Читать книгу Grausame Wahrheit - Das dritte Opfer - Marion Selbmann - Страница 3
ОглавлениеKapitel 3
Die Nacht war kalt. Ein kräftiger Wind strich durch das Geäst der Bäume, die den Weg säumten, der nahe am Tierpark zum parkähnlichen Gelände führte. Dora war aus ihrem Wagen ausgestiegen. Sie nahm die Tasche mit den Geldscheinen aus dem Kofferraum. Die Frau spürte weder Kälte noch Wind, als sie den schmalen Weg der ins Innere des Parks führte, betrat.
“Kommen sie allein! Keine Polizei!“ hatte im Brief gestanden.
Ihre rechte Hand umklammerte den Henkel der braunen Ledertasche. Sie konnte einigermaßen gut sehen. Der Vollmond tauchte das gesamte Gelände in ein hell silbernes Licht. Der Weg wurde schmaler. Dora konnte erkennen, dass in geringer Entfernung etwas lag. Mitten auf dem Weg türmte sich vom Wind geschüttelt, eine Plane auf. Beinahe konnte man denken, ein Zelt stünde dort. Dora beschlich ein mulmiges Gefühl. Kurz blieb sie stehen, blickte sich um. Wo war der Entführer? Warum kam er nicht, nahm das Geld und brachte ihr den Sohn zurück. Dora spürte ihr Herz bis zum Hals hinauf schlagen. Heftig ging ihr Atem. Etwas Schreckliches, unfassbar Grausames, würde sie erwarten, wenn sie weiterginge. Dann straffte sich ihre schlanke Gestalt.
„Zwischen den Büschen wird er hocken, der Feigling. Er hat meinem Kind den Mund zugeklebt und wartet auf das Geld. Dann wird er Martin frei lassen.“ redete sie sich selbst Mut zu.
Diese Hoffnung ließ sie schneller laufen. Als sie beinahe da war, verlangsamte sie ihren Schritt. Dora erkannte, dass dieses dunkle Etwas mitten auf dem Weg, nicht vom Wind davon gefegt werden konnte. Etwas Großes, Schweres lag darauf. Sie stellte die Tasche mit dem Geld auf den Boden. Die Beine schienen ihr den Dienst zu versagen. Jetzt stand sie ganz nahe vor dem Bündel, welches die Plane daran hinderte davon zu fliegen. Sie hob mit beiden Händen das starre, schwarze Etwas aus Plastik an. Es war störrisch, wollte sich nicht öffnen lassen. Endlich gelang es ihr. Ein Schrei voller Verzweiflung und ohnmächtiger Wut rollte wie ein Donner durch das Gehölz und lies die Geschöpfe der Nacht verstummen.
Wie eine Tote lag Dora in ihrem großen, mit hellgrüner Bettwäsche bezogenen Bett. Hektor betrachtete sie ganz genau. Auf ihrer auffallend blassen Haut zeichneten sich winzige Sommersprossen ab. Hektor sah diese kleinen Flecken das erste Mal an ihr. Er machte sich Vorwürfe weil er nicht bemerkt hatte, dass sie sich des Nachts aus dem Haus geschlichen hatte. Ein Spaziergänger hatte sie im Morgengrauen ohnmächtig neben ihrem toten Kind gefunden. Als man sie in ein Krankenhaus bringen wollte, hatte die Frau getobt wie eine Wahnsinnige.
Nun war sie zu Hause. Blass lag sie in dem breiten Bett. Ihr rotes Haar bildete einen hinreißenden Kontrast zum Grün der Bettwäsche. Hektor konnte sich nicht satt sehen. Er betrachtete die kleinen Sonneninseln welche durch die Jalousien auf Doras Gesicht fielen. Ein leises Knarren riss Hektor aus seinen Gedanken. Ein großer, schlaksiger Junge stand unschlüssig im Türrahmen. Hektor legte den Zeigefinger auf seinen Mund.
„Sie schläft“, flüsterte er.
Er erhob sich, ging zu dem Jungen und schob ihn sanft hinaus in den Gang.
„Schön, dass ich dich endlich kennenlerne. Gehen wir doch nach unten. Ich habe einige Fragen an dich.“
Max hatte das schmale Gesicht mit den feinen Zügen seiner Mutter. Nur seine Augen waren anders.
„Du könntest mir helfen mein Junge.“
Max fuhr sich mit beiden Händen durch sein dichtes braunes Haar.
„Wie denn?“
„Du könntest mir einiges über deinen Bruder erzählen. Zum Beispiel über seinen Freundeskreis. Gab es Neider? Hatte er Streit mit Jemandem?“
Max hob die Schultern.
„Eigentlich mochten ihn alle. Er war überall beliebt. Bei seinen Klassenkameraden, sogar bei den Lehrern.“
Er dachte nach.
„Mein Onkel war der Einzige, der ihn einen verwöhnten Streber nannte.“
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Hektor schob einen der Sessel so, dass er Max direkt gegenüber saß.
„Martin war ein Einser Schüler, sportlich und künstlerisch begabt. Da müssen doch Einige neidisch gewesen sein?“
Max senkte den Blick.
„Glaub ich nicht. Martin hatte so eine Art, man konnte ihm nicht böse sein. Meine Eltern haben uns sehr streng erzogen. Wir durften viele Dinge nicht machen, die für andere Kinder normal waren. Es gab also keinen Grund auf uns neidisch zu sein.“
„Gut.“ Hektor erhob sich schwerfällig.
„Morgen werde ich mit seinen Klassenkameraden und mit den Lehrern sprechen. Mal sehen was dabei herauskommt.“