Читать книгу Die Schattenmatrix - Marion Zimmer Bradley - Страница 10

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Zwei Tage später brachen Margaret und Lew Alton von Arilinn auf. Der Morgen war bewölkt, und die Luft war so kühl wie seit Tagen nicht mehr. Dorilys war ungewöhnlich lebhaft, als würde die frische Herbstbrise sie beleben. Lew ritt einen großen schwarzen Hengst mit einer weißen Blesse, ein älteres Pferd, dem die Mätzchen der Stute lästig zu sein schienen, denn er schnaubte ständig in ihre Richtung.

Margaret war froh, dass sie den Staub von Arilinn endlich aus den Kleidern schütteln konnte, obwohl der Abschied von Liriel sehr traurig gewesen war. Sie wusste nicht, wann sie ihre Base wieder sehen würde. Sicher erst in ein paar Monaten, und ihr war jetzt schon klar, dass sie Liriel sehr vermissen würde. Aber das war wirklich der einzige Wermutstropfen, und falls sie Mestra MacRoss oder einige der anderen Leute aus dem Turm nie wieder sehen sollte, wäre sie durchaus zufrieden.

Domenics Tod hatte Margaret mehr beunruhigt, als sie vorausgesehen hatte. Irgendwie war es ihr gelungen, Ariel vor ihrer Abreise aus dem Weg zu gehen, obwohl sie gerne ihr aufrichtiges Beileid ausgesprochen hätte. Aber Liriel, die sich immerzu mit Ariels Schmerz beschäftigen musste, versicherte ihr, dass eine Begegnung mit Margaret ihre Schwester nur quälen würde. Margaret weinte beim Packen, ihre Gefühle sprangen wild zwischen Wut und Kummer hin und her. Warum, fragte sie sich, nahm überhaupt jemand das Risiko auf sich, Kinder zu haben, wenn ihnen so schreckliche Dinge zustoßen konnten? Eine solche Frage war ihr bisher nicht in den Sinn gekommen, was sie ein wenig beunruhigte, bis sie sich klar machte, dass ihre eigentliche Frage lautete, ob sie selbst ein solches Risiko auf sich nehmen konnte.

Denn trotz ihrer Äußerung gegenüber Mikhail, dass sie ihr Kind einmal Domenic nennen wolle, erschreckte sie die Vorstellung, Kinder zu bekommen. Nicht nur der Gedanke, schwanger zu werden, stieß sie ab, sondern auch der eheliche Vollzug, die pure Fleischeslust, die einer Schwangerschaft vorausging. Sie wusste, dass sie nun zwar den Schatten los war, den Ashara Alton über ihre Kindheit geworfen hatte, aber sie schauderte immer noch bei dem Gedanken an Sex. Sie fürchtete sich maßlos davor, selbst wenn sie sich dabei Mikhail als ihren Partner vorstellte. Sie kam im Geiste bis zu dem Punkt, an dem sie sich auszog, aber von da an lief es ihr eiskalt über den ganzen Körper, und die Kehle schnürte sich zu, dass sie kaum noch Luft bekam.

Sie hatte noch nie einen Mann geküsst, bevor sie hoch über der Stadt Thendara ihre Lippen auf Mikhails presste. Es war wundervoll und erschreckend zugleich gewesen. Vielleicht war es gut so, dass Dom Gabriel und Lady Javanne einer Heirat zwischen ihr und Mikhail äußerst ablehnend gegenüberstanden, denn sie befürchtete, sie könnte im letzten Augenblick kneifen. Ihr gesamtes Erwachsenenwissen über die ganze Sache stammte aus Videos, die sie gesehen hatte, und was sich da abspielte, war ihr nicht gerade sehr anziehend vorgekommen. Es war so körperlich! Verflucht sollte Ashara sein, weil sie Margaret in dieser Hinsicht zum Krüppel gemacht hatte! Dieser Gedanke war jedoch so dämlich, dass sie leise lachte, woraufhin Dorilys die Ohren aufstellte und als Kommentar wieherte.

Ich habe wohl bisher zu sehr in meinem Geist gelebt und nicht genug in meinem Körper. Wenn das Heilmittel dafür nur nicht so ... animalisch wäre. Und so peinlich! Ich weiß nicht, wie die anderen das machen, aber offensichtlich können sie es, sonst wäre unsere Spezies ja schon längst ausgestorben. Wenn ich doch nur jemanden fragen könnte – aber Liriel ist genauso jungfräulich wie ich. Mit Dio hätte ich vielleicht über solche Dinge sprechen können ... aber ... und ich würde eher sterben, als Vater zu fragen. Es wäre uns beiden äußerst peinlich. Vielleicht Lady Linnea ... nein, das könnte ich nicht. Oder gar – Gott steh mir bei – Javanne!

Dennoch wurde sie ruhiger, je weiter sie sich von der riesigen Anlage von Matrixschirmen entfernten. Es war, als würde ihr ein großer Druck auf den Kopf genommen. Wenn sie jetzt noch ihr Herz dazu brachte, sich anständig zu benehmen, damit es endlich aufhörte, sich nach Mikhail zu sehnen und gleichzeitig von diesem Gedanken abgestoßen zu sein, dann würde sie vielleicht ein wenig Ruhe und Frieden finden.

Nach all den Jahren, in denen sie sich von anderen Menschen fern gehalten und nur für die Musik gelebt hatte, ohne echte Freunde, außer Ivor und Ida Davidson, genoss sie die zunehmende Vertrautheit zwischen ihr und Liriel. Es war eine Schande, dass sie keine anderen Freundschaften in Arilinn geschlossen hatte, von Haydn Lindir, dem Archivar, mal abgesehen. Er erinnerte sie ein wenig an Ivor – ein freundlicher, zerstreuter alter Gelehrter mit einem gewaltigen Schatz an Wissen. Wahrscheinlich würde es in Neskaya zwar anders sein, aber nicht unbedingt besser.

Margaret freute sich darauf, für ein paar Tage nach Thendara zurückzukehren. Sie wollte Meister Everard in der Musikstraße besuchen und Aaron und Manuella MacEwan in der Nähnadelstraße. Sie wollte den Stein sehen, den sie für Ivors Grab in Auftrag gegeben hatte und der inzwischen fertig und aufgestellt war. Sie vermisste ihren verstorbenen Mentor sehr, und der Tod von Domenic Alar hatte eine Wunde aufgerissen, die sie für längst verheilt gehalten hatte. Margaret erinnerte sich noch gut an die Toten, die sie gegen Ende der Sharra-Rebellion gesehen hatte, aber damals war sie noch ein Kind gewesen, und sie hatte um diese Menschen nicht wirklich getrauert. Das hier war etwas anderes, sie empfand persönliches Leid, und keine vorhergehende Erfahrung hatte sie auf die Stimmungsschwankungen und die tiefen Gefühle vorbereitet, von denen sie nun erschüttert wurde.

Margaret würde wärmere Kleidung brauchen, denn Neskaya lag viele Kilometer weiter nördlich im Schoß der Berge. Ihren Informationen nach war es zwar nicht so kalt wie Nevarsin, die »Stadt des Schnees«, wo das Cristoforos-Kloster lag, aber für ihren Geschmack dennoch viel zu kalt. Sie musste auch unbedingt daran denken, den Handschuhmacher aufzusuchen. Sie bemühte sich allerdings, nicht an den Turm in Neskaya zu denken, denn sie befürchtete, dort derselben stummen Ablehnung zu begegnen wie in Arilinn. Eines Tages würde sie genug wissen, um nie wieder einen Turm betreten zu müssen, aber noch war es nicht so weit. Sie war noch zu ungeschliffen, zu gefährlich, um allein unterwegs zu sein. Natürlich konnte sie Darkover verlassen, niemand würde sie zurückhalten; aber sie wusste auch, dass es nicht der richtige Weg gewesen wäre, sosehr sie sich auch danach sehnen mochte.

Margaret zwang sich, ihren Dämonen nicht weiter nachzujagen. Sie wollte auf die Sonnenseite des Lebens blicken, und deshalb dachte sie an Rafaella n’ha Liriel, ihre Freundin und frühere Führerin. Sie hoffte, dass Rafaella, eine der Entsagenden, gerade in Thendara weilte und nicht unterwegs war, um Händler zu führen oder in welchen Angelegenheiten auch immer. Rafaella war Margarets erste richtige Freundin auf Darkover gewesen, und sie schätzte die Frau sehr. Außerdem war sie neugierig, wie sich die knospende junge Liebe zwischen der Führerin und Margarets Onkel Rafe Scott entwickelte. Margaret hatte schon etwas geahnt, als die beiden Frauen in den Kilghards waren, und fand es amüsant, dass Rafaella, wenn auch nur dem Namen nach, ihre Tante wurde, falls sie Captain Scott tatsächlich zu ihrem Liebhaber erkor. Diese Beziehung würde sie sogar freuen, ganz im Gegensatz zu der Blutsverwandtschaft mit Javanne Hastur, Mikhails Mutter.

Glücklicherweise hatten Margaret und Lew aus Arilinn abreisen können, bevor Javanne dort eintraf. Javanne wollte den Leichnam ihres Enkels zur Beerdigung abholen. Es war gut möglich, dass sie sich auf der Reise begegneten, was Margaret nicht hoffte; auch wenn Javanne viel zu stolz und taktvoll war, um etwas zu sagen, hatte Margaret allein in ihrer Nähe das Gefühl, als würde sie von tausend Nadeln gestochen. Es wäre sicher angemessener gewesen, in Arilinn zu bleiben und den Sarg auf dem Rückweg zu begleiten, aber nachdem sie Jeff Kerwin einmal davon überzeugt hatten, dass Margaret mit einem Studium bei Istvana Ridenow besser gedient war, hatte sie zu viel Angst, er könnte es sich noch einmal anders überlegen.

Es hatte einigen Widerstand gegeben, weil Margaret den Turm schon nach wenigen Monaten wieder verlassen wollte. Arilinn war immer noch der wichtigste Turm auf Darkover, jedenfalls was seinen Ruf betraf, und ein Aufenthalt dort erfüllte jeden Studenten mit einem gewissen Maß an Stolz. Wer den größten Teil seines Erwachsenenlebens in Arilinn gewohnt und gearbeitet hatte, betrachtete die anderen Türme als provinzielle Einrichtungen, denen es an Niveau und Charakter fehlte. Außerdem hatte Margaret herausgefunden, dass Istvana einen gewissen Ruf als Erneurerin besaß, den die älteren Persönlichkeiten wie Mestra Camilla MacRoss mit Misstrauen beäugten. Offensichtlich herrschte eine leichte Rivalität zwischen den beiden Türmen. Arilinn nach so kurzer Zeit den Rücken zu kehren roch nach einer subtilen Beleidigung, und natürlich waren entsprechende Stimmen laut geworden. Margaret war nicht in diese Diskussionen eingeweiht worden, Lew hingegen schon, und er hatte Margaret mit einem ziemlich bissigen Kommentar über die ganze Szene aufgeheitert.

Margaret fühlte sich wie üblich hin- und hergerissen. Sie wäre Javanne liebend gern aus dem Weg gegangen, aber dann kam sie sich wie ein Feigling vor. Vor ihrer Ankunft auf Darkover war alles viel unkomplizierter gewesen, und sie sehnte sich nach der Einfachheit ihres früheren Lebens. Aber genauso gut konnte sie sich auf den Mond wünschen; sie beschloss, nicht mehr daran zu denken.

Es gelang ihr nicht. Sie ertappte sich dabei, wie ihre Gedanken zu ihren eigenen Fehlern und der Feindseligkeit der jüngeren Studenten in Arilinn zurückwanderten. Sie hatte zwar studiert, fleißig studiert, aber sie hatte die Zeit nicht so genossen wie damals an der Universität. Zum Teil lag das an der Abneigung der anderen Studenten, die Margaret so schmerzhaft gespürt hatte. Zum Teil lag es aber auch an ihrem eigenen Unmut darüber, dass sie wieder zur Schule gehen musste, um etwas so Fremdartiges wie Telepathie zu lernen. Es wäre viel leichter gewesen, wenn sie das Fach schon als Jugendliche studiert hätte statt jetzt als Erwachsene, aber das ließ sich nun mal nicht ändern. Außerdem war sich Margaret ziemlich sicher, dass sie nicht alt geworden wäre, wenn sie bereits als junges Mädchen versucht hätte, sich dem Schatten von Ashara Alton zu stellen.

Egal, wie oft man ihr sagte, dass sie von der längst verstorbenen Bewahrerin nichts mehr zu befürchten hatte und dass Ashara bei jenem Kampf in der Oberwelt vollkommen vernichtet worden sei, Margaret wusste genau, dass sie mit ihrer Ahnfrau noch nicht völlig abgeschlossen hatte. Und zwar nicht nur wegen des Liniengeflechts auf ihrer Haut, sondern noch aus einem anderen Grund. Ihr Gefühl in dieser Sache war allerdings nicht so deutlich wie ihre gelegentlichen Blicke in die Zukunft, und Margaret war froh, dass sie keine Visionen von der unheimlichen kleinen Frau hatte. Margaret hatte ganz und gar nichts dagegen, wenn sie keine weiteren Erfahrungen mit der Aldaran-Gabe machte. Mit Telepathie konnte sie – gerade noch – umgehen, aber die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, war für sie einfach unerträglich und grauenhaft.

Von ihren bisher drei Erlebnissen mit der Aldaran-Gabe beunruhigte sie das zweite am meisten. In dieser Vision war es um das Kind gegangen, das Ariel Alar in ihrem wachsenden Leib trug – das Mädchen, das sie Alanna nennen würde. An der Art, wie das Kind in Ariels Leib lag, war etwas sehr beunruhigend gewesen. Margaret hatte die Vision unmittelbar nach Domenics Unfall gehabt, und sie hätte sie nur zu gern ihrer emotionalen Belastung zugeschrieben, aber sie glaubte nicht daran, und sie war zu ehrlich, um es sich einzureden.

Was die letzte Vision anging, der Anblick des Turms von Hali, wie er früher einmal ausgesehen hatte, so war sie darüber nicht im Geringsten beunruhigt. Sie wusste, dass sich Jeff und ihr Vater Sorgen deswegen machten, aber dafür konnte sie nichts. Nicht alle ihre Visionen wurden wahr oder spielten sich in der vorhergesehenen Weise ab. Das hatte ihr Liriel einmal erklärt, sehr zu Margarets Erleichterung. Zumindest hatte sie keine besondere böse Vorahnung, wenn sie an Hali dachte, anders als bei dem ungeborenen Baby. Sie hatte bereits mehr Abenteuer durchgestanden, grübelte Margaret, als die meisten Menschen in drei Lebensspannen; und wenn sie es irgendwie einrichten konnte, würde sie keine weiteren mehr haben.

Margaret lachte leise, und Lew sah sie an. »Darf ich mitlachen?«, fragte er.

»Ich dachte nur gerade, dass ich keine Abenteuer mehr brauche in meinem Leben.«

Lew Alton lachte dröhnend, und Margaret wurde ganz warm ums Herz. Sein Pferd dagegen nahm Anstoß an dem Lärm, es warf den Kopf nach hinten, dass die Glöckchen am Zaumzeug bimmelten, und schnaubte. »Viel Glück«, sagte Lew, als er seinen Heiterkeitsausbruch beendet hatte. »Ich wünsche dir ein äußerst langweiliges Leben, meine Tochter, allerdings bezweifle ich, dass es auch dazu kommen wird. Mir scheint, wir Altons haben etwas an uns, das Schwierigkeiten förmlich anzieht.«

»Psst! So eine Aussage hätte ich vielleicht von Tante Javanne erwartet, aber doch nicht von dir!«

»Deine Tante ist eine kluge Frau, Marguerida, trotz ihrer charakterlichen Mängel. Sie hat mich oft ›Sturmkrähe‹ genannt, und damit lag sie nicht weit daneben.«

»Sie bringt es immer wieder fertig, dass ich mir wie ein lästiges Insekt vorkomme.« Margaret hielt inne. »Eins, das sie am liebsten zerquetschen möchte.«

»Ganz sicher. Javanne ist eine starke Frau und eine entschlossene Frau. Sie war schon immer so. Sie ordnet die Dinge gerne zu ihrem Vorteil. Aber ich habe den Verdacht, dass sie dich ziemlich beneidet.«

»Wie bitte?«

»Sie würde es natürlich niemals zugeben, aber denk doch mal nach, Chiya. Du hattest eine gute Ausbildung, bist zwischen den Sternen herumgereist, hast andere Rassen kennen gelernt – Dinge, die sie sich kaum vorstellen kann. Javanne hat stets in einem begrenzten Umkreis gelebt: in Armida ihre Kinder aufgezogen, Thendara besucht, um Regis zu schikanieren, das Leben ihrer Sprösslinge gedeichselt, ohne großen Erfolg, wie jedem auffällt. Mikhail ist nicht als Einziger ihren Klauen entronnen. Bei ihm ist es nur am augenfälligsten. Liriel hat ihren eigenen Weg gewählt, der in Wahrheit genauso beschränkt ist wie der von Javanne, nur irgendwie bunter. Gabriel und Rafael sind trotz Javannes Bemühungen immer noch nicht verheiratet. Und Regis ist nicht annähernd so willig, wie sie ihn gerne hätte. Ganz zu schweigen von der Strapaze, mit Dom Gabriel verheiratet zu sein.«

»Ich glaube, so habe ich die Sache noch nie betrachtet. Aber warum hat sie Mikhail nicht erlaubt, Darkover zu verlassen? Das habe ich nie ganz verstanden. Ich meine, nach der Geburt von Danilo Hastur, als Regis Mik nicht mehr brauchte, warum war Javanne da immer noch dagegen, dass er wegging?«

»Ich vermute, dass sie ihm nicht zubilligen wollte, was sie selbst nicht haben konnte. Javanne ist eine klassische Egoistin, meine Tochter. Das ist nicht sehr schön, aber nachdem ich unter einem ähnlichen Gebrechen leide, kann ich ihre Fehler eher verzeihen als du. Du bist noch jung und unglaublich streng in deinem Urteil.«

»Klassisch? So würde ich dich nie nennen – und Javanne auch nicht, was das betrifft!«

»Nein, aber ich bin sicherlich ein Egoist. Wäre ich keiner, hätte ich gewiss nicht durchgehalten.« Er lachte in sich hinein. »Ich habe natürlich nicht so von mir gedacht, als ich noch jung war, das tut man ja nie. Wenn die Jungen auch nur die leiseste Ahnung von ihrer angeborenen Ichbezogenheit hätten, würden sie sehr viel weniger Fehler machen.«

»Dann bin ich wohl auch ein Egoist.« Was für eine entmutigende Erkenntnis. Margaret war tief getroffen, da sie sich eher als großzügigen und hilfsbereiten Menschen gesehen hatte, ganz anders ihre begabteren Kameraden an der Universität oder gar Ivor, der wahrhaft egozentrisch in seiner Musik aufging.

»Ja und nein. Ich glaube, du bist ein ganzes Stück reifer, als ich es in deinem Alter war. Das kommt sicher daher, dass du anderen Kulturen ausgesetzt warst. Es macht einen immer bescheiden, wenn man sieht, wie andere leben. Und dir fehlt mein Gewohnheitslaster – törichter Stolz. Sehr vieles in meinem Leben hätte anders aussehen können, wenn mein Stolz nicht gewesen wäre, meine Weigerung, um Hilfe zu bitten, und mein Beharren, immer alles auf meine Weise zu tun.«

»Wenn man sich von lauter echten Talenten umzingelt fühlt, wie ich im Haus von Ivor, dann kannst man nicht hochnäsig werden. Du hast ja keine Vorstellung, wie bescheiden es einen macht, wenn man eine ganz nette zweite Geige in einem Haus voller Musikgenies ist! Nicht, dass sie sich mir gegenüber aufgespielt hätten, das haben Ivor und Ida nicht zugelassen. Aber ich wusste immer, dass ich nie wirklich schöpferisch sein würde, so wie Jheffy. Dennoch war es eine gute Sache, an der Universität zu studieren, und ich war äußerst stolz darauf. Ich bin es noch, und manchmal wünsche ich mir, ich könnte einfach zurückgehen und dort weitermachen, wo ich aufgehört habe.«

»Wieso?«

»Forschung ist sehr befriedigend, Vater. Man muss sich nicht mit persönlichen Befindlichkeiten auseinander setzen – außer akademischen Eifersüchteleien, natürlich –, aber man kann sich in die Archive vergraben und einfach studieren. Es gibt Gelehrte an der Universität, die ihr ganzes Leben mit Studieren verbracht haben – und über ihre Forschungsergebnisse schrieben oder Vorlesungen hielten.« Sie seufzte und fragte sich, ob sie ihm je die Freude vermitteln konnte, die sie bei ihrer akademischen Tätigkeit empfunden hatte. »Eine gut belegte wissenschaftliche Arbeit ist etwas Wunderbares. Sie ist echt und etwas, das man fest halten kann. Ein intellektuelles Produkt. Es spielt keine Rolle, von welchem Planeten man stammt, welches Geschlecht man hat oder wie alt man ist. Sie hat etwas sehr ... Reines.«

»Du bist sehr auf der Hut vor emotionalen Bindungen, hab ich Recht?«

»Ich hatte bisher nicht viel Glück damit. Ich habe Ivor sehr geliebt, so wie ich dich wahrscheinlich lieben würde, wenn wir uns besser kennen würden. Er ist viel zu früh gestorben. Ich wünschte, du hättest ihn gekannt.«

»Der kurze Blick, den ich auf ihn werfen konnte, während du versucht hast, Donal Alar in der Oberwelt zu finden, hat mich ziemlich eifersüchtig gemacht, Chiya. Einerseits freue ich mich, dass du einen so großartigen Pflegevater hattest, andererseits bedauere ich natürlich sehr, dass ich die Zeit mit dir versäumt habe.«

»Er war wirklich ein guter Vater, wenn auch ein kleines bisschen geistesabwesend. Aber verstehst du, sosehr ich Ivor auch geliebt habe, und er wahrscheinlich auch mich, es gab keine tiefen Gefühle. Ich meine, nicht solche Gefühle, die ich für dich oder Dio empfinde. Wir waren beide Diener der Musik – Priester und Priesterin. Wir haben uns Dinge anvertraut, so wie ich es mit Mik oder Liriel manchmal tue. Wir waren eng verbunden, aber das alles lag mehr an den äußeren Umständen als an irgendetwas anderem. Er hatte so viele Studenten – dreiundfünfzig Jahrgänge von jungen Musikern –, und er hat sie alle auf eine nette, unpersönliche Art geliebt. Und Ida, seine Frau, hat uns ebenfalls geliebt. Sie war stets hilfsbereit und ermutigend, und wir alle fühlten uns in diesem Haus so gut aufgehoben wie nur irgendwo in der Galaxis, aber es fehlte ... an echter Wärme. Das heißt, wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann ist Ida schon eine sehr warmherzige Frau, aber ich wollte nicht zulassen, dass wir uns zu nahe kamen. Sie und Ivor hatten nie eigene Kinder, immer nur die von anderen Leuten. Ich weiß nicht, ob sie es bedauert hat oder nicht. Aber wenn sie überhaupt etwas bedauert hat, dann bestimmt, dass sie ihre Karriere zu Gunsten von Ivors aufgegeben hat. Ich weiß, sie war eine aufstrebende Synthipianistin, als die beiden sich kennen gelernt haben. Und ihren gelegentlichen Darbietungen nach zu urteilen, war sie sehr gut, fast brillant. Aber statt als berühmte Musikerin Karriere zu machen, wurde sie Lehrerin für Tasteninstrumente, und Dutzende von berühmten Musikern haben bei ihr studiert. Bei Ida Davidson studiert zu haben wird in Musikerkreisen als große Ehre angesehen.«

»Glaubst du, sie hat es bereut, dass sie eine private statt einer öffentlichen Karriere gemacht hat?«

»Ich habe sie einmal danach gefragt, und sie sagte, das Leben als berühmter Musiker sei sehr anstrengend und werde immer zu rosig dargestellt.«

»Das klingt, als wäre sie ein großartiger Mensch, und ich bin ihr zutiefst dankbar, dass sie sich so gut um dich gekümmert hat. Als du damals von Thetis weggegangen bist, waren deine Manieren in einem trostlosen Zustand, und ehrlich gesagt, war ich ein bisschen verzweifelt. Aber wenn ich dich in Arilinn so beobachtet habe, warst du ganz und gar eine Dame.«

Margaret spürte, wie sie bis in die Haarspitzen rot wurde. »Eine Dame? Ich? Domna Marilla, das ist eine Dame! Oder Linnea. Ich bin nur ein Wildfang und zufällig Erbin einer Domäne – das ist ein großer Unterschied! Die beiden wissen immer genau, was sie sagen und tun müssen.«

»Und Javanne?«, fragte Lew, und seine Stimme bebte vor Belustigung.

»Meine Tante ist sicher ebenfalls eine richtige Dame, aber sie ist ein anderer Typ als Linnea oder Marilla. Sie weiß zwar, was sich gehört, aber sie hält sich nicht immer daran!«

»Mit anderen Worten, sie ist dir ähnlicher als Domna Marilla.«

»Du meine Güte! Aber vermutlich stimmt es – sosehr sie diesen Vergleich auch verabscheuen würde!« Margaret hielt einen Augenblick inne.»Ich glaube, man könnte sogar sagen, dass wir beide irgendwie kalt sind.«

»Merkwürdig.«

»Wieso?«

»Weil ich sagen würde, dass du und Javanne beide sehr leidenschaftliche Menschen seid und nicht im Geringsten kalt. Aber du hast vorhin von deiner Zurückhaltung bei Beziehungen gesprochen – ich würde gern mehr darüber erfahren, wenn es dir nicht zu unangenehm ist.«

Leidenschaftlich? Margaret musste kurz darüber nachdenken. Der Gedanke war ihr völlig neu und nicht nur angenehm. Sie wusste, dass sie in Bezug auf Musik sehr leidenschaftlich war und nun auch, was ihren Geburtsplaneten anging. Aber in beiden Fällen hatte ihre Leidenschaft etwas Abstraktes, Distanziertes. Sie liebte Mikhail, daran bestand kein Zweifel, aber sie war sich nicht sicher, ob sie auch Leidenschaft für ihn empfand. Sie war ihm leidenschaftlich zugetan, und das war schon etwas ganz anderes als ihre Gefühle gegenüber Musik oder Darkover. Aber das ganze Problem war noch zu neu und zu verzwickt, als dass sie es jetzt lösen könnte, und so schob sie es ein wenig widerwillig beiseite.

Margaret wühlte sich durch das Wirrwarr von Gedanken und Gefühlen, die meisten mit mehr Emotionen befrachtet, als sie zuzugeben bereit war. »Ich glaube, bevor ich nach Darkover kam«, begann sie zögernd, »habe ich nie echte menschliche Wärme gespürt, außer hin und wieder bei Dio. Das lag größtenteils daran, dass mir Ashara ständig befohlen hat, mich abseits zu halten; wie ein schlechter Ohrwurm hat sie es mir immer wieder zugeflüstert, bis ich keinen menschlichen Kontakt mehr gesucht habe. Allmählich konnte ich sehr gut Distanz wahren, vielleicht entspricht eine gewisse Zurückhaltung ja einem Teil meiner Persönlichkeit. Manchmal ist es sehr schwer zu sagen, wo Margaret Alton anfängt und wo Ashara aufhört. Sie muss eine sehr verbitterte Frau gewesen sein, und ich frage mich, ob ich wohl jemals den Grund dafür erfahren werde. Sie ist so rätselhaft, so nah und gleichzeitig so weit weg.« Margaret seufzte. »Und dann muss ich ausgerechnet an dem einzigen Mann auf ganz Darkover Gefallen finden, den ich nicht haben kann. O ja, ich bin wirklich auf der Hut. Und ich habe auch allen Grund dazu.«

»Du musst dich nicht verteidigen. Ich wollte dich bestimmt nicht kritisieren. Ich weiß, dass du wegen deiner persönlichen Vergangenheit anderen Menschen nicht trauen kannst, und ich bin mir meines eigenen Anteils dabei bewusst. Und was Mikhail angeht, da müssen wir einfach abwarten. Aber du darfst die Hoffnung noch nicht aufgeben.«

»Die Hoffnung bricht mir noch das Herz, Vater.« Margaret schämte sich für den Zorn und die Bitterkeit in ihrer Stimme und gab Dorilys kurz die Sporen. Die kleine Stute fiel in Galopp, und Margaret ritt voraus, um eine weitere Unterhaltung unmöglich zu machen.

Als Margaret und Lew kurz vor Einbruch der Nacht auf Burg Comyn eintrafen, wurden sie von den Dienern begrüßt. Nachdem die Pferde versorgt waren, gingen sie schweigend zur Suite des Altons. Das Schweigen war allerdings nicht unangenehm, so wie sie es als Kind empfunden hatte, wenn Lew ihr mal wieder ausgewichen war, sondern nur eine respektvolle Stille, in der beide ihre Gedanken für sich behielten.

Lew wurde jedoch weggerufen, kaum dass er seine Reitstiefel ausgezogen hatte, und Margaret war froh, dass sie ein wenig allein war. Sie badete, zog frische Kleider an und bat das Zimmermädchen Piedra, ihr das Essen zu bringen. Sie wusste, dass sie unbedingt Lady Linnea aufsuchen und ihren gesellschaftlichen Pflichten nachkommen müsste, aber sie war zu müde und zu traurig und wollte keinen anderen Menschen um sich herum haben.

Stattdessen holte sie nach dem Essen ihren Recorder hervor und hörte sich die Aufzeichnungen an, die sie vor etwa vier Monaten auf ihrer Reise mit Rafaella gemacht hatte. Sie hatte das Band während ihres Aufenthalts in Arilinn noch erweitert, weil sie eine ganze Folge von Liedern entdeckte, die ausschließlich in Türmen gesungen wurden, geschrieben von Bewahrern, Überwachern und Technikern. Bisher hatte sich niemand die Mühe gemacht, ihr von diesen Liedern zu erzählen. Die Musik war wunderschön, näher an den altertümlichen Sprechgesängen als die meisten darkovanischen Lieder, und sie hatte einen einsamen Ton, der Margaret unglaublich anzog. Sie sah die längst verstorbenen Bewahrer sogar vor sich, die sich in kalten Nächten mit ihren Rylls und Gitarren die Zeit vertrieben und zu ihrem eigenen Trost diese Stücke geschaffen hatten.

Dies war für Margaret die erste Gelegenheit seit langem, sich voll und ganz auf ihre Arbeit zu konzentrieren, und sie schrieb gerade in Gedanken versunken ein paar Zeilen auf, die hoffentlich eines Tages in einer Monografie standen, als Lew schließlich zurückkam. Ein Teil von Margarets Geist war noch völlig von ihrem Thema in Anspruch genommen, und so war sie sich zwar seiner Anwesenheit bewusst, hörte aber nicht zu schreiben auf, bevor sie ihre Gedanken zu Papier gebracht hatte. Dann schreckte sie schuldbewusst hoch. Sie schaltete das Gerät aus und biss sich ängstlich auf die Unterlippe.

»Was treibst du denn da?«, fragte Lew fröhlich.

»Ich habe gerade versucht, meine Aufzeichnungen zu ordnen. Während ich noch gelernt habe, meine Telepathie zu beherrschen, und bei den Kopfschmerzen, die ich immer von den Matrizen bekam, hatte ich nicht die Energie dazu. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, diesen Turm endlich hinter mir gelassen zu haben, und ich freue mich auch nicht richtig auf Neskaya, obwohl ich dort bei Istvana Ridenow bin.«

»Du warst wirklich sehr weit weg, als ich hereinkam. Sag, Chiya, vermisst du die Universität?«

»O ja. Ich habe ein Drittel meines Lebens dort verbracht. Ich vermisse die Diskussionen, die intensive Neugier der anderen Gelehrten, die Gegensätze.«

»Gegensätze?«

»Ja. Alle Informationen an der Universität werden durch die Parameter von Vergleich und Wechselbeziehung analysiert. Darkover besitzt einige sehr interessante Variationen über die menschliche Norm, und ich habe niemanden mehr, mit dem ich sie diskutieren kann! Sicher, Mikhail ist immer sehr bemüht zu verstehen, was ich sage – er ist auch sehr neugierig auf die Orte, an denen ich war –, aber er begreift oft nicht, was mich daran so fasziniert. Er akzeptiert die darkovanischen Sitten als die Norm, wie sich Menschen benehmen, und sieht dabei nicht, dass dies nur ein Ausschnitt aus einem breiten Spektrum möglichen Benehmens ist.«

»Ich weiß genau, was du meinst! Als ich damals Senatsmitglied wurde, war ich am Anfang ständig schockiert über die breite Palette an menschlichen Verhaltensnormen. Und dabei war ich für einen Darkovaner bereits ziemlich weltklug. Einige der Dinge, denen ich begegnete, erschienen mir sehr seltsam, und ich kam um nichts in der Welt dahinter, warum manche Leute sich nach bestimmten Mustern verhielten. Aber nach den ersten Monaten, in denen ich oft zornig angestarrt wurde, weil ich im Flur links an einem Mediniten vorbeiging, anstatt mich rechts zu halten, habe ich mich an alles gewöhnt. Nach ein paar Jahren wurde es mir schließlich zur zweiten Natur, die verschiedenen Eigenarten der Leute zu akzeptieren. Dafür habe ich heute mehr Schwierigkeiten mit dem unnachgiebigen Charakter meiner Kollegen im Rat der Comyn als je zuvor!« Er lächelte gequält. »Hier, dieses Fax ist für dich gekommen, während ich weg war.«

Margaret nahm das dünne Blatt Papier entgegen und sah, dass es den Briefkopf der Universität trug. Vielleicht kündigten sie ihr die finanzielle Unterstützung.

Sie grinste, als sie das Schreiben gelesen hatte, und blickte zu ihrem Vater auf. »Es ist von Ida Davidson. Sie glaubt, dass sie bald einen Flug nach Darkover bekommt, um Ivors Leichnam abzuholen. Es gibt nur irgendein Problem mit der Reiseerlaubnis.«

»Das überrascht mich nicht.« Lew klang beinahe zornig.

»Wieso?«

»Die Expansionisten im Unterhaus versuchen, Reisen auf geschützte Planeten zu unterbinden, um sie auf diese Weise zu zwingen, Mitgliedsplaneten zu werden. Seit meinem Ausscheiden aus dem Senat haben sie schon zweimal versucht, ein Gesetz durchzubringen, das den Handel mit Welten beschränken oder ausschließen sollte, die nicht bereit sind, einer expansionistischen Politik die Tür zu öffnen. Dem Senat ist es zum Glück gelungen, beide Anträge abzuschmettern, aber es war eine denkbar knappe Angelegenheit.«

»Aber das ist doch verrückt.«

Lew schüttelte den Kopf. »Während meiner Zeit im Senat habe ich die Geschichte der einzelnen Regierungen eingehend studiert – ohne den Vorteil deiner wissenschaftlichen Ausbildung, wie ich gestehen muss. Sag – arbeitet man an der Universität eigentlich immer noch mit dem Text von Kostemeyer über die Lebensdauer von Staaten?«

Margaret hielt ihre Überraschung zurück. Sie hatte nie daran gedacht, dass jemand wie ihr Vater den Klassiker der Sozio-Historiker gelesen haben könnte. Er war vor zweihundert Jahren von einem Centauri geschrieben worden, und obwohl ihn neuere Arbeiten längst ersetzt hatten, war er immer noch ein viel beachteter Klassiker. »Ja, und er ist immer noch gefragt. Er gehört zur Pflichtlektüre im Fach ›Geschichte der Zivilisation‹, das alle Studenten belegen müssen – sehr zum Verdruss der Ingenieur- und Technikstudenten, die allen Ernstes glauben, Geschichte sei etwas, das nur anderen Leuten zustößt.« Margaret erkannte, dass sie in Lew immer noch den Mann aus ihrer frühen Kindheit sah und nicht den umfassend informierten und intelligenten Senator von Darkover. Natürlich hatten sie auch nie ein solches Gespräch geführt, bevor sie zum Studium auszog. Wie wundervoll es war, diesen Mann zu entdecken, ihren Vater, der ihr als kleines Mädchen verwehrt geblieben war, und festzustellen, was für ein interessanter Mensch er war!

»Weißt du noch, was er über die Zyklen schreibt – wie nennt er sie gleich noch?«

»Die Gezeiten, Vater.«

»Richtig, jetzt fällt es mir wieder ein. ›Es ist die Torheit großer Staaten, dass sie das Auf und Ab des Gezeitenstroms aller Regierungsformen übersehen.‹ Einfach grandios, findest du nicht? Er hatte eine schöne Sprache. Nach meiner Ansicht steht die Terranische Föderation gerade am Beginn einer Ebbe, die sowohl durch Unterdrückung als auch durch verschiedene Erscheinungen von Dekadenz gekennzeichnet ist.«

»Dekadenz? Wie meinst du das?«

»Wenn einer Kultur die Ideen ausgehen, wird sie dekadent. Und meiner Meinung nach gehen der Föderation gerade in rasendem Tempo sowohl die Ideen als auch der Verstand aus!« Seine Wangen röteten sich ein wenig, und seine Augen funkelten leidenschaftlich. »Anstatt zu erkennen, dass jeder Planet eine einzigartige und wunderbare Welt darstellt, wähnen sich die Expansionisten einer umfassenden Herrschaft näher, wenn sie allen Mitgliedsplaneten terranische Technologien und Verhaltensweisen aufnötigen. Sie begreifen anscheinend nicht, dass sie auf diese Weise eher einen Aufstand auslösen als Macht erringen!«

»Wieso?«

»Weil die Föderation nicht wissen kann, was für jeden Einzelnen das Beste ist, und schon gar nicht für Darkover und andere geschützte Planeten! Es wird sogar behauptet, dass geschützte Welten nur die Mittel der Föderation verschlingen und nichts zurückgeben würden.«

»War das mit ein Grund dafür, dass du deinen Sitz im Senat aufgegeben hast?«

»Du meinst, ob ich alles so kommen sah?«

»Ja.«

»Vielleicht. Mir ist aufgefallen, dass die Bürokratie immer umfangreicher wurde, was nach meinem Verständnis von Geschichte immer ein Zeichen für Unterdrückung ist. Genehmigungen, Steuern und Gesetze, die den Verkehr von Menschen und Gütern regeln, wuchsen wie Pilze aus der Erde. Das Ganze fing sehr langsam an, etwa zu der Zeit, als du zur Universität gegangen bist, und zunächst schien es auch nicht ungesund zu sein. Zu der Zeit, als Dio krank wurde, sah ich jedoch schon deutlich die Zeichen an der Wand, und ich wusste, dass ich nicht länger im zunehmend feindlichen Umfeld des Senats tätig sein konnte. Allein die Reisesteuer wurde in den letzten neun Jahren dreimal erhöht.«

»Ich weiß. Vergiss nicht, dass ich immer alle Vorbereitungen treffen musste, wenn Ivor und ich von Welt zu Welt gereist sind.«

»Natürlich. Daran habe ich gerade nicht gedacht.«

»Mir fiel vor allem auf, dass unsere Zuschüsse immer geringer wurden. Als ich mit Ivor zu reisen begann, konnten wir noch zweiter Klasse fliegen, aber auf den letzten beiden Reisen mussten wir die dritte Klasse nehmen, weil wir fast keine Spesengelder mehr hatten. Das konnte ich beim besten Willen nicht verstehen. Mein Stipendium wurde von immer neuen Steuern aufgefressen, und irgendwann werden sie es wohl aufheben ... wenn ich nicht bald zurückgehe. Und das werde ich wohl nie mehr tun.« Sie fühlte sich mutloser, als sie es für möglich gehalten hätte.

»Aber du brauchst doch gar kein Stipendium, Marguerida. Du bist die Erbin der Domäne Alton, und du wirst nie ...«

»Ich habe mir dieses Stipendium aber verdient, Vater! Ich habe hart dafür gearbeitet. Natürlich war es nicht viel Geld, aber es hat mir gehört. Ich will nicht, dass es mir irgendein verdammter Expansionist wegnimmt!«

Er seufzte. »Ich weiß, es ist dir wichtig, aber ...«

»Vater, ich kann der Universität keine Arbeiten vorlegen, wenn ich dort nicht mehr studiere. Ich könnte Ivors Werke nicht vollenden oder selbst aktiv werden. Das wäre untragbar.«

»Du hast deine Arbeit wirklich sehr gemocht, stimmt’s?«

Margaret knetete ihre Finger. »Das war es nicht. Aber sie hat ganz allein mir gehört. Ich war nicht wegen dir, nicht einmal wegen Ivor an der Universität. Aber es war etwas, das ich nicht erben konnte. Ich musste sehr hart arbeiten, um eine eigenständige wissenschaftliche Arbeit zu erstellen, die mir das Stipendium einbrachte, und obwohl das Thema sehr exotisch ist und es nur wenige Leute je aus den Archiven hervorholen werden, ist es doch meine eigene Arbeit. Ich will das nicht verlieren. Es klingt vielleicht nicht logisch, aber ich will es einfach nicht!«

»Es geht um mehr als um dein Stipendium, hab ich Recht?«

»Ich werde nie eine gute darkovanische Frau werden, Vater. Ich werde mich nie widerstandslos Männern wie Dom Gabriel unterwerfen, die sich einbilden, sie wüssten, was am besten für mich ist. Wenn du mich als Jugendliche hierher zurückgeschickt hättest, wäre ich vielleicht noch ein anderer Mensch geworden. Jetzt ist es zu spät. Ich habe mich zu sehr daran gewöhnt, dass ich tun und lassen kann, was ich will, ohne Rücksicht auf mein Geschlecht, und ich verabscheue jegliche Beschränkungen, zum Beispiel, dass ich ständig einen Aufpasser oder einen Stallknecht haben muss, und das Ganze übrige Zeug. Ich finde mich nur deshalb damit ab, weil es ein schlechtes Licht auf dich werfen würde, wenn ich mich hier so benähme wie an der Universität.«

»Mir war nicht klar, wie sehr du unter der darkovanischen Kandare leidest«, sagte Lew bedächtig.

»Aber es lässt sich nun mal nicht ändern. Sicher, ich spiele manchmal mit dem Gedanken, meinen Anspruch auf die Domäne aufzugeben, in das nächste Raumschiff zu steigen und den Staub von Darkover abzuschütteln. Weißt du eigentlich, dass ich überglücklich war, als ich hierher kam? Zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben roch alles richtig und klang alles richtig. Ich hatte mich unbewusst nach Darkover gesehnt. Das war noch, bevor ich begriff, dass ich hier nur eine Figur in einem Schachspiel, dass ich Marguerida Alton bin und nicht einfach nur Margaret.«

Sie holte tief Luft und sprudelte weiter; die gesamte Anspannung der letzten Monate löste sich. »Ich bin eine Erbin.« Das Wort schmeckte widerlich in ihrem Mund. »Ich bin eine Marionette, die du für deine Zwecke benutzt oder Regis für seine, um Dom Gabriel oder sonst jemandem einen Strich durch die Rechnung zu machen. Es steht mir nicht frei zu heiraten, wen ich möchte, oder meine eigenen Ziele zu verfolgen. Ich bin keine Person, sondern nur ein Objekt.« Sie bemühte sich, ihre Verbitterung nicht hörbar werden zu lassen, aber es gelang ihr nicht.

»Ich glaube, du irrst dich, was das betrifft.«

»Was würdest du tun, wenn ich mich eines Tages entschließen würde, eine Entsagende zu werden?«

Er sah sie verblüfft an. »Alles, was in meiner Macht steht, um dich davon abzuhalten.«

»Siehst du!«

»Aber du liebst Mikhail, und du willst ihn doch auch heiraten, oder?«

»Und das soll alles sein? Eine Ehe? Soll ich Fesseln tragen, bis ich im Kindbett sterbe oder alt und tatterig werde?«

Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Also, ich wünsche mir tatsächlich, dass du dich irgendwann häuslich niederlässt und ...«

»Und dabei verblöde, während ich Bettwäsche zähle, Mahlzeiten plane und die Dienerschaft herumkommandiere! Ich liebe Mikhail wirklich, aber ich glaube nicht, dass mich allein die Ehe mit ihm – falls du dieses Wunder überhaupt zu Stande bringst – wirklich zufrieden und glücklich macht. Ich bin zu sehr daran gewöhnt, zu denken, zu studieren und zu lernen.« Sie stand vom Schreibtisch auf. »Wir werden in dieser Sache wohl nie einer Meinung sein, Vater. Ich werde mein Bestes tun, um dir eine gehorsame Tochter zu sein, aber ich kann nicht versprechen, dass es mir auch Spaß macht.« Sie seufzte und sah ihren Vater durchtrieben an. »Kannst du Ida Davidson die Reise nach Darkover nicht irgendwie erleichtern? Ich muss ihr noch die Disketten schicken und einen besseren Sprachführer, als ich bei meiner Ankunft hatte. Ich möchte, dass sie sich hier so wohl fühlt wie nur möglich, und es hilft gewaltig, wenn sie die Grundzüge der Sprache beherrscht, bevor sie landet. Ich bin sicher, Onkel Rafe kann mir dabei helfen – er macht sich doch so gerne nützlich, und ich werde es ohne Hemmungen ausnutzen.« Sie grinste ihren Vater an.

Lew sah verwirrt aus. »Hausdrachen«, sagte er liebevoll.

»Was man so hört, entwickle ich mich ganz in diese Richtung. Thyra war nicht umsonst meine Mutter.«

»Und du hast mich nie stärker an sie erinnert als in diesem Augenblick. Gib mir bitte das Fax. Ich gehe gleich morgen früh ins terranische Hauptquartier und sehe, was ich tun kann. Aber erwarte bloß nicht zu viel.«

»Danke.«

»Mestra Davidson liegt dir wohl sehr am Herzen.«

»Allerdings.«

»Dann werde ich alle Hebel in Bewegung setzen, um sie nach Darkover zu bringen.« Er seufzte leise. »Ich weiß, du hast es schwer, Chiya. Und ich finde es großartig, wie du dich den Gepflogenheiten hier beugst, so gut du kannst. Ich fand die Anforderungen unserer Welt anfangs ebenfalls lästig und habe dagegen aufbegehrt. Aber ich habe wohl vergessen, wie schwer man es hier als Frau hat – wie viele Einschränkungen es gibt. Ich würde den Planeten für dich ändern, wenn ich könnte.«

»Wirklich?«

Er grinste. »Sofort! Aber da ich es nicht kann, müssen wir zusammen das Beste aus der jetzigen Situation machen. Vielleicht können wir es untereinander zumindest anders halten.«

»Schön zu wissen, dass du die soziale Ordnung auf den Kopf stellen würdest, um mich glücklich zu machen – auch wenn du es nicht kannst!«

»Ich glaube, dass ich genau das mein ganzes Leben lang versucht habe – allerdings ohne großen Erfolg, wie ich leider zugeben muss. Deshalb traut man mir auch nicht, und dir ebenso wenig.«

»Wie der Vater, so die Tochter?«

»Genau!«

»Ich habe mich nie für eine Rebellin gehalten, Vater.«

»Ich mich auch nicht, aber anscheinend hat das Schicksal uns zu Revolutionären bestimmt, ob es uns gefällt oder nicht. Du bist die Zukunft, Chiya, und ich glaube, es wird eine sehr gute Zukunft, wenn wir nur irgendwie durch die Gegenwart kommen – die wie immer schwierig ist.«

Du bist die Zukunft. Margaret ließ diesen Gedanken auf sich wirken und spürte, wie sich eine große Ruhe in ihr ausbreitete. Vielleicht war sie doch nicht die Schachfigur, für die sie sich gehalten hatte. Sie grinste Lew an, und er lächelte zurück, als hätte er ihre Gedanken erraten.

Am nächsten Morgen waren die Straßen Thendaras mit einer dünnen Schneedecke gepudert, als Margaret mit ihrer Harfe von Burg Comyn aufbrach. Sie hatte sich in dem Bewusstsein davongeschlichen, dass es die Sitte verlangt hätte, einen Gardisten oder zumindest ein Hausmädchen mitzunehmen. Aber sie musste allein sein, deshalb hatte sie einfach ihre Stellung missachtet und war über die Treppe zum Stall und einen Hinterausgang aus der Burg entkommen, ohne dass jemand sie gesehen hatte. Die Flucht bereitete ihr ein diebisches Vergnügen, und sie nahm sich vor, ihre Freiheit in vollen Zügen zu genießen.

Margaret sog die kalte Luft tief ein. Es war fast windstill, und ihr Mantel wärmte sie. Thendara roch nach dem ersten Schnee völlig anders – irgendwie frischer. Sie lauschte dem Knirschen unter ihren Stiefeln, den Rufen der Straßenhändler oder Mütter, die ihre Kinder auszankten, und übersah die gelegentlichen Blicke, die man ihr zuwarf, als sie den terranischen Sektor betrat. Sie wusste, dass sie sich mit ihrem Ausflug ohne Begleitung den Vorschriften widersetzte, aber nach dem Gespräch mit Lew am Abend zuvor war ihr regelrecht nach Rebellion und Aufsässigkeit zu Mute.

Sie erreichte das Tor des kleinen Friedhofs, auf dem die Terraner begraben wurden, und suchte in den langen Reihen nach Ivors Grabstein. Der Steinmetz hatte seine Arbeit gut gemacht. Ivors Name war fehlerfrei in terranischer Schrift eingemeißelt.

Die anderen Gräber waren über und über mit Laub oder Kiefernnadeln bedeckt, sie sahen ungepflegt und ein bisschen verlassen aus. Von Ivors Grab hingegen hatte jemand allen Unrat weggeharkt. Margaret sah einen Strauß Herbstblumen am Grabstein lehnen, dessen Blüten nun vom Frost gebleicht waren, und sie fragte sich, ob Meister Everard oder jemand von der Musikergilde sie dorthin gelegt hatte.

Einige Minuten lang stand sie nur da, betrachtete den Stein und dachte an Ivor und all die Dinge, die ihr seit seinem Tod widerfahren waren. Dann nahm sie die Schutzhülle von der Harfe, stimmte die Saiten in der kalten, trockenen Luft nach und begann zu spielen.

Nach mehreren Minuten verfiel sie in das Stück, das sie für Domenic komponiert hatte. Sie hatte noch ein wenig daran gefeilt, aber im Wesentlichen war es noch so, wie es vor einigen Tagen aus ihren Fingern geflossen war. Als sie zu Ende gespielt hatte, blickte sie auf den Stein hinab. Er verlangte nach Worten, aber Margaret hatte noch immer keine gefunden. Vielleicht eines Tages, wenn sie Glück hatte. Sie ließ die Stille des Friedhofs kurz auf sich wirken, dann fragte sie: »Und, was meinst du, Ivor?«

Nur der Wind antwortete ihr, aber sie spürte, dass ihr Lehrer ihr zugestimmt hätte.

Die Schattenmatrix

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