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Aus dem Tageslicht im Westen glitt der riesige Jet in die sich senkende Dämmerung der östlichen Zeitzonen. Ich fürchtete den Augenblick, da die Maschine landen und ich Artie gegenüberstehen würde, der mich in das Mietshaus in der Bronx bringen würde, wo meine Frau und die Kleinen auf mich warteten. Klugerweise hatte ich Geschenke für sie mit, „einarmige Gangster“, Glückspielautomaten en miniature, für Valerie einen Ring mit Perlen, der mich zweihundert Dollar gekostet hatte. Das Ladengirl im Xanadu hatte fünfhundert verlangt, aber Cully erzwang einen speziellen Preisnachlaß.

Ich wollte nicht an den Augenblick denken, da ich durch die Tür meiner Wohnung gehen und mich den Gesichtern meiner Frau und meiner drei Kinder würde stellen müssen. Ich fühlte mich viel zu schuldbewußt. Ich hatte Schiß vor der Szene, die ich mit Valerie durchspielen würde müssen. Darum dachte ich an Las Vegas.

Ich dachte an Jordan. Sein Tod betrübte mich nicht. Jedenfalls nicht in diesem Augenblick. Schließlich kannte ich ihn erst seit drei Wochen, und kannte ihn eigentlich gar nicht richtig. Aber was war an seinem Kummer eigentlich so bewegend? Was war das für ein Kummer, den ich niemals gehabt hatte und von dem ich hoffte, daß er mir immer erspart bleiben würde? Ich hatte von Anfang bei ihm so meinen Verdacht, hatte ihn studiert, wie ich es bei einem Schachproblem getan haben würde. Da war dieser Mann, der ein normales glückliches Leben gelebt hatte. Er hatte eine glückliche Kindheit. Manchmal sprach er davon, wie glücklich er als Kind gewesen sei. Eine glückliche Ehe. Ein angenehmes Leben. Bei ihm lief alles glatt, bis zu diesem letzten Jahr. Aber warum fing er sich nicht? Ändere dich oder stirb, sagte er einmal. Um diesen Punkt kreise das ganze Leben. Und er konnte sich einfach nicht andern. Der Fehler lag bei ihm.

In den drei Wochen wurde sein Gesicht immer schmaler, die Knochen darunter drängten nach außen, als wollten sie warnen. Und sein Körper schrumpfte auf alarmierende Weise. Aber nichts sonst deutete auf sein Verlangen hin, nichts sonst verriet ihn. Während ich mir jene Tage mit ihm ins Gedächtnis zurückrief, begriff ich, daß alles, was er sagte und tat, dazu bestimmt war, mich von der richtigen Spur abzubringen. Als ich sein Angebot ablehnte, mich und Cully und Diane an seinem Gewinn zu beteiligen, wollte ich damit nur ausdrücken, meine Zuneigung sei echt. Ich dachte, es könne ihm helfen. Doch er hatte die Fähigkeit verloren zu dem, was Jane Austen „die Gnade der Hinwendung“ nannte.

Ich vermute, er hielt das für beschämend, seine Verzweiflung, oder was immer es war. Er war ein guter Amerikaner und fand es entwürdigend, das Gefühl zu haben, es sei sinnlos, weiterzuleben.

Seine Frau hat ihn umgebracht. Zu simpel. Die Mutter, der Vater, die Geschwister? Selbst wenn die Narben der Kindheit verheilen, man bleibt verletzlich. Alter ist kein Schutz gegen Trauma.

Wie Jordan war auch ich aus dem kindischen Gefühl heraus nach Vegas gegangen, man habe mich betrogen. Meine Frau ertrug mich fünf Jahre lang, während ich an einem Buch schrieb, und sie beklagte sich nie. Sie war nicht gerade glücklich dabei, aber zum Kuckuck, ich war abends immerhin im Haus. Als mein erster Roman durchfiel und ich völlig am Boden zerstört war, sagte sie bitter: „Ich wußte ja, daß du das nie anbringen würdest.“

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ahnte sie denn nicht, wie mir zumute war? Es war einer der schrecklichsten Tage in meinem ganzen Leben, und dabei liebte ich sie mehr als irgendwen sonst auf der Welt. Ich versuchte es ihr zu erklären. Das Buch war gut. Nur hatte es ein tragisches Ende, und der Verleger wollte ein erhebendes, fröhliches, und ich hatte mich geweigert. (Und wie stolz war ich damals darauf. Und wie sehr hatte ich damit recht. In meiner Arbeit hatte ich immer recht, wirklich.) Ich dachte, meine Frau müßte eigentlich stolz auf mich sein. Was nur beweist, wie vernagelt Schriftsteller sind. Sie war außer sich vor Zorn: Unser Leben sei ein Scheiß. Ich hätte eine Menge Schulden, wo verdammt würde ich endlich einen Punkt machen, was zum Teufel bildete ich mir eigentlich ein, wer ich sei, um Gottes willen? (Nicht ganz ihre Worte; sie verwendete niemals Wörter wie „Scheiße“ oder „verdammt“.) Sie war so sauer, daß sie einfach die Kinder zusammenpackte und aus dem Haus stürmte, bis es Zeit war, das Abendessen zu kochen. Dann war sie zurück. Und dabei hatte sie auch einmal schreiben wollen!

Mein Schwiegervater half uns über die Runden. Aber eines Tages traf er mich zufällig, wie ich aus einem Antiquariat kam, den Arm voller Bücher, und er wurde furchtbar sauer. Es war ein wunderschöner Frühlingstag, alles gelb von Sonne. Er kam gerade aus seinem Büro, und er sah welk und überanstrengt aus. Und ich latschte so dahin und grinste in der Vorfreude über die prima gedruckten Sachen, die ich jetzt verschlingen konnte. „Jesus“, sagte er, „ich hab’ gedacht, du schreibst ein Buch, und dabei gammelst du bloß rum. Scheiße!“ Er konnte das Wort recht geläufig aussprechen.

Ein paar Jahre später wurde das Buch so veröffentlicht, wie ich es wollte, erhielt großartige Kritiken, brachte aber bloß ein paar Tausender ein. Mein Schwiegervater, anstatt mich zu beglückwünschen, sagte: „Na, Geld hat’s ja nicht gebracht. Fünf Jahre Arbeit. Jetzt versteif dich mal drauf, deine Familie durchzubringen.“

Während ich in Vegas spielte, machte ich mir das alles klar. Warum, verdammt noch mal, sollten sie auch Verständnis für mich aufbringen? Warum sollten sie sich auch nur die Bohne um meine verrückte, überspannte Vorstellung von Kunst und Kreativität kümmern? Warum, verdammt, sollte sie das irgendwie berühren? Sie hatten vollkommen recht. Ich aber empfand ihnen gegenüber danach nicht mehr das gleiche.

Der einzige, der begriff, war mein Bruder Artie, aber sogar er war während des letzten Jahres ein wenig von mir enttäuscht, ich merkte es, obwohl er es nicht zeigte. Und er war das mir am nächsten stehende menschliche Wesen. Oder war es zumindest gewesen, bis er heiratete.

Wieder schreckte mein Hirn vor der Vorstellung zurück, nach Hause gehen zu müssen, wieder dachte ich an die Zeit in Vegas. Cully hatte nichts über sein Leben gesagt, auch wenn ich ihn danach fragte. Er berichtete über das Leben, das er jetzt führte, und fast nichts über die Zeit vor Vegas. Komisch war nur, daß ich der einzige gewesen zu sein schien, der neugierig war. Jordan und Cully stellten kaum Fragen. Wenn sie’s getan hätten, vielleicht würde ich ihnen mehr erzählt haben.

Wenn Artie und ich auch in einem Waisenhaus aufwuchsen, so war das doch nicht schlechter und vielleicht verdammt viel besser als eine Erziehung in einer Militärschule oder in einem von den exklusiven Internaten, in die die Reichen ihre Kinder abschieben, nur um sie los zu sein. Artie war zwar älter als ich, aber ich war immer der Größere und Stärkere von uns beiden, jedenfalls körperlich. Er war stur wie ein Ochse und außerdem sehr viel anständiger. Ihn interessierte die Wissenschaft, und ich war ins Träumen verliebt. Er las Bücher über Mathematik und Chemie und löste Schachprobleme. Er brachte mir das Schachspielen bei, aber ich hatte nie genug Geduld dafür. Es war kein Glücksspiel. Ich las Romane: Dumas und Dickens und Sabatini, Hemingway, Fitzgerald und später Joyce und Kafka und Dostojewski.

Ich möchte schwören, daß die Tatsache, daß ich ein Waisenkind war, keinen Einfluß auf meinen Charakter hatte. Ich war ganz wie alle anderen Kinder. Im späteren Leben konnte keiner vermuten, daß wir weder Mutter noch Vater gekannt hatten. Der einzige moralisch negative Effekt war der, daß Artie und ich, anstatt Brüder zu sein, füreinander Vater und Mutter waren. Wie auch immer, Artie und ich gingen aus den Waisenhaus als halbe Kinder weg, Artie fand einen Job, und ich lebte dann bei ihm. Dann verliebte sich Artie in ein Mädchen, und es war Zeit für mich, zu verschwinden. Ich ging zur Armee und kämpfte im großen Krieg, Weltkrieg Nummer zwei. Als ich fünf Jahre später zurückkam, hatten Artie und ich uns wieder in Brüder zurückverwandelt. Er war Familienvater, ich ein Kriegsveteran. Und mehr war da nicht dran. Nur ein einziges Mal dachte ich daran, daß wir Waisenkinder seien, nämlich als Artie und ich einmal spät bei ihm zu Hause hockten und seine Frau müde wurde und schlafen gehen wollte. Sie gab Artie einen Gutenachtkuß, bevor sie ging. Damals dachte ich, daß Artie und ich etwas Besonderes waren. In unserer Kindheit hatte uns niemand einen Gutenachtkuß gegeben.

Aber gelebt haben wir in diesem Waisenhaus nicht wirklich. Wir flüchteten uns beide in die Bücher. Mein Lieblingsbuch war das über König Artus und seine Tafelrunde. Dann las ich sämtliche Versionen, auch die volkstümlichen und die von Sir Thomas Malory. Und ich denke, es ist ja wohl klar, daß für mich in Gedanken König Artus mein Bruder Artie war. Die Namen klangen gleich, und ich, in meiner kindlichen Denkweise, entdeckte die Verwandtschaft beider in dem gleichen sanftmütigen Charakter. Ich selbst identifizierte mich nie mit tapferen Rittern wie Lanzelot. Irgendwie kamen sie mir ein wenig beschränkt vor. Und ich hatte kein Interesse am Heiligen Gral. Ich wollte kein Ritter Galahad sein.

Aber in Merlin verliebte ich mich. Er, mit seiner schlauen Zauberei, wie er sich in einen Falken verwandelte oder in ein anderes Tier. Wie er verschwand und wiederkam. Die langen Zeiten, in denen er abwesend war. Am meisten gefiel mir, daß er König Artus sagte, er könne nicht länger seine rechte Hand sein. Und die Begründung dafür. Daß Merlin sich in ein Mädchen verliebt hatte und sie seinen Zauber lehren wollte. Und daß sie Merlin betrog und seine eigenen Zaubersprüche gegen ihn verwendete. Und dann mußte er tausend Jahre als Gefangener in einer Höhle sitzen, bevor der Zauber seine Kraft verlor. Und dann kehrte er ins Leben zurück. Mann, war das ein Idol, war das ein Zauberer. Besser als alle anderen. Also versuchte ich als Kind für meinen Bruder Artie ein Merlin zu sein. Und als wir aus dem Waisenhaus weggingen, änderten wir unseren Familiennamen in Merlin. Und redeten nie wieder darüber, daß wir Waisen waren. Nicht miteinander und nicht mit irgendwem.

Das Flugzeug setzte zur Landung an. Las Vegas, das war mein „Camelot“ gewesen, ein ironischer Zusammenhang, den der große Merlin leicht hätte erklären können. Jetzt kehrte ich in meine Wirklichkeit zurück. Ich würde meinem Bruder und meiner Frau eine Menge zu erklären haben. Als die Maschine zu ihrem Standplatz rollte, las ich meine Geschenkpäckchen auf.

Narren sterben

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