Der Spiegel wurde als Problem, als Ablenkung, als korrumpierendes Element und als Peinlichkeit betrachtet. Was uns heute selbstverständlich und fast schon omnipräsent erscheint, etwas, woran wir keine Gedanken mehr verschwenden, war damals genauso neu wie kontrovers und wurde zum Anlass genommen, anderen Menschen zu erklären, was Sünde sei, welche moralische Gefahr durch die Eitelkeit bestehe und wer daran Schuld habe.

Mit all der – vorwiegend männlichen – Kritik wird ein wesentlicher Punkt übersehen. Frauen wurden und werden nach wie vor vor allem aufgrund ihres Äußeren bewertet. Trotz all des Gelabers um „innere Werte“, erfahren besonders Frauen diese Diskriminierung tagein, tagaus. Ein Blick in den Spiegel ermöglicht es ihnen, selbst „ihren Wert abzuschätzen“, oder anders ausgedrückt, wie sie von anderen – nämlich Männern – bewertet werden. Schon in den meisten Märchen werden Gut und Böse mit Schönheit und Hässlichkeit gleichgesetzt, ein dominierendes Narrativ unserer Kultur.

Weil die Diskussion um die Eitelkeit mit der weiten Verbreitung von Spiegeln ab Mitte 1800 einsetzte, müssen auch die Umweltbedingungen berücksichtigt werden. In den Berichten der zeitgenössischen Blätter wird immer wieder auf den Ruß und den Schmutz hingewiesen, der mit dem Einsetzen der industriellen Revolution und der Transportmittel in der Luft lag und sich wie ein Film über die Kleidung und das Gesicht legte. Durch einen raschen Blick in einen Taschenspiegel konnte man prüfen, ob der Umweltschmutz schon seinen Tribut an das Aussehen gefordert hatte.

Spiegel gab es bald in allen Formen, selbst auf Handschuhrücken waren sie angebracht. Die Eitelkeit war bei Weitem nicht auf Frauen beschränkt. Denn wie rasierten sich denn Männer und woher wussten sie, ob ihr Schnauzbart richtig gezwirbelt war? Ein Ladeninhaber in Chicago bestätigte das auf Anfrage. Im Jahr 1885 war ein Artikel mit dem Titel „Die Eitelkeit der Männer“ erschienen, der in vielen Zeitungen nachgedruckt werden sollte. Der Reporter fragte den Ladeninhaber, wer denn all die Kunden seien, die diese kleinen Taschenspiegel und Pflegesets kaufen. Nicht die Frauen sind unsere besten Kunden, meinte der Inhaber, es seien Männer, egal, ob „sie Affen oder Apollon“ seien, es wäre gleich.

Auch andere Gefahren gingen von Spiegeln aus, und damit sind nicht eventuelle Schnittwunden an zerbrochenen Spiegelscherben oder das laut Aberglauben damit verbundene siebenjährige Pech gemeint. Die Chicago Tribune vom 8. Dezember 1912 warnte in einem Beitrag mit der dramatisch klingenden Schlagzeile „Diese kleinen tödlichen Spiegel“ von einer gefährlichen Begebenheit eines jungen Fräuleins namens Helen, die mit einen jungen Herrn namens Jack verabredet gewesen war. Als sie ihn auf der anderen Seite der vielbefahrenen Straße erblickt hatte, „zückte sie ihren Spiegel und Puderdose und begann, ihr rosa Näschen zu pudern“. Weil sie das gedankenverloren mitten auf der Fahrbahn getan hatte, konnte sie von Glück sagen, dass der Verkehr vor ihr knapp zum Halt gekommen war. Ein Einzelfall? Nicht wirklich, laut der Chicago Tribune, die eifrig versicherte, dies passiere in Chicago tausendmal pro Tag.

Daran hat sich bis in die Gegenwart nichts geändert. Heute ist es weniger der Spiegel als vielmehr das Smartphone, das seinen Platz bei den Kritikern und Moralaposteln eingenommen hat. Das Selbstbildnis hat einen neuen Namen erhalten: Selfie. Und wer kriegt wieder sein Fett ab? Frauen. Influencerinnen, YouTuberinnen, Make-up-Künstlerinnen und weibliche Instagramer sind die neuen Ziele der Eitelkeitsverdammer. Die Besessenheit vom Selbstbild, Selbstverliebtheit und die exhibitionistische Zurschaustellung des eigenen Körpers und Ebenbildes sind Ziele der Attacken. Und wie damals schon befürchten Kritiker den moralischen Verfall und den Zerfall der Zivilisation. Doch eigentlich geht es um etwas anderes: Es geht um den weiblichen Körper und wer diesen kontrollieren darf.

Dass es ebenso viele männliche Vertreter in der Kategorie Eitelkeit gibt, geht fast schon unter. Ebenso, dass die meisten Follower der weiblichen Influencer Männer sind. Nur ist die Rolle hier umgekehrt. War Narziss noch derjenige, der seine weiblichen „Follower“ abblitzen ließ, so sind die weiblichen Instagramerinnen für die männliche Gefolgschaft unerreichbar. Verspätet, aber doch trifft die männlichen Kritiker der gerechte Zorn der Nemesis.

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