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Ich erzählte Jordan und Cully und Diane, wie mein Bruder Artie und meine Frau Vallie mich jeden Tag besuchen kamen. Wie Artie mich rasierte, Vallie hin- und zurückfuhr, während seine Frau sich um meine Kinder kümmerte. Ich sah, wie Cully maliziös lächelte.

„Okay“, sagte ich, „die Narbe, die ich euch gezeigt habe, ist von der Gallenoperation. Kein MG. Wenn du einen Furz von Hirn hättest, würdest du wissen, daß ich es nie überlebt hätte, wenn ich dermaßen angeschossen worden wäre.“

Cully lächelte weiter. Er sagte: „Ist dir je in den Sinn gekommen, daß dein Bruder und deine Frau, wenn sie aus dem Krankenhaus weggingen, bumsten, ehe sie nach Haus fuhren? Hast du sie deswegen sitzengelassen?“

Ich ließ ein lautes Gelächter los. Ich wußte, jetzt mußte ich ihnen von Artie erzählen.

„Er ist ein sehr gutaussehender Junge“, sagte ich. „Wir sehen uns ähnlich, aber er ist älter. In Wahrheit bin ich so eine Art Kohleskizze meines Bruders Artie. Mein Mund ist zu dicklippig. Meine Augenhöhlen sind zu hohl. Meine Nase ist zu groß. Und ich wirke zu kräftig. Aber ihr solltet mal Artie sehen.“ Ich erklärte ihnen, der Grund, warum ich Vallie geheiratet hätte, sei der, daß sie die einzige von meinen Freundinnen gewesen war, die sich nicht in meinen Bruder verliebte.

Artie sieht unglaublich gut aus, auf eine sehr delikate Art. Seine Augen sind wie die Augen antiker griechischer Statuen. Ich erinnere mich, als wir noch Junggesellen waren, verliebten sich die Mädchen immer in ihn, heulten seinetwegen und drohten damit, sich das Leben zu nehmen. Und wie verzweifelt er deswegen war. Er wußte nämlich wirklich nicht, was zum Teufel das alles sollte. Seine eigene Schönheit war ihm nie bewußt. Er hatte einen kleinen Komplex, weil er nicht groß war, weil seine Hände und Füße winzig waren.

Was Artie beunruhigte, war die Macht, die er über sie ausübte. Am Ende begann er es zu hassen. Und ich? Wie gern hätte ich diesen Zauber besessen! In mich verliebten sich die Mädchen nie auf diese Art, dieses unbesonnene Sichverlieben in Äußerlichkeiten, eine Liebe, die nicht durch Charaktereigenschaften wie Güte, Intelligenz, Witz, Charme, Lebendigkeit verdient wird. Kurz, ich wollte geliebt werden, obwohl ich es nicht verdiente, wollte mich nie wieder abrackern müssen, um eine Liebe zu erringen, nie mehr für eine Liebe schuften. Diese Art Liebe liebe ich auf die gleiche Art wie das Geld, das ich bei einer Glückssträhne im Spiel gewinne.

Artie gewöhnte es sich an, Kleider zu tragen, die ihm nicht standen. Er kleidete sich betont konservativ, was nicht zu seinem Aussehen paßte. Er bemühte sich, seinen Charme zu verbergen. Er konnte sich nur mit Menschen, für die er wirklich etwas übrig hatte und bei denen er sich sicher fühlte, richtig entspannen und er selber sein. Ansonsten baute er sich eine farblose Persönlichkeit auf, mit der er unaufdringlich alle auf Distanz hielt. Aber selbst damit geriet er in Schwierigkeiten. Darum heiratete er jung, und wahrscheinlich war er der einzige treue Ehegatte in der Stadt New York.

In seiner Stellung als Forschungschemiker bei der Bundesbehörde zur Kontrolle von Medikamenten und Nahrungsmitteln, der Food and Drug Administration, verliebten sich seine Kolleginnen und Assistentinnen scharenweise in ihn. Die beste Freundin seiner Frau und deren Mann konnten sein Zutrauen gewinnen, und es blieb ungefähr fünf Jahre lang eine enge Freundschaft. Artie schob sein Visier hoch. Er vertraute beiden. Er gab sich so, wie er wirklich war. Die Freundin seiner Frau verliebte sich in ihn, störte ihre Ehe und verkündete aller Welt ihre Liebe zu Artie, was ziemlichen Ärger und Verdächtigungen von seiten der Frau Arties bewirkte. Und das war das einzige Mal, daß ich ihn ihretwegen wütend erlebt hatte. In seinem Zorn war er tödlich. Sie beschuldigte ihn, diese vernarrte Verliebtheit herausgefordert zu haben. Er antwortete ihr mit der kältesten Stimme, in der ich je einen Mann zu einer Frau habe sprechen hören: „Wenn du das glaubst, dann verschwinde verdammt nochmal aus meinem Leben.“ Und das war bei ihm so völlig unnatürlich, daß sie vor Reue fast zusammenbrach. Ich glaube eigentlich, sie hoffte insgeheim, er möge wirklich schuldig sein, damit sie Macht über ihn bekommen könne. Denn sie war vollkommen in seiner Gewalt.

Sie wußte etwas über ihn, das auch ich und nur ganz wenige andere Menschen wußten, nämlich daß er es nicht ertragen konnte, Schmerz zuzufügen. Niemandem. Er konnte nie jemanden ausschimpfen. Deswegen haßte er es, wenn sich die Frauen in ihn vernarrten. Ich glaube, er war ein sinnlicher Mann, er würde ganz gern eine Reihe von Frauen geliebt haben und es genossen haben, aber er konnte Konflikte nicht ertragen. Seine Frau meinte einmal, das einzige, was sie in ihrer Beziehung vermisse, sei ab und zu ein Ehekrach, weil sie das brauche. Nicht daß es da nicht gelegentlich Streit gab. Schließlich waren sie ja verheiratet. Aber sie sagte, sämtliche Krachs seien einseitige Prügeleien gewesen, natürlich nicht wörtlich zu verstehen. Sie zeterte und zeterte, und dann fegte er sie mit einer so verheerend kühlen Bemerkung aus dem Ring, daß sie in Tränen ausbrach und aufgab.

Bei mir war das anders; er war der Ältere und behandelte mich als einen kleinen Bruder. Und er kannte mich, er konnte besser in mir lesen als meine Frau. Und mir gegenüber wurde er niemals zornig.

Es dauerte zwei Wochen, bis ich mich nach der Operation so weit erholt hatte, um nach Hause gehen zu können. Am letzten Tag sagte ich Dr. Cohn adieu, und er wünschte mir alles Gute.

Die Schwester brachte meine Kleider und sagte, ich müsse noch ein paar Papiere unterzeichnen, bevor ich das Krankenhaus verlassen könnte. Sie brachte mich zum Büro. Ich kam mir wirklich beschissen vor, weil keiner gekommen war, um mich abzuholen. Keiner von meinen Freunden. Niemand von der Familie. Auch Artie nicht. Sicher, sie wußten ja gar nicht, daß ich allein heimfahren würde. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge: Keiner liebt mich. War es gerecht, daß ich nach einer ernsten Operation allein in der U-Bahn nach Haus fahren mußte? Was, wenn ich ohnmächtig würde? Jesus, fühlte ich mich beschissen. Und dann begann ich laut zu lachen. Denn ich hatte wirklich Scheiße im Kopf.

Die Wahrheit war die: Artie hatte gefragt, wer mich nach Hause bringen würde, und ich hatte gesagt, Valerie. Valerie hatte gesagt, sie würde zum Krankenhaus kommen, und ich hatte ihr erklärt, alles sei okay, ich würde ein Taxi nehmen, falls Artie es nicht schaffte. Darum nahm sie an, ich hätte mit Artie gesprochen. Und meine Freunde hatten selbstverständlich angenommen, daß jemand aus der Familie mich heimbringen würde. Tatsache ist, daß ich einen Groll haben wollte. Gegen alle.

Einer hätte es doch schließlich wissen müssen! Ich war immer stolz darauf gewesen, autonom sein zu können, daß ich nie jemand brauchte, der sich um mich kümmerte, daß ich völlig allein und in mir selber ruhend leben konnte. Diesmal aber brauchte ich ein bißchen von jener übertriebenen Sentimentalität, über die die Menschheit in so reichlichem Maße verfügt.

Darum brach ich fast in Tränen aus, als ich zur Station zurückkam und dort Artie mit meinem Koffer in der Hand stehen sah. Meine Stimmung stieg himmelhoch, ich umarmte ihn – es war eines der wenigen Male, daß ich das tat. Dann fragte ich glücklich: „Wie zum Kuckuck hast du erfahren, daß ich heute entlassen werde?“

Artie lächelte mich müde und traurig an. „Du blöder Mistfink, ich habe Valerie angerufen. Die hat gesagt, sie denkt, ich hole dich ab, weil du ihr das gesagt hast.“

„Habe ich ihr nie gesagt“, antwortete ich.

„Ach, komm schon runter“, sagte Artie. Er nahm mich beim Arm und geleitete mich aus der Station. „Ich kenn’ doch deine Masche. Aber den Leuten gegenüber, die sich was aus dir machen, ist das wirklich nicht anständig. Was du anstellst, ist nicht fair.“

Ich sagte nichts, bis wir draußen in seinem Wagen saßen. „Ich hab’ Vallie gesagt, du kommst vielleicht rüber“, sagte ich dann. „Ich wollte nicht, daß sie sich die Mühe macht.“

Artie steckte jetzt mitten im dicken Verkehr und konnte mich deshalb nicht ansehen. Ruhig und überlegt sagte er:

„Was du mit Vallie machst, geht einfach nicht. Mit mir ja. Aber nicht mit Vallie.“

Er durchschaute mich wie sonst keiner. Ich mußte ihm nicht erklären, warum ich mir wie ein beschissener Verlierer vorkam. Meine Erfolglosigkeit als Schriftsteller hatte mich fertiggemacht, die Beschämung darüber, daß es mir nicht gelungen war, gut für meine Frau und Kinder zu sorgen, hatte mich fertiggemacht. Ich konnte niemanden bitten, irgend etwas für mich zu tun. Und ich konnte es tatsächlich nicht ertragen, jemanden zu bitten, man möge mich vom Krankenhaus heimbringen. Nicht einmal meine Frau.

Als wir daheim waren, wartete Vallie schon auf mich. Auf ihrem Gesicht lag ein verwirrter, erschreckter Ausdruck, während sie mich küßte. Wir drei tranken Kaffee in der Küche. Vallie saß neben mir und faßte mich immer wieder an. „Ich kann’s nicht begreifen“, sagte sie. „Warum wolltest du mir denn nichts davon sagen?“

„Weil er ein Held sein wollte“, sagte Artie. Aber er sagte es nur, um sie von der Fährte abzulenken. Er wußte, daß mir nicht recht sein würde, wenn sie wüßte, wie seelisch kaputt ich wirklich war. Ich vermute, er dachte, es wäre nicht gut für sie, wenn sie es wußte. Und außerdem hatte er Vertrauen in mich gesetzt. Er wußte, ich würde wieder auf die Beine kommen. Jeder hat so ab und zu seine kleinen Schwächen. Zum Kuckuck. Auch Helden werden müde.

Nach dem Kaffee ging Artie. Ich bedankte mich bei ihm, er lächelte mich mit seinem herben Lächeln an, aber ich merkte, daß er sich um mich Sorgen machte. Ich merkte, daß sein Gesicht angespannt war. Das Leben fing an, seinen Zoll zu fordern. Sobald er fort war, steckte Vallie mich ins Bett, damit ich mich ausruhen könne. Sie half mir beim Ausziehen und legte sich, ebenfalls nackt, neben mich.

Ich schlief sofort ein. Ich fühlte mich ganz friedlich. Die Berührung mit ihrem warmen Körper, diesen Händen, denen ich vertraute, ihrem Mund, ihren Augen und ihrem Haar, die nicht lügen konnten, machten den Schlaf zu einer süßen Zuflucht, wie sie die stärksten Drogen niemals bieten konnten. Als ich erwachte, war sie nicht mehr da. Ich hörte sie in der Küche reden, hörte die Stimmen der Kinder, die von der Schule heimgekommen waren. Alles schien plötzlich wieder die Anstrengung wert zu sein.

Frauen waren für mich immer eine Zuflucht, eine, die ich selbstsüchtig benutzte, sicherlich, aber sie machte alles übrige erträglich. Wie sollte ich, oder irgendein anderer, die täglichen Niederlagen ertragen, ganz ohne eine Zufluchtstätte? Jesus, ich komme nach Hause und stecke voll Haß über den Arbeitstag; vergehe vor Angst wegen des Geldes, das ich schulde, bin sicher, daß ich dem endgültigen Zusammenbruch im Leben gegenüberstehe, weil ich nie ein erfolgreicher Schriftsteller sein werde. Und dann verschwindet diese ganze Quälerei, weil ich mit meiner Familie zu Abend esse, weil ich den Kindern Geschichten erzähle und weil ich in der Nacht voll Vertrauen und Hinwendung mit meiner Frau schlafe. Eigentlich müßte das als ein Wunder erscheinen. Und das wirkliche Wunder ist ja eigentlich nicht, daß es zwischen Vallie und mir geschah, sondern daß unzählige Millionen anderer Männer und Frauen und Kinder das gleiche erfuhren. Und das seit Tausenden von Jahren. Wenn das alles einmal verschwindet, was wird dann die Menschen noch aneinander binden? Es spielt keine Rolle, daß es nicht immer die volle Liebe gewesen ist, ja manchmal sogar der reine Haß. Ich jedenfalls hatte nun meine ganz persönliche Lebensgeschichte zu bieten.

Und außerdem: Es verliert sich sowieso alles im Leben.

In Vegas erzählte ich das alles stückweise, manchmal bei einem Drink im Foyer, manchmal bei einem Supper nach Mitternacht in der Cafeteria. Und als ich fertig war, sagte Cully: „Aber wir wissen immer noch nicht, warum du deine Frau sitzengelassen hast.“ Jordan warf ihm einen leicht verächtlichen Blick zu, Jordan, der längst am Ende der Reise angelangt war und mich weit hinter sich gelassen hatte.

„Ich habe meine Frau und meine Kinder nicht sitzengelassen“, sagte ich. „Ich mache bloß ’ne Pause. Ich schreibe ihr jeden Tag. Manchmal morgens habe ich das Gefühl, jetzt nimmst du ein Flugzeug und fliegst heim.“

„Einfach so?“ fragte Jordan. Es war nicht sarkastisch gemeint. Er wollte es wirklich wissen.

Diane hatte kein Wort dazu gesagt, aber sie sagte sowieso kaum etwas. Jetzt aber tippte sie mir aufs Knie und erklärte: „Ich glaub’ dir.“

Cully wendete sich an sie: „Und wohin bringt dich das, wenn du irgendeinem Kerl glaubst?“

„Die meisten Männer sind beschissen“, sagte Diane. „Aber Merlin ist es nicht. Jedenfalls noch nicht.“

„Danke“, sagte ich.

„Aber du lernst es schon noch“, sagte Diane kühl.

Ich konnte mich nicht zurückhalten. „Und wie, meinst du, steht’s mit Jordan?“ Ich wußte, sie war in Jordan verliebt. Cully wußte es auch. Jordan wußte es nicht, weil er es entweder nicht wahrhaben wollte oder weil er sich nichts daraus machte. Doch nun wandte er sich zu Diane und sah sie fragend, wenn auch unaufdringlich an, als wäre er wirklich an ihrer Meinung interessiert. Er sah elend aus an diesem Abend. Durch die Haut sah man die Knochen in weißen Flächen durchscheinen.

„Nein, du nicht“, sagte sie zu ihm. Und Jordan wendete sich ab.

Cully war in einer offenherzigen und freundlichen Stimmung. Er erzählte als letzter seine Geschichte, und dann, wie wir alle, behielt er den wichtigsten Teil davon für sich. Aber das fand ich erst Jahre später heraus. Vorläufig malte er für uns ein ehrliches Bild seiner wahren Natur, so wenigstens kam es uns vor. Wir wußten, er hatte irgendeine geheimnisvolle Beziehung zum Hotel und dessen Besitzer, Mr. Gronevelt. Aber ebenso traf zu, daß er ein leidenschaftlicher Spieler war, eine miese Type im allgemeinen. Jordan fand nichts Amüsantes an Cully – aber, ich gestehe es gern ein, ich schon. Alles, was nicht der Norm entsprach, oder auch Karikaturen von Typen, interessierte mich automatisch. Ich leistete mir keinerlei moralischen Urteile. Ich hatte das Gefühl, über diesen Dingen zu stehen. Ich hörte Cully einfach zu.

Cully war ein ganzer Lehrfilm für sich. Und eine Erleuchtung. Niemand würde ihn jemals aufs Kreuz legen. Er pflegte dieandern aufs Kreuz zu legen. Er hatte einen hochentwickelten Überlebensinstinkt. Einen Lebenshunger, der sich auf Amoralität und eine völlige Verachtung ethischer Prinzipien stützte. Und doch war er enorm liebenswert. Er konnte riesig komisch sein. Er interessierte sich für alles, und er konnte mit Frauen auf jene völlig unsentimentale, realistische Art umgehen, die Frauen mögen.

Obwohl er dauernd knapp bei Kasse war, schaffte er es allemal durch Süßholzgeraspel, mit einem der Showgirls im Hotel ins Bett zu gehen. Und wenn sie ihn hinhielten, dann kam sein Pelzmantel-Trick zur Anwendung.

Eine richtig miese Tour. Er brachte die Puppe in einen Pelzladen weiter unten auf dem Strip. Der Besitzer war einer seiner Kumpel, aber die Puppe wußte das nicht. Cully bat den Ladenbesitzer, dem Mädchen seine Pelzmäntel zu zeigen, sie sogar auf dem Boden auszubreiten, damit er und die Puppe den schönsten auswählen könnten. Nachdem die Wahl getroffen war, pflegte der Kürschner dem Mädchen Maß zu nehmen und versicherte, der Mantel werde in zwei Wochen fertig sein. Dann schrieb Cully einen Scheck über zwei- oder dreitausend Dollar als Anzahlung aus und beorderte den Kürschner, den Mantel zu liefern und ihm die Rechnung zu schicken. Dann gab er dem Mädchen die Quittung.

Am gleichen Abend lud er die Puppe zum Dinner ein, danach ließ er sie ein paar Kröten beim Roulette setzen, und dann brachte er sie auf sein Zimmer, wohin sie mitkam, weil sie eine Quittung über ein paar Riesen in ihrer Handtasche hatte. Da Cully so in sie verknallt war, wie hätte sie da anders gekonnt? Der Pelzmantel allein hätte vielleicht nicht ganz gereicht. Und ein wildverliebter Cully auch nicht immer. Aber die Kombination von beidem, wie Cully uns erläuterte, ergab die recht einseitige Vertragsbasis, bei der man stets gewann.

Natürlich bekam das Mädchen den Pelz niemals. Während der zweiwöchigen Liebesgeschichte pflegte Cully einen Streit vom Zaun zu brechen, und die Turteltauben trennten sich. Und Cully sagte, daß die Mädchen ihm kein einziges Mal, wirklich nicht ein einziges Mal, die Quittung für den Pelzmantel zurückgegeben hätten. Jedesmal seien sie zu dem Pelzhändler gerast und hätten versucht, entweder die Anzahlung oder den Pelz zu kassieren. Aber der Inhaber erklärte ihnen selbstverständlich, daß Cully seine Anzahlung bereits zurückgerufen und den Auftrag storniert habe.

Cully hatte noch einen anderen Trick auf Lager, für die Pißnelken vom Varietéballett. Er lud sie an mehreren Abenden zu einem Drink ein, lauschte aufmerksam ihren Problemgeschichtchen und gab sich außerordentlich mitfühlend. Machte nie einen falschen Zug oder forderte sie zu etwas auf. Dann, so in der dritten Nacht, holte er vor dem Mädchen eine Hundertdollarnote aus der Tasche, steckte sie in einen Briefumschlag und diesen in seine Brusttasche. Dann sagte er: „Hör mal, ich mach’ sowas normalerweise nicht, aber ich finde dich wirklich dufte. Gehn wir doch in mein Zimmer rauf und machen wir’s uns gemütlich, dann kriegste das Taxigeld nach Haus.“

Die Kleine protestierte dann meist ein wenig. Zwar wollte sie diesen Hunderter. Aber sie wollte andrerseits auch nicht für eine Nutte gehalten werden. Dann drehte Cully seinen Charme an. „Hör mal“, sagte er dann, „es wird ziemlich spät, wenn du hier weggehst. Und warum sollst du dein Taxi selber bezahlen. Das ist doch das wenigste, was ich tun kann. Und ich finde dich wirklich dufte. Also, was ist schon dabei?“ Und dann gab er dem Mädchen den Umschlag, und sie stopfte ihn in ihre Tasche. Darauf eskortierte er sie sofort auf sein Zimmer und bumste mit ihr stundenlang, bevor er sie wieder gehen ließ. Und dann, so erzählte er, kam der komische Teil der Sache. Noch im Aufzug pflegten die Mädchen das Kuvert aufzureißen, und anstatt der hundert Mäuse fanden sie einen Zehndollarschein. Denn selbstverständlich hatte Cully zwei Briefumschläge in seiner Brusttasche stecken gehabt.

Sehr oft kam das Mädchen dann mit dem Aufzug wieder rauf und hämmerte gegen Cullys Zimmertür. Er ging dann immer ins Badezimmer, ließ sich Badewasser einlaufen, um den Lärm zu übertönen, rasierte sich gemütlich und wartete, bis sie weg war. Wenn das Mädchen scheuer und weniger abgebrüht war, dann rief sie ihn von der Halle aus an und versuchte ihm zu erklären, daß da ein Irrtum passiert sein müsse, weil bloß eine Zehndollarnote in dem Umschlag gesteckt habe.

Das mochte Cully besonders gern. Er sagte dann immer: „Ja, stimmt. Wie teuer kann schon so ’n Taxi kommen? Drei, vier Dollar? Aber ich wollte sichergehen, darum habe ich dir zehn hineingegeben.“

Und das Mädchen sagte dann oft: „Aber ich hab’ gesehen, wie Sie hundert Dollar in den Umschlag gesteckt haben.“

Da wurde Cully stets eindeutig empört. „Hundert Böcke für ein Taxi“, sagte er. „Mensch, was bist ’n du, eine verdammte Nutte? Ich hab’ in meinem ganzen Leben noch für keine Nutte bezahlt. Hör mal, ich hab’ geglaubt, du bist ’n feines Mädchen. Und ich mochte dich wirklich gern. Und jetzt ziehste mir diesen Scheiß ab! Hör zu, ruf mich nicht wieder an.“ Oder, bei anderer Gelegenheit, wenn er glaubte, daß er damit durchkommen würde, sagte er: „0 nein, Süße. Da mußt du dich geirrt haben.“ Und er holte sie sich für eine weitere Nummer. Manche Mädchen glaubten, daß es sich wirklich um ein Versehen gehandelt hätte, oder Cully war smart genug, es so hinzudrehen, daß sie darauf eingehen mußten, um nicht als vollkommene Schafe dazustehen. Manche verabredeten sich sogar nochmals mit ihm, nur um zu beweisen, daß sie keine Nutten waren und nicht wegen hundert Dollar mit jemandem ins Bett stiegen.

Trotzdem tat er das nicht, um Geld zu sparen, denn er verspielte sein Geld. Es war für Cully dieses Gefühl der „Macht“, das er hatte, wenn er ein schönes Mädchen „rumkriegte“. Es reizte ihn dann besonders, wenn das Mädchen dafür bekannt war, nur für Kerle zu strippen, die sie wirklich mochte.

Wenn die Puppen wirklich anständig waren, verfolgte Cully eine raffiniertere Strategie. Er versuchte sich in ihre Gefühle einzuschmuggeln, indem er ihnen ausgefallene Komplimente machte. Sich etwa darüber beklagte, daß er unfähig sei, sexuell erregt zu sein, außer er interessiere sich wirklich für eine Frau oder kenne sie wirklich gut. Er schickte ihnen kleine Geschenke, gab ihnen zwanzig Dollar fürs Taxi. Aber immer gab es dann noch das eine oder andere smarte Girl, das ihm nicht erlaubte, den Fuß in den Türspalt zu setzen. In diesem Fall reichte er das Mädchen weiter. Er begann von einem Freund zu reden, einem reichen Mann, der der netteste Kerl von der Welt sei. Der sich aus reiner Freundschaft um Mädchen kümmere, und sie müßten nicht mal was dafür tun. Dieser Freund kam dann auf einen Drink zu ihnen und war wirklich immer einer von Cullys reichen Bekannten, meistens ein Spieler mit einer saftigen Kleidermanufaktur in New York oder ein Automobilkommissionär aus Chicago. Cully überredete dann das Mädchen, mit diesem Freund zu Abend zu essen, und der Freund war vorher genau instruiert worden. Das Mädchen riskierte nichts. Ein Dinner mit einem wohlhabenden Mann.

Und sie aßen zusammen. Der Mann gab ihr ein paar Hunderter oder schickte ihr am nächsten Tag ein teures Geschenk. Er blieb stets charmant in jeder Hinsicht, forcierte nichts. Aber es gab wundervolle Ankündigungen von Pelzmänteln, Autos, karatschweren Brillantringen für die Zukunft. Und das Mädchen stieg endlich mit dem reichen Freund ins Bett. Und nachdem der reiche Freund sich abgesetzt hatte, fiel das Mädchen, das „nicht rumzukriegen“ war, gewissermaßen für eine Taxifahrt Cully in den Schoß.

Cully kannte keine Gewissensbisse. Sein Standpunkt war, daß unverheiratete Frauen samt und sonders heimliche Nutten seien, darauf aus, einen Kerl mit dem einen oder anderen Trick zu angeln, einschließlich echter Liebe, und daß man als Mann das Recht habe, sie umgekehrt auszutricksen. Nur wenn die Mädchen nicht gegen seine Zimmertür hämmerten und nicht von der Hall aus anriefen, empfand er so etwas wie ein leichtes Mitleid. Dann wußte er, daß die Mädchen in Ordnung gewesen waren, daß sie sich gedemütigt fühlten, weil man sie ausgenutzt hatte. Manchmal suchte er sie danach auf, und wenn sie Geld für die Miete brauchten oder um den Monat durchzuhalten, erklärte er ihnen, es sei bloß ein Scherz gewesen, und schob ihnen hundert oder zweihundert Mäuse hin.

Und für Cully war es ein Scherz. Etwas, das er seinen Kumpeln unter den Dieben und Tricksern und Spielern erzählen konnte. Sie lachten dann und gratulierten ihm, daß er nicht ausgenommen worden war. Alle diese. Parasiten sahen in den Frauen eindeutig Feinde, wohlgemerkt, die über richtige Lustmöglichkeiten verfügten, doch waren sie nicht gewillt, dafür Lösegeld zu zahlen, sei es nun Zaster, Zeit oder Zuneigung. Sie brauchten die Gesellschaft von Frauen, sie brauchten ihre Sanftheit neben sich. Sie zahlten gern Tausende für das Flugticket, um die Mädchen von Vegas mit nach London zu nehmen, nur damit sie in ihrer Nähe waren. Das war okay. Das arme Kind mußte ja schließlich packen und reisen. Und die Mädchen verdienten ihr Geld. Und sie mußten stets für eine schnelle Nummer oder einen vormittäglichen raschen Blasjob ohne Ouvertüre oder die üblichen Nettigkeiten bereit sein. Kein Gezeter. Vor allem kein Gezeter. Hier ist der Schwanz, also kümmere dich darum. Mir egal, ob du mich liebst. Kein „laß uns doch zuerst essen“. Kein „ich will mir erst die Stadt anschauen“. Kein „erst schlafen wir mal ein bißchen“, „später“, „nicht jetzt“, „heute nacht“, „nächste Woche“, „am Weihnachtstag“. Genau jetzt. Schneller Service in jeder Beziehung. Die großen Spieler wollten was Erstklassiges.

Cullys Freiermethoden erschienen mir als zutiefst bösartig, aber die Frauen mochten ihn verdammt lieber als andere Männer. Es schien, als verstünden sie ihn, durchschauten sämtliche seiner Tricks, fühlten sich aber geschmeichelt, daß er sich soviel Mühe gab. Manche der Mädchen, die er ausgetrickst hatte, wurden gute Freundinnen und waren stets bereit, mit ihm zu bumsen, wenn er sich einsam fühlte. Und, lieber Jesus, als er mal krank wurde, stellte sich ein ganzes Regiment von leichtfertigen Florence Nightingales zur Parade in seinem Hotelzimmer ein, wusch ihn, fütterte ihn, klopfte ihm die Kissen zurecht, und damit er auch gut schlafen konnte, bliesen sie ihm einen. Cully wurde einem Mädchen gegenüber selten zornig. Wenn aber, dann sagte er mit tödlicher Verachtung zu ihr: „Geh spazieren!“ Und die Worte hatten eine vernichtende Wirkung. Vielleicht wegen dieses Umschwenkens von völliger Sympathie und völligem Respekt auf die widerliche Tour. Oder weil das Mädchen keinerlei Ursache für dieses Umschwenken fand. Vielleicht auch setzte er den Trick ganz bewußt und grausam als Schock ein, wenn sein Charme nicht funktionierte.

Trotz alledem, Jordans Tod berührte ihn. Er war furchtbar wütend auf Jordan. Er empfand diesen Selbstmord als eine persönliche Beleidigung ihm gegenüber. Er meckerte darüber, daß er die zwanzig Riesen nicht genommen hatte, aber ich fühlte, daß es ihm gar nicht darum ging. Ein paar Tage später kam ich ins Casino und sah, wie er beim Blackjack für das Haus austeilte. Er hatte einen Job angenommen, das Spielen aufgegeben. Ich konnte nicht glauben, daß er es ernst meinte. Aber es war ihm ernst. Für mich hätte er ebensogut Priester werden können.

Narren sterben

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