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Margarete

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Faust ist mit seinem stürmischen und zerrissenen Wesen der Gegenpol zu dem sanften und genügsamen Mädchen und doch gibt sie sich dieser unkonventionellen Liebe hin und kann es kaum glauben, dass ihre Liebe, die doch nur das Gute im Sinn hatte, in Leid umschlägt und eine Katastrophe nach der anderen auslöst: »Doch – alles was dazu mich trieb, / Gott! war so gut! ach war so lieb!« (V. 3585 f.)

Margarete ist »über vierzehn Jahr […] alt« (V. 2627); damit galt sie damals, weil sie im Konfirmationsalter war, als heiratsfähig. Sie Gretchens Lebensweltlebt mit ihrer Mutter in kleinbürgerlichen Verhältnissen (V. 3109–3124); ihr Vater ist verstorben, aber er hat den beiden Frauen »ein hübsch Vermögen« und ein »Häuschen und ein Gärtchen vor der Stadt« (V. 3117 f.) vererbt; gleichwohl fehlen ihr die mütterliche Liebe und der väterliche Schutz. Gretchen pflegte mühevoll ihre kleine Schwester, bis diese schließlich verstarb. Ihr Bruder Valentin kümmert sich nicht um Mutter und Schwester, weil er in der Fremde sein Soldatenleben verbringt. Als er später von ihrer Schande – dem Tod der Mutter und ihrer außerehelichen Beziehung mit Faust – hört, verstößt er sie (V. 3722–3775).

In ihrer kleinen Welt kann Margarete kein stabiles Selbstbewusstsein entwickeln, weil jeder ihrer Schritte von der strenggläubigen Mutter Margarete wird von Mutter, Kirche und Mitbürgern kontrolliertkontrolliert wird. Als sie zum Beispiel das Schmuckkästchen in ihrem Zimmer entdeckt, übergibt die Mutter es sogleich dem Pfarrer: »Mein Kind, rief sie, ungerechtes Gut / Befängt die Seele, zehrt auf das Blut. / Wollen’s der Mutter Gottes weihen« (V. 2823–2825). Auch die Kirche kontrolliert Margaretes Leben durchgängig, ebenso ihre Freundinnen, die jeden Regelverstoß hemmungslos – ohne jegliches Mitgefühl – verurteilen, so etwa in der Szene »Am Brunnen« (V. 3544–3586).

Als aber Faust ins Spiel kommt, keimt in Margarete der Wunsch auf, ihren Status zu verbessern. Das scheint absurd, weil die Fallhöhe zwischen Margarete und FaustFallhöhe zwischen dem vierzehnjährigen Mädchen und dem hochgebildeten, deutlich älteren Wissenschaftler, der ohne Verjüngunstrank wohl 50 bis 60 Jahre alt wäre, viel zu groß ist. Auch der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) wundert sich über diese bizarre Konstellation: »Eine kleine Nähterin wird verführt und unglücklich gemacht; ein grosser Gelehrter aller vier Facultäten ist der Uebelthäter. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein? Nein, gewiss nicht! Ohne die Beihülfe des leibhaftigen Teufels hätte es der grosse Gelehrte nicht zu Stande gebracht.«5

Faust ist von Margarete angetan, weil sie das Gegenteil zu seinem verwissenschaftlichten Leben repräsentiert: das Natürliche, Volkstümliche und Einfache – Attribute also, auf welche die Dichter der »Sturm und Drang«-Epoche besonderen Wert legten. Faust suggeriert dem Mädchen auch, sie sei etwas Besseres. Als er sie das erste Mal anspricht, verwendet er die Anrede »Mein schönes Fräulein« (V. 2605) – damals wurden adelige Frauen mit »Fräulein« angesprochen, aber keine kleinbürgerlichen Mädchen. Gretchen schämt sich ob dieser Anrede (V. 2607), die sie − da sie den Standesunterschied offenlegt − demütigt. Gleichwohl lässt sie seine Umarmung kurz zu, offenbar fühlt sie sich doch geschmeichelt.


Abb. 3: Margarete, die vom Teufel beobachtet wird, kurz bevor sie Faust zum ersten Mal trifft. Zeichnung von August von Kreling, ca. 1874

Gretchen vertraut sich der Kupplerin Marthe an, weil sie niemals mit ihrer strengen Mutter über Faust reden könnte, die sie sofort kategorisch abstrafen würde. In der Szene »Garten« gesteht sie ihm offen ihre Liebe. Mit ihrem Liebesschwur, den der Doktor erwidert, grenzen sich beide aus der Gesellschaft aus, denn Staat, Recht und Kirche erlauben keine außerehelichen Beziehungen. Sie isolieren sich also mit dieser erotischen Gefühlssubjektivität von den geltenden Institutionen. Margarete gibt sich rücksichtslos ihrer Liebe zu dem Gelehrten hin, sie vertraut ihrem leidenschaftlichen Gefühl und ihrer unbedingten Hingabe; sie opfert alles dieser einen Liebe, was sich als fatal erweisen soll.

Auch Faust wird ihr nicht den ersehnten Halt geben können, weil er Gretchen als Person kaum ernst nimmt; seine Komplimente sind oft unpassend, auch redet er sie nur einmal mit ihrem Namen (V. 4460) an, erst in der letzten Szene: im »Kerker«. Als sie sich bei Faust über Mephisto beschwert, weil sie ihn hasst, erniedrigt er sie mit seiner Antwort: »Liebe Faust degradiert Margarete zu einer »Puppe«Puppe, fürcht ihn nicht!« (V. 3476) Mehr als eine Puppe, mit der er nach Gutdünken spielen kann, ist Margarete in seinen Augen nicht, auch wenn er zuweilen denkt, er sei in sie verliebt. Auch Mephisto degradiert sie, indem er sie als »ein gar unschuldig Ding« (V. 2624) und »Geschöpfchen« (V. 2644) bezeichnet.

Gleichwohl unterwirft sich das Mädchen dem Doktor, das spiegelt sich auch im Metrum wider: Als sie die ersten Worte an Faust richtet, legt ihr Goethe Knittelverse (V. 2607 f.) in den Mund, später klinkt sie sich in Fausts Rhythmus ein, wenn sie zuweilen in Madrigalversen spricht: »Ich fühl es wohl, dass mich der Herr nur schont« (V. 3073).

Als das Mädchen schließlich am Spinnrad sitzt und ein Lied singt, ahnt sie, dass sie ihre Identität verlieren wird: »Mein armer Kopf / Ist mir verrückt, / Mein armer Sinn / Ist mir zerstückt.« (V. 3382–3385) Gretchens Sehnsucht und LiebeskummerMargarete kann ihre Schuld und ihre Gewissensnöte mit keinem Menschen teilen, weil sie dann der »Schmach« (V. 3616) ausgesetzt wäre, und das wäre unerträglich. Sie muss diesen Konflikt in ihrem Inneren austragen; völlig in sich selbst isoliert, steigert sich ihre Verzweiflung auf ein unerträgliches Maß. Als ihr Bruder Valentin sie dann noch vor dem Volk als Hure bezeichnet und sie verstößt, ihre »Schande« also öffentlich macht, häufen sich ihre paranoiden Schübe.

Ihr schlechtes Gewissen spaltet sich halluzinatorisch in der nächsten Szene »Dom« von ihr ab. Ihr »Böser Geist«, der auch stellvertretend für die tugendhafte Gesellschaft steht, forciert den Wahnsinn der schwangeren Frau, als auch er von ihrer »Schande« spricht: »Verbirg dich! Sünd und Schande / Bleibt nicht verborgen.« (V. 3821 f.) Ihre Sünde wird öffentlich, als sie ihren Säugling im Wahnsinn getötet hat. Im Kerker schließlich, als sie auf ihre Hinrichtung wartet, hat sie hin und wieder Momente, in denen sie scheinbar klar denken kann. In diesem Kontext bekennt sie sich zu ihrer Schuld, und nach ihrem Gebet (V. 4607–4609) distanziert sie sich von Faust, sie erkennt oder ahnt seine Mitschuld: »Heinrich! Mir graut’s vor dir.« (V. 4610)

Schließlich übergibt sie sich dem »Gericht Gottes!« (V. 4605), und eine Stimme aus dem Himmel verkündet, dass sie »gerettet« (V. 4611) sei.

Faust I von Johann Wolfgang Goethe: Reclam Lektüreschlüssel XL

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