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Miniaturchirurgen

Fliegenlarven als tierische Ärzte? Fliegenmaden gehören ja nun wirklich nicht zu den Lebewesen, die uns Menschen sonderlich sympathisch erscheinen. Und doch haben zumindest die Maden einer Fliegenart schon so manchen Menschen vor der drohenden Amputation eines Armes oder eines Beines bewahrt: In der Medizin, genauer gesagt, in der Chirurgie, werden die Larven der Goldfliege, einer Schweißfliegenart, von vielen Ärzten zur Behandlung chronischer, schlecht heilender Wunden eingesetzt. Chronische Wunden sind meist von einem Belag aus abgestorbenen Zellen und entzündlichen Wundsekreten bedeckt. Beläge, die die Wundheilung stark beeinträchtigen, da sie zum einen ein idealer Nährboden für Bakterien sind und zum anderen ein mechanisches Hindernis für zellaufbauende Prozesse darstellen.

Die Mediziner machen sich dabei die Tatsache zunutze, dass sich die Maden fast ausschließlich von nekrotischem, das heißt absterbendem bzw. totem Gewebe ernähren. Wundbeläge stellen somit eine ideale Nahrungsquelle für die kleinen Insektenlarven dar. Bei der „Madentherapie“ werden die Goldfliegenlarven zunächst auf die entsprechende Wunde aufgebracht. Dort scheiden die Tiere Verdauungssäfte aus, deren Enzyme das nekrotische Gewebe verflüssigen. Den so entstandenen „Nahrungsbrei“ saugen die Larven dann auf. Nach mehreren Anwendungen ist die Wunde vom nekrotischen Wundbelag befreit und kann weiterbehandelt werden.

Zum ersten Mal schriftlich erwähnt wurde der positive Einfluss von Maden auf die Wundheilung von einem französischen Chirurgen namens Ambroise Paré (1510–1590), der bei verletzten Soldaten einen Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein von Fliegenmaden in einer Wunde und einem günstigen Heilungsverlauf feststellen konnte. Rund 200 Jahre später war es dann wieder ein Franzose, der Militärchirurg Baron Dominique Jean Larrey, der berühmte „Chirurg Napoleons“, der während des Ägyptenfeldzuges der französischen Armee beobachtete, dass Maden einer bestimmten Fliege nur abgestorbenes Gewebe entfernen und offensichtlich generell eine positive Wirkung auf den Heilungsprozess einer Wunde zu haben scheinen. Allerdings scheiterten alle Versuche des Mediziners, die Maden zur Wundbehandlung einzusetzen, da die verwundeten Soldaten sich alle konsequent weigerten, Maden an ihre Wunden zu lassen.

Erstmals bewusst zur Wundbehandlung wurden dann Fliegenmaden rund 60 Jahre später im Amerikanischen Bürgerkrieg eingesetzt. John Forney Zacharias, ein Chirurg der Konföderierten Armee, erzielte dank der Behandlung eiternder Wunden mit Maden eine schnelle und effektive Wundheilung und damit auch eine außergewöhnlich hohe Überlebensrate seiner Patienten.

Wiederum 60 Jahre später war es der amerikanische Chirurg William S. Baer, der die Fliegenmadentherapie in die Zivilchirurgie einführte, als er mit großem Erfolg Patienten mit bis dahin therapieresistenter chronischer Knochenmarksentzündung zur Heilung Goldfliegenmaden in die Wunden setzte. Ihre Blütezeit erlebte die Madentherapie dann in den 1930er- und 1940er-Jahren, als allein in den USA in über 300 Krankenhäusern eine Wundbehandlung mit Maden durchgeführt wurde und auch von diversen Pharmaunternehmen Maden exklusiv für medizinische Zwecke kommerziell gezüchtet wurden. Ende der 1940er-Jahre geriet die Madentherapie dank der Einführung der Antibiotika Sulfonamid und Penicillin allerdings nach und nach in Vergessenheit.

Aber bereits Anfang der 1990er-Jahre, in Zeiten zunehmender Antibiotikaresistenzen, kam es zu einem unerwarteten Comeback der tierischen Mikrochirurgen: Amerikanische und englische Chirurgen erzielten mithilfe der Madentherapie geradezu sensationelle Erfolge bei Patienten mit schlecht heilenden Wunden, wie Diabetikern, und weckten dadurch erneut das Interesse der medizinischen Fachwelt für die ungewöhnliche Heilmethode. Bereits 2002 kam auch in Deutschland in über 1000 Kliniken, Krankenhäusern und Arztpraxen die wiederentdeckte Madentherapie zum Einsatz.

Und die Fliegenlarven haben in Sachen Wundheilung sogar noch einen zweiten Pfeil im Köcher: Durch den Fraß der Schmeißfliegen wird die Wunde auch weitestgehend keimfrei, denn die Verdauungsenzyme der Larven enthalten antibakterielle Substanzen, genauer gesagt, Seraticin und sogenannte Defensine. Und als wäre das noch nicht genug, scheiden die Larven auch noch Ammoniak bzw. Ammoniakderivate aus. In Folge sinkt der pH-Wert im Gewebe und ein saures Milieu entsteht, das wiederum viele Bakterienstämme nicht gut vertragen. Diese antibakteriellen Eigenschaften sind auch der Grund dafür, dass man die Madentherapie gerne bei Wunden anwendet, die mit multiresistenten Keimen infiziert sind – sprich mit Bakterien, die gegen die meisten herkömmlichen Antibiotika resistent sind.

Das heißt allerdings nicht, dass ein Einsatz von Fliegenmaden bei entzündeten Wunden eine Gabe von Antibiotika komplett überflüssig macht. Fliegenmaden können nämlich mit ihren Verdauungssäften nicht alle Bakterienarten abtöten, die in Wunden auftreten. So reagieren die Krabbeltiere zum Beispiel äußerst sensibel auf den so häufig auftretenden Krankenhauskeim Pseudomonas aeruginosa und sterben sogar manchmal ab.

Zur Applikation der Fliegenmaden gibt es zwei Methoden: Bei der ersten Methode arbeitet der behandelnde Arzt mit „freikrabbelnden“ Larven und setzt etwa zehn Exemplare auf einen Quadratzentimeter Wunde. Damit diese Larven nicht fortkriechen können, bringt er entlang des Wundrandes einen dicken Streifen aus Hydrogel an. Anschließend wird über die Gelstreifen ein feinmaschiges Gazenetz geklebt, sodass ein kleiner, flacher, aber auch luftdurchlässiger Käfig entsteht.

Die zweite Methode ist weniger umständlich und deutlich eleganter: Die Fliegenmaden werden in vorgefertigten sogenannten „Biobags“, kleinen teebeutelartigen Säckchen, auf die Wunde appliziert. Diese Methode ist zwar weniger zeitaufwendig, hat aber auch Nachteile. Die Hersteller der Biobags geben nur die Mindestzahl der Larven im Beutel und nicht die tatsächliche Zahl der Larven an. Da kann man leicht über- oder unterdosieren. Gerade eine Überdosierung kann jedoch zu unangenehmen „Nebenwirkungen“ führen. Rund ein Drittel aller mit Biobags behandelten Patienten klagt über durch die Madentherapie verursachte Schmerzen. Werden zu viele Maden als „tierische Chirurgen“ eingesetzt und diese Maden sind sehr hungrig, dann kann es durchaus dazu kommen, dass die Verdauungssekrete der Larven auch kleine Teile des benachbarten, gesunden Gewebes schädigen.

Übrigens: Egal ob „freikrabbelnde“ Larven oder Biobags, bei der Madentherapie wird in jedem Fall nur mit sterilen Larven gearbeitet, die man extra für diesen Zweck gezüchtet hat.

Das allein selig machende Superwunderheilmittel, als das die Madentherapie oft gepriesen wird, ist sie offensichtlich aber nicht. Es gibt mehrere Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass eine Madentherapie einer Wundbehandlung mit Skalpell und Antibiotika nicht überlegen ist.

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