Читать книгу Faust I von Johann Wolfgang Goethe: Reclam Lektüreschlüssel XL - Mario Leis - Страница 9
3. Figuren Faust
ОглавлениеDoktor Heinrich Faust ist ein Vertreter der spätmittelalterlichen, humanistischen Gelehrtenkultur, die sich vom Leben entfremdet hat. Er ist ein Stubengelehrter, der sich über Jahrzehnte hinweg mit seinen Büchern auseinandergesetzt hat und vom Alltagsleben und der Natur mehr oder weniger isoliert war. Goethes Mentor Johann Gottfried Herder (1744–1803) analysiert diese Art von Gelehrtenkultur treffsicher: »Man weiß, wie wenig Originalen Geist man in diesen übrigens sehr verdienten Philologen antrifft: und man muß über die Schwäche des Menschlichen Geistes die Achseln zucken, wenn man sieht, wie das Denken unter der Last der Gelehrsamkeit erliegt.«2
Faust ist mit seinem verstaubten Unerfülltes GelehrtenlebenGelehrtendasein zutiefst unzufrieden, deshalb sehnt er sich – wie später die Stürmer und Dränger – nach der Natur: »Wo fass ich dich, unendliche Natur?« (V. 455) Und er möchte ein gottgleiches Genie, ein genialer Übermensch werden: »Ich Ebenbild der Gottheit!« (V. 516) Außerdem will er als neuzeitlicher Wissenschaftler die alte Gelehrtenkultur überwinden und objektiv – ohne jeglichen religiösen Kontext – erforschen, »was die Welt / Im Innersten zusammenhält«. (V. 382 f.)
Aber er scheitert schon bei einer weitaus leichteren Aufgabe als Philologe, dem Versuch, den ersten Satz des Johannesevangeliums, das vierte Buch des Neuen Testaments, richtig zu übersetzen: »Geschrieben steht: ›im Anfang war das Wort!‹ / Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?« (V. 1224 f.) Schließlich favorisiert er eine Variante, die ihm als vermeintlichem Tatmenschen schmeichelt: »im Anfang war die Tat!« (V. 1237) In dieser Übersetzungspassage (V. 1224–1237) fällt auf, dass er ständig »Ich« sagt. Das verdeutlicht seine egomanische Zentrierung auf sich selbst, er ist nicht mehr in die substantiellen Institutionen, wie etwa Staat, Religion oder Familie, eingebunden und gebärdet sich damit als moderner Mensch, der verloren als »der Unbehauste« (V. 3348) im Weltganzen nur noch Halt – wenn überhaupt – in sich selbst zu finden vermag.
In seiner Verzweiflung wendet er sich der Magie zu, beschwört das Zeichen des Makrokosmos (V. 430–459), schließlich den Erdgeist (V. 460–517), aber er scheitert.
Er verbündet sich schließlich mit dem Teufel, geht einen Fausts Pakt mit dem BösenPakt mit dem Bösen ein und hofft, dass nun seine titanischen Wünsche in Erfüllung gehen. Faust, der nach der Erdgeist-Beschwörung eine schwerwiegende existenzielle Krise durchlebte, ist nun wieder erstaunlich schnell voller Tatendrang und zutiefst skrupellos, da er Mephistos Dienste annimmt. Aber der Teufel kann den Gelehrten nicht vom »rechten Wege« abbringen. Gott hat im »Prolog im Himmel« Mephisto zwar erlaubt, Faust auf der Erde zu verführen, aber er lässt keinen Zweifel daran, dass der Teufel dabei chancenlos bleiben wird. Außerdem irrt Mephisto, weil er glaubt, er könne den Doktor mit dem flachen sinnlichen Leben von seinem Urquell abziehen, obwohl er selbst ausspricht, dass Faust sich immer noch nach höheren Sphären sehnt: »Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben, / Der ungebändigt immer vorwärts dringt, / Und dessen übereiltes Streben / Der Erde Freuden überspringt.« (V. 1856–1859)
Mit dem Teufelspakt endet Fausts Karriere als Faust scheitert als WissenschaftlerWissenschaftler, er ist an ihr gescheitert und fortan ist keine Rede mehr davon, dass er erforschen möchte, »was die Welt / Im Innersten zusammenhält« (V. 382 f.). Stattdessen verlockt der Teufel seinen Partner ab sofort nur durch die sinnliche Welt. Aber schon ihr Ausflug in »Auerbachs Keller in Leipzig« scheitert, weil der gelehrte Mann von dem Trinkgelage der wüsten Gesellen angewidert ist.
Der Teufel hofft nun, dass er Faust mit einer Liebschaft von seinem »Urquell« (V. 324) – von Gott – abziehen kann. Er spricht die triebhafte Seite des Gelehrten an, denn er weiß von dem ambivalenten Charakter seines Begleiters, der sich so definiert: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, / Die eine will sich von der andern trennen« (V. 1112 f.). Die eine sehnt sich nach höherer Erkenntnis, die andere nach »derber Liebeslust« (V. 1114). Diese Seele, die wohl in all den Jahrzehnten als Stubengelehrter keine Chance bei Faust bekommen hat, will nun Mephisto entfesseln und bedienen.
Der alte Gelehrte, er ist wohl 50 bis 60 Jahre alt, hätte bei der Damenwelt wohl kaum eine Chance; deshalb muss er Verjüngungstrankverjüngt werden, was für den stolzen Mann nicht unbedingt schmeichelhaft ist, aber der Teufel kann ihm keine lockendere Alternative – allenfalls noch Feldarbeit (V. 2352–2361) – als diese anbieten: »Und schafft die Sudelköcherei / Wohl dreißig Jahre mir vom Leibe? / Weh mir, wenn du nichts Bessers weißt!« (V. 2341–2343) Der Zaubertrank entfesselt Fausts lang unterdrückte Sexualität gewaltig; er ist kaum noch zu bändigen, obendrein manipuliert und verzerrt das Gebräu seine Wirklichkeitswahrnehmung und sein erotisches Verlangen, was der Teufel ironisch kommentiert: »Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, / Bald Helenen in jedem Weibe.« (V. 2603 f.)
Die erste Frau, die Faust auf der Straße zu sehen bekommt, ist Margarete, in die er sich sogleich verguckt. Der Verliebte fordert skrupellos die Kupplerdienste von Mephisto ein, Faust erpresst den Teufelerpresst ihn sogar, weil er das Mädchen schnell ins Bett bekommen will: »Und das sag ich Ihm kurz und gut, / Wenn nicht das süße junge Blut / Heut Nacht in meinen Armen ruht; / So sind wir um Mitternacht geschieden.« (V. 2635–2638)
Aber auch im Liebesleben, das alles andere als authentisch ist, weil es von der Hexe herbeigezaubert wurde, findet Faust keine Erfüllung. Außerdem ist er unfähig, sich zu Der Gelehrte ist bindungsunfähigbinden und treu zu bleiben, er selbst weiß das und Mephisto stellt ihm zu Recht diesbezüglich eine rhetorische Frage, die ihn entlarvt: »Dann wird von ewiger Treu und Liebe, / Von einzig überallmächt’gem Triebe – / Wird das auch so von Herzen gehn?« (V. 3056–3058)
Seine sexuelle Unrast beruhigt sich nur für einen Augenblick, weil sich seine zweite Seele meldet, die nach Erkenntnis und der Ganzheitserfahrung sucht. In der Szene »Ganzheitserlebnis in »Wald und Höhle«Wald und Höhle« (V. 3217–3239) erlebt er diese ersehnte Symbiose mit der Natur. Hier könnte er innehalten und sich von Gretchen trennen, aber der Teufel drängt ihn weiter zu dem Mädchen hin und Faust kommt nicht gegen sein sexuelles Verlangen an: »Bring die Begier zu ihrem süßen Leib / Nicht wieder vor die halb verrückten Sinnen!« (V. 3328 f.) Rasend vor Verzweiflung erkennt er, dass er Gretchen in den Untergang (V. 3347–3365) treiben wird. Fausts entfesselte Sinnlichkeit zerstört schließlich Gretchens Familie – am Ende der Tragödie sind vier Tote zu beklagen, für die er verantwortlich ist: die Mutter, Valentin, der Säugling und Margarete.
Fausts Hoffnung, in der Liebe Erfüllung zu finden, scheitert radikal, auch weil er seinen Liebesgenuss ins Zentrum stellt: »Faust liebt die junge Frau, doch noch mehr liebt er sein Liebesgefühl. Seine mangelnde Vorsorge für Gretchen offenbart seine Egomanischer LiebhaberLiebesegozentrik, den Selbstgenuß der hochgetriebenen Emotion.«3 Auch Goethe kritisierte am 17. Febraur 1831 Fausts egomanisches Verhalten in einem Gespräch mit Johann Peter Eckermann: »Der erste Teil [des Faust I] ist fast ganz subjektiv; es ist alles aus einem befangeneren, leidenschaftlicheren Individuum hervorgegangen, welches Halbdunkel den Menschen auch so wohltun mag.« Der Dichter Goethe kennt nur einen Weg, um Faust zu retten: Er schenkt ihm Vergessen. In Faust II kuriert ihn ein Heilschlaf »auf blumigen Rasen gebettet«.
Abb. 2: Figurenkonstellation