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Ein Wurm als Heiler und Multifunktionsapotheke

Wenn man es von der biologischen Seite her betrachtet, ist es eine Art „Miniaturvampir“, der uns Menschen schon seit über 5000 Jahren in der Medizin überaus wertvolle Dienste leistet: der medizinische Blutegel, ein rund 15 Zentimeter langer Wurm, der sich exklusiv vom Blut von Menschen und anderen Säugetieren ernährt und dabei äußerst raffiniert vorgeht. Zunächst sucht der kleine Blutsauger mit dem Vorderende tastend nach einer geeigneten Bissstelle. Sprich einer Stelle, an der die Haut relativ dünn ist, keine störende Hornhaut aufweist und die auch nur gering behaart ist. Hat der Blutegel dann eine optimale Stelle gefunden, saugt er sich mit seinem Saugnapf fest und fräst sich mit seinen drei strahlenförmig angeordneten Kiefern, auf denen sich je circa 80 bewegliche Kalkzähnchen befinden, in Sekundenschnelle durch die Haut seines Opfers und verursacht so eine kleine Wunde.

Die Intensität des Bisses ist mit einem Insektenstich zu vergleichen und somit ausgesprochen schmerzarm. Bis heute konnte nicht nachgewiesen werden, ob der Blutegel bei seiner Fresstätigkeit ein lokal wirksames Anästhetikum verwendet. Anschließend saugt der Egel in rund 30 bis 60 Minuten bis zum Fünffachen seines Körpergewichts an Blut in sich hinein. Die zwischen den Kiefern mündenden Speicheldrüsen sondern dabei unter anderem Hirudin ab, eine Substanz, die die Blutgerinnung verhindert. Nach Erreichen der Sättigung fällt der Egel von selbst von seinem Wirt ab.

Der Blutverlust pro Egel liegt inklusive Nachbluten bei 50 Milliliter. Ein Mensch hat circa 5 bis 6 Liter Blut. Das heißt, nach Adam Riese würden 100 bis 120 Blutegel ausreichen, um einen Menschen komplett leer zu saugen. Deshalb werden bei der Blutegeltherapie nur zwischen 4 und maximal 12 Blutegel pro Sitzung angesetzt, was einen Blutverlust von maximal 600 Milliliter zur Folge hat. Das ist in etwa die Menge, die auch einem Blutspender abgezapft wird. Das abgesaugte Blut wird vom Körper spätestens nach 3 Wochen wieder vollständig ersetzt.

Die Blutegeltherapie gehört zu den ältesten Heilmethoden in der Medizin. Es gibt Hinweise, dass Ärzte bereits vor über 5000 Jahren Blutegel zur Heilung von diversen Krankheiten eingesetzt haben. Im antiken Griechenland und später im römischen Reich legten Ärzte die kleinen Vampire gerne bei eitrigen Geschwüren, Hautkrankheiten oder Venenleiden auf.

Später dann, zu Anfang des 17. Jahrhunderts, wurden Blutegel bevorzugt zum sogenannten „Aderlass“ eingesetzt, da man sich nach der damals vorherrschenden Lehrmeinung durch die Entfernung von „schlechtem Blut“ eine Beschleunigung der Heilungsprozesse bei entzündlichen und fiebrigen Erkrankungen versprach. Die Methode, „Menschen zur Ader zu lassen“, wurde dann im 18. und 19. Jahrhundert derart populär, dass die Blutegelbestände in der freien Natur so gewaltig dezimiert wurden, dass ein baldiges Aussterben der Egel drohte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts geriet die Egeltherapie allerdings immer mehr in Vergessenheit. Verantwortlich dafür waren zum einen die rasante Entwicklung der modernen Medizin und zum anderen die Tatsache, dass mit dem Wissen von der Existenz von Bakterien auch die Angst vor durch Blutegel verursachte Infektionen zunahm.

Allerdings hat der Blutegel vor einigen Jahren in der modernen Medizin ein regelrechtes Comeback gefeiert. So fand man in den USA heraus, dass man mithilfe von Blutegeln bei Hauttransplantationen venöse Stauungen abbauen und dadurch gefährliche Thrombosen verhindern kann. Aus dem gleichen Grund werden Blutegel auch in der Handchirurgie, beim Wiederannähen abgetrennter Finger, verwendet.

Aber die Blutegeltherapie wird heute vor allem in der Alternativmedizin wieder vermehrt bei unterschiedlichen Krankheitsbildern wie etwa Angina pectoris, Apoplexie, Brustdrüsenentzündung, Furunkeln, Gallenblasenentzündungen, Gürtelrose, Hypertonie, Krampfadern, Mandelabszess, Nebenhöhlenentzündungen, Rheuma, Thrombosen oder Tinnitus angewandt.

Schließlich weiß man heute, dass es sich bei Blutegeln um regelrechte Mini-Apotheken handelt: Untersuchungen haben ergeben, dass ein Blutegel bei seinem Biss mehr als 20 gerinnungshemmende, entkrampfende, entzündungshemmende und sogar schmerzlindernde Wirkstoffe in die Wunde abgibt – und das ohne jegliche Nebenwirkungen.

Allerdings werden Blutegel heute nicht mehr der Natur entnommen, sondern in speziellen Zuchtanlagen für die Anwendung am Menschen gezüchtet. Um zu verhindern, dass die Minivampire beim Biss gefährliche Keime übertragen können, dürfen die Tiere jedoch nicht an mehreren Patienten hintereinander saugen und werden deshalb nach Erledigung ihrer Arbeit üblicherweise mit Alkohol abgetötet oder „eingefroren“. Manche Mediziner lassen jedoch Milde walten und schicken die tierischen Helfer zurück zu ihrem Züchter, wo sie den Rest ihres immerhin bis zu 30 Jahre währenden Lebens in einem sogenannten „Rentnerteich“ genießen dürfen. Vor dem Leben im Rentnerteich müssen die Egel allerdings, nach den Richtlinien des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, aus Sicherheitsgründen erst einmal acht Monate in Quarantäne verbringen.

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