Читать книгу Die Schattenmatrix - Marion Zimmer Bradley - Страница 8

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Haus Halyn lag so gut versteckt in einem Wäldchen mit hohen Bäumen, dass Mikhail und seine Gardisten beinahe an ihrem Ziel vorbeigeritten wären. Nur eine dünne Rauchsäule über den Bäumen wies auf eine menschliche Behausung hin, und Darylls scharfe Augen erspähten sie. Mit dreiundzwanzig war er der jüngere von Mikhails Begleitern. Er hatte einen weitaus lebhafteren Verstand, war immer zu einem Spaß aufgelegt und von Mikhails Stellung nicht im Geringsten eingeschüchtert. Mathias, der andere Gardist, war fast vierzig und eher behäbig und nüchtern veranlagt. Mikhail kannte ihn schon seit seiner Kindheit, denn Mathias kam von der Alton Domäne. Er konnte den beiden blind vertrauen, und ihre Anwesenheit beruhigte ihn, da das Unbehagen, das er unterwegs gespürt hatte, immer stärker wurde, je näher sie dem Ziel ihrer Reise kamen.

Sie fanden nur mit Mühe einen Weg zwischen den Bäumen, weil unzählige herabgefallene Äste den schmalen Pfad versperrten; eigentlich hätte dieses Holz gesammelt und für den kommenden Winter zum Trocknen eingelagert werden sollen. Als sie schließlich die Stallungen erreichten, runzelte Mikhail die Stirn. Eine stille Verzweiflung bemächtigte sich seiner. Der alte Duncan, an den sich Mikhail noch von seinem letzten Besuch erinnerte, kroch aus einem ziemlich baufälligen Gebäude, aufgeschreckt vom Geräusch ihrer Rösser. Über dem gesamten Anwesen lag der saure Geruch von verfaulendem Heu. Auf dem Dach fehlten Ziegel, es musste also in die Ställe regnen, und auch die anderen Anzeichen des Verfalls waren unübersehbar. Ein Trog war zur Seite gekippt, ein anderer sah grünlich und schaumig aus, als würde das Wasser bereits seit Tagen darin stehen.

Mikhail konnte inzwischen das Dach und das oberste Stockwerk von Haus Halyn sehen; eine hohe Hecke verdeckte den Blick auf den Rest. Er war mehr als schockiert. Die oberen Fenster hatten keine Scheiben mehr, manche waren mit Brettern notdürftig vernagelt, andere standen offen. Auf dem spitzen Dach fehlten mehrere Ziegel, und ein Schornstein hatte sich gesenkt und sah aus, als würde er jeden Augenblick abstürzen.

Duncan starrte die drei nur an, als wären sie eine Erscheinung. Der Mann war in den letzten vier Jahren stark gealtert und wirkte abgemagert. Seine Kleidung war abgetragen, die Stiefel an den Zehen so dünn, dass ein Strumpf herausschaute. Das Haar des alten Mannes war ungepflegt und klebte an seinem Schädel, und seine Zähne waren verfault.

Bevor Mikhail etwas sagen konnte, drehte der Wind, und ein scharfer, beißender Geruch nach Schwefel stach ihm in die Nase, der von irgendwo hinter dem Haus kam. Er brauchte einen Moment, um ihn einordnen zu können. Er hatte bisher nicht gewusst, dass es in der Gegend eine heiße Quelle gab.

»Guten Tag, Duncan. Wie geht es denn so?«, begann er in fröhlicherem Ton, als ihm zu Mute war.

»Willkommen, vai Dom. Könnte nicht besser gehen.« Dann zögerte er, blickte zu Boden und trat nervös von einem Bein aufs andere. »Werdet Ihr erwartet?« Er lachte schaurig. »Das letzte Mal war es nicht der Fall.«

»Ja.« Was, wenn es sich Priscilla inzwischen anders überlegt oder vergessen hatte, ihn anzukündigen? Was, wenn er umsonst gelernt hatte, wie man Menschen auf Laran prüft und diese Reise vergeblich unternommen hatte? Regis Hastur hatte ihm zwar noch vor wenigen Tagen versichert, dass alles in bester Ordnung sei, aber es konnte ja etwas vorgefallen sein. Doch nein, das hätte man ihm sicher gesagt.

»Mestra Emelda hat mich gar nicht informiert«, murmelte Duncan, und seine gute Laune verflüchtigte sich, während er die schwieligen Hände rieb. »Für so viele Pferde ist kein Platz. Es gibt nicht genug Futter.«

Mikhail überging die wenig gastfreundlichen Worte des Alten und stieg ab. Er war müde und hungrig, und seine Stimmung wurde immer gereizter. Der unangenehme Geruch in den Ställen störte ihn, und das ungute Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte, zerrte an seinen Nerven. Er hatte keine Ahnung, wo das Problem lag, aber er war entschlossen, der Sache unverzüglich auf den Grund zu gehen.

»Wer ist Mestra Emelda?« Er hatte noch nie von dieser Frau gehört, doch Duncans Tonfall verhieß nichts Gutes.

»Mestra Emelda«, wiederholte der alte Mann, als sei damit alles gesagt.

Daryll stieg ebenfalls ab und nahm die Zügel von Stürmer, da Duncan offensichtlich nicht die Absicht hatte, etwas anderes zu tun, als dazustehen und verwirrt dreinzuschauen. »Ich kümmere mich um die Pferde, Dom Mikhail. Wir haben noch genug Futter für heute Nacht – obwohl dem Geruch nach hier kein einziges Büschel sauberes Heu zu bekommen ist. Puh!« Er rümpfte die Nase und verzog angewidert das Gesicht. »Morgen werde ich gleich zu dem Dorf reiten, an dem wir vor etwa fünf Meilen vorbeigekommen sind, und frisches Heu schicken lassen.«

»Morgen?« Duncan sah den Gardisten argwöhnisch an. »Ihr werdet doch wohl nicht etwa bleiben! Das wird ihr aber gar nicht gefallen.«

»Selbstverständlich bleiben meine Männer«, fuhr ihn Mikhail gereizt an.

»Nein, sie bleiben nicht«, knurrte der Alte und sah nun beinahe feindselig aus.

Das Unbehagen, das Mikhail gequält hatte, je näher sie Haus Halyn kamen, schlug mit einem Mal in Angst um. Er unterdrückte sie harsch und sah Duncan genauer an. Der Mann, den er von damals kannte, war schon immer eigenwillig gewesen, aber niemals unverschämt. Außerdem war er ordentlich und auch intelligent. Dieser Bursche hier schien jedoch ein völlig anderer Mensch zu sein – mürrisch und ziemlich dumm. Aus der Nähe betrachtet wirkten seine Augen glasig.

Mathias war inzwischen ebenfalls abgestiegen und ging zu den Ställen, seine Haltung wirkte angespannt, als erwartete er das Schlimmste. Er verschwand in der im Dunkeln liegenden Scheune, und Mikhail hörte einen lauten Fluch. Einen Augenblick später tauchte Mathias wieder auf, sein nüchternes und normalerweise friedliches Gesicht war vor Zorn gerötet. »So behandelt man kein anständiges Vieh!«, polterte er los und sah aus, als wollte er Duncan zu Boden schlagen.

Mathias war mit den Pferden aufgewachsen, für die die Domäne Alton berühmt war, und hatte eine Leidenschaft für die Tiere, wie sie die meisten Männer nur für Frauen empfinden. Sein sonst stets freundliches Gesicht drückte Empörung aus. Die Ställe mussten in einem noch schlimmeren Zustand sein, als Mikhail angenommen hatte.

»Was meinst du damit, Mathias?«

»Ich habe nur einen kurzen Blick hineingeworfen, aber der hat gereicht! Manche Tiere stehen bis zu den Fesseln in Abwasser, und die Boxen sind völlig verdreckt. So etwas habe ich wirklich noch nie gesehen.«

»Ich habe eben keine Zeit, mich um die Tiere zu kümmern«, jammerte Duncan und sah ein wenig beschämt aus. »Ich schaffe es gerade, das Holz für das Feuer zu hacken und ...«

»Es wird eine Menge Arbeit erfordern, diese Ställe auszumisten«, unterbrach ihn Mathias. »Und das Dach muss auch repariert werden. Das Gebäude ist eine wahre Schande!«

Mikhail war ganz seiner Ansicht und hoffte, dass wenigstens das Wohnhaus in einem besseren Zustand war. Er hatte genügend Zeit in Armida verbracht, um alle Feinheiten einer guten Bewirtschaftung kennen zu lernen, und war selbst überrascht, wie viel er mitbekommen hatte, ohne dass es ihm bewusst wurde. Er hatte die Ställe ausgemistet, die Pferde gestriegelt und selbst zugeritten, hatte die ganze Nacht bei fohlenden Stuten gesessen und hatte sich mit Fällen von Kolik und anderen Pferdekrankheiten herumgeschlagen. Aber die Ställe in Armida wurden gut geführt – etwas anderes hätte Dom Gabriel Alton auch nicht zugelassen – und die Pferde anständig behandelt. Es machte ihn krank, wenn er an die armen Tiere in diesem Stall hier dachte.

Es dauerte noch eine Stunde bis zur Dämmerung, und er spürte einen gewaltigen Widerwillen, schon jetzt ins Haus zu gehen. Das Gefühl war sehr merkwürdig, eine Art Prickeln auf der Haut, eine Kälte, die nichts mit der kühler werdenden Luft zu tun hatte. Und so nickte er Daryll und Mathias zu: »Mal sehen, was wir vor der Dunkelheit noch tun können, um den Stall erträglicher zu machen.«

Die beiden Gardisten wechselten einen schnellen Blick. Es war eine Sache, wenn Mikhail unterwegs unangenehme Pflichten übernahm, aber eine ganz andere, wenn er es hier tat, schien ihr Blick zu sagen.

Unter normalen Umständen wären auch sie nicht zu Stallarbeiten degradiert worden, dafür waren sonst immer einige junge Burschen zur Stelle, die ihr Handwerk noch lernten. Die ganze Situation war den beiden offenkundig unangenehm, und sie bemühten sich, Mikhails Würde mit der dringenden Notwendigkeit, hier Ordnung zu schaffen, in Einklang zu bringen.

Mikhail wartete nicht, bis die beiden ihm zustimmten, sondern marschierte schnurstracks in das feuchte und düstere Gebäude. Er war froh, dass sein Magen ziemlich leer war, denn von dem beißenden Geruch wurde ihm sofort übel. Er ging zur nächstgelegenen Box, schlüpfte an dem armen Pferd vorbei und nahm das Zaumzeug von dem Haken an der Wand. Er streifte es dem Pferd über den Kopf und führte das Tier vorsichtig rückwärts aus der Box.

Der Gaul war zu mutlos, um sich zu widersetzen. Er hatte offene Stellen an den Beinen und war lange nicht beschlagen worden, deshalb waren die Hufe ausgewachsen, und das arme Ding knickte in den Fesseln um. Die Haut hing ihm schlaff über die Rippen, und das Tier war völlig apathisch, zu schwach, um auch nur irgendeine Regung zu zeigen. Mikhail erkannte in ihm das Pferd, das Vincent vor vier Jahren geritten hatte, ein prächtiges Tier damals, das wahrlich eine gute Behandlung verdient hätte. Mikhail drehte es langsam um, dann führte er es in den Hof hinaus. Er schlang den Strick um ein Geländer und tätschelte den Hals des Pferdes. Es sah ihn aus riesigen dunklen Augen an, dann trat es unbehaglich von einem Huf auf den anderen, als schmerzten seine Beine.

»Kann einer von euch beiden ihm vielleicht die Hufe schneiden? Ich habe den Dreh nie ganz herausbekommen.«

Mathias knurrte, ging zu seinem eigenen Pferd und nahm einen Lederbeutel aus der Satteltasche. Kurz darauf hielt er ein sichelförmiges Messer in seiner schwieligen Hand. »Das habe ich immer dabei – man weiß nie, wann man es brauchen kann.« Dann bückte er sich, nahm einen Huf in die Hand und begann, die überschüssigen Knorpel wegzuschneiden.

Daryll war Mikhails Beispiel gefolgt und hatte ein zweites Tier, ein hübsches kleines Fohlen, aus dem Stall geführt. Nach wenigen Minuten standen alle Pferde im Freien, und Mathias schnitt wie besessen die verwachsenen Hufe. Er fluchte leise bei der Arbeit vor sich hin und besänftigte die Tiere, obwohl sie alle viel zu schwach waren, um ihm Ärger zu machen. Es waren insgesamt sechs Pferde, keines von ihnen in einer besseren Verfassung als das erste. Duncan stand nur dabei und sah ihnen aus trüben Augen zu.

Mikhail und Daryll besorgten sich in der Zwischenzeit Harken und Schaufeln und fingen an, die verdreckten Boxen auszumisten. Der Ammoniakgeruch war fast betäubend, das verfaulte Heu war voller Würmer, größtenteils Regenwürmer, und Parasiten. Auch scheuchten sie mehrere Rattenfamilien auf, die quiekend in dunkle Ecken flüchteten.

Es war harte Knochenarbeit, schmutzig und stinkend, aber Mikhail stellte fest, dass sie ihm half, seine ohnmächtige Wut abzuschütteln. Einige der Boxen waren seit Jahren nicht mehr benutzt worden, und dort war der Lehmboden nicht von der ständigen Bewegung der Hufe zu Wannen ausgehöhlt. Sie waren sogar einigermaßen sauber und wieder brauchbar, wenn sie einmal kurz aufgelockert wurden. Daryll stieg auf den Dachboden und fand einen Ballen Heu, der noch nicht modrig war, und streute ihn sparsam aus.

»Ich kann Mathy seine Wut gut nachfühlen. Das sind anständige Pferde, und es ist nicht richtig, sie so schlecht zu behandeln«, sagte er. Dann sah er zur Decke hinauf. »Hier regnet es rein, wenn wir uns nicht darum kümmern.«

»Ich weiß. So etwas wie das hier habe ich auch noch nie gesehen. Was für ein Schweinestall!«

»Ich reite gleich beim ersten Tageslicht los, besorge frisches Heu und sehe, ob ich jemanden finde, der das Dach reparieren kann. Das heißt ...« Er hielt inne und ordnete seine Gedanken, » ... falls wir überhaupt bleiben. Bleiben wir?«

»Sieht nicht so aus, als wären wir sehr willkommen, was?«

»Wenn der alte Kauz hier der Maßstab ist, dann bestimmt nicht. Schau an! Hier ist ja Pferdesalbe. Genau das Richtige für die Wundstellen.«

»Gut. Wir müssen noch den Trog sauber machen, ich glaube kaum, dass den Tieren das faule Wasser bekommt. Der alte Duncan hat sie vermutlich mit einem Eimer getränkt, sie sehen zwar halb verhungert aus, aber nicht, als wären sie ausgetrocknet. Bring die Salbe bitte zu Mathias, ich schaue mich inzwischen nach Futter um. Die Gäule sind bestimmt seit gut einer Woche nicht gefüttert worden.«

»Für heute Abend haben wir noch genügend Hafer auf den Maultieren, Dom Mikhail. Für unsere und auch für diese armen abgemagerten Tierchen. Es geht mir richtig ans Herz, wenn ich sie ansehe. Ich schwöre, als ich die Stute hier aus ihrer Box geführt hab, hat sie ›danke‹ gesagt und wär mir glatt um den Hals gefallen, wenn sie Arme hätte statt Beine.«

Mikhail grinste über die Worte des Gardisten und spürte, wie seine Anspannung nachließ. Daryll war sehr fantasievoll, auch wenn er es immer zu verbergen suchte. Ein guter Mann. Sie waren beide großartige Männer. Die Situation war jedoch anders, als Mikhail es erwartet hatte. Als er Burg Elhalyn vor vier Jahren besucht hatte, war der Haushalt zwar auch schon ein wenig windig, aber die Ställe waren durchaus in Ordnung gewesen, und die Laken auf dem Bett zwar abgenutzt, aber wenigstens sauber. Das Unbehagen, das während der Arbeit fast verschwunden war, kehrte mit einem Mal zurück, und sein Lächeln verflog. Wenn schon der Stall in einem solchen Zustand war, dann musste es auch in Haus Halyn fürchterlich aussehen.

»Wenn du ins Dorf reitest, sieh zu, dass du ein, zwei Burschen findest, die uns bei den Pferden helfen können. Ich vermute, es gibt kein Personal hier – ich will allerdings verdammt sein, wenn ich wüsste, wieso! Als ich vor vier Jahren zu Besuch war, gab es auch schon nicht viele Diener, und Duncan versah sogar den Dienst des Coridom, obwohl das nicht seine Aufgabe war.«

»Wieso?«

»Der Coridom war nicht ganz bei Verstand – ein bisschen altersschwach –, aber Domna Elhalyn hat es wohl nicht bemerkt. Oder es war ihr egal. Sie ist ... ein wenig verschroben.«

»Bekloppt wäre vermutlich der bessere Ausdruck, wenn Ihr meine Offenheit gestattet. Nicht bemerkt!« Daryll sah aufgebracht aus, seine Wangen röteten sich ein wenig, und seine blauen Augen funkelten. »Dieser Duncan hier scheint auch ein ziemlicher Dussel zu sein – altersschwach oder einfach blöde.«

»Ich weiß. Aber vor vier Jahren war er noch nicht so. Er war einigermaßen tüchtig und hatte alles gut im Griff.«

»Ihr werdet bestimmt alles wieder richten, Dom.«

»Ich freue mich über deine Zuversicht und wünschte nur, ich würde sie teilen.«

Daryll lachte. »Ich habe noch nie mit einem Herrn zusammen einen Stall ausgemistet, und wenn Ihr das tut, dann bringt Ihr im Handumdrehen auch alles andere hier in Ordnung.«

Mikhail spürte die Woge der Zuneigung, die plötzlich von dem Gardisten ausging, eine Hingabe und unmittelbare Treue – unerschütterlich, wenn es darauf ankam. Bis zu diesem Augenblick war ihm gar nicht bewusst gewesen, dass ihn seine Begleiter eingeschätzt, beobachtet und beurteilt hatten. Er hatte bisher nie ernsthaft darüber nachgedacht, dass die Männer, die seinen Befehlen folgten und taten, was er wollte, eine eigene Meinung haben könnten. Oder besser, er hatte es zwar immer gewusst, aber nie gefühlt. Mathias hatte schon unter seinem Vater gedient, als Dom Gabriel noch das Kommando über die Garde hatte, und ihn wahrscheinlich an dem Alten gemessen. Mikhail fragte sich, ob er dem Vergleich schon jetzt standhielt. Würde er es je tun? Zu seinem nicht geringen Erstaunen stellte er fest, dass er sich sehr darüber freuen würde, wenn die Männer ihm ebenso treu ergeben wären wie seinem Vater und seinem Onkel.

Er blickte auf seine Hände. Am Zeigefinger bildete sich eine Blase, und die Handflächen schmerzten von der ungewohnten Arbeit. Er war verschwitzt und stank beinahe so stark wie der Stall. Die Schulter tat ihm weh und die Schenkel ebenso. Am liebsten hätte er sich hingesetzt und sich die nächste Stunde nicht gerührt.

Aber Mikhail wusste, er konnte es nicht länger hinauszögern, ins Haus zu gehen, so gern er es auch getan hätte. Er schleppte sich aus dem düsteren Stall und wusch sich die Hände unter einem Wasserrohr, das aus der Wand kam und einmal bis zu dem noch immer verschlammten Trog geführt hatte. Ein Stück Holz, auf dem das Rohr auflag, war abgebrochen und auf den Boden gefallen, und dem Morast nach zu urteilen, lag es schon seit einigen Wochen dort. Mikhail schüttelte den Kopf.

Dann bemerkte er eine faule Stelle im Holz, dort, wo das Rohr aus der Scheunenwand kam, und machte sich im Geiste eine Notiz, es bald reparieren zu lassen. Er spritzte sich Wasser ins verschwitzte Gesicht, wischte sich mit dem Ärmel ab und hoffte, dass es in Haus Halyn ein funktionierendes Bad gab. Dann drehte er sich um und marschierte auf die Hecke zu, die das Gebäude umgab.

Er ging durch eine Öffnung in der Hecke und fand sich in einem ziemlich verwilderten Garten wieder. Er erkannte die Blätter von Karotten, Zwiebeln und anderem Gemüse, das unter der Erde wächst. Er entdeckte auch ein Netz, das früher einmal die Beeren geschützt hatte, aber es war zerrissen, und es sah ganz danach aus, als hätten die Vögel einen Festschmaus abgehalten.

Mikhail runzelte die Stirn, da hörte er wieder den Schrei einer Krähe. Er sah nach oben und entdeckte einen großen Vogel, der ihn von einem Baum neben dem Haus beobachtete. Der Vogel war sehr hübsch, vielleicht derselbe, den er am Nachmittag gesehen hatte, und seine weißen Flügelränder leuchteten rötlich im letzten Tageslicht. Er sah Mikhail aus intelligenten Augen an, wechselte von einem Fuß auf den anderen, als würde er einen kleinen Tanz aufführen, und öffnete den Schnabel. Dann flog er zur Hecke, ließ sich auf den obersten Zweigen nieder und spreizte die Flügel, so dass die Federn im verbleibenden Licht glänzten. Die Sonne war gerade untergegangen, und der Himmel leuchtete in einer unheilvollen Farbe, mit dicken Wolken, die sich rot und purpurn bauschten.

Das seltsame Benehmen des Vogels faszinierte Mikhail. Eine Weile war er unfähig, seine Augen von ihm abzuwenden, und es kam ihm vor, als wollte die Krähe ihm etwas sagen. Dann gab sie einen langen krächzenden Laut von sich, wie eine Tür, die geölt werden muss, und klapperte mehrmals mit dem Schnabel. Mikhail lief es eiskalt über den Rücken, so unheimlich waren die Bewegungen und das Geräusch. Er schluckte schwer, schüttelte das beklemmende Gefühl ab und eilte zur Tür.

Die Tür führte in die Küche. Ein älterer Mann zuckte beim Geräusch von Mikhails Stiefeln auf dem Holzboden zusammen. Er rührte gerade in einem Topf auf einem gemauerten Steinherd und fuhr nun herum, einen langstieligen Holzlöffel in der zitternden Hand. Seine Augen weiteten sich beim Anblick des Fremden.

Mikhail hatte nicht erwartet, das Haus durch die Hintertür zu betreten, obwohl der Küchengarten diese Vermutung nahe gelegt hätte. Er blickte sich rasch um. Der Raum hatte hohe Decken, zwei ziemlich große Feuerstellen zum Braten und abgenutzte Holzböden. Ein langer Tisch stand in der Mitte, auf dem eine merkwürdige Sammlung von Kochgefäßen und Servierbesteck angehäuft war. Auf einer Seite des Raumes war eine Pumpe mit einer hölzernen Spüle darunter, in der sich Geschirr stapelte. Daneben stand ein Regal mit noch mehr Geschirr. Mikhail seufzte erleichtert. Zumindest war die Küche sauberer als der Stall.

»Was macht Ihr hier?« Der alte Mann musterte Mikhails verschwitzte Reisekleidung und die Stiefel, an denen immer noch der Stallmist klebte. Er wirkte nicht ganz so verblüfft wie Duncan zuvor; seine Augen waren wach.

»Ich bin Mikhail Hastur, und ich suche Domna Priscilla Elhalyn.«

»Umso törichter von Euch«, murmelte der alte Bursche ziemlich unverschämt und wandte ihm den Rücken zu.

Mikhail zögerte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte der Name Hastur nicht die erwartete Reaktion hervorgerufen. Ihm war durchaus bewusst, dass Diener den Tonfall ihrer Herrschaften übernehmen. Dennoch war es äußerst sonderbar. Das Benehmen von Duncan und dem Koch war mehr als feindselig, und wenn Mikhail sich nicht so müde gefühlt hätte, wäre er beleidigt gewesen. Mit einem derart rüden Benehmen hatte er sich noch nie auseinander setzen müssen, und sein ohnehin bereits großes Unbehagen nahm nur noch zu.

Mikhail war pikiert; auch, weil er noch nie zuvor in einer Situation gewesen war, in der sein Name nicht sofortigen Respekt oder gar sklavische Unterwürfigkeit ausgelöst hatte. Er entspannte sich ein wenig und wollte sich merken, unbedingt Marguerida von der Sache zu erzählen, wenn sie sich das nächste Mal trafen. Sie würde es sicher lustig finden. Alle anderen wären dagegen empört – seine Mutter oder Onkel Regis –, aber seine Geliebte würde der Sache eine komische Seite abgewinnen.

Normalerweise ging es ihm schon beim Gedanken an Marguerida großartig. Doch das war diesmal nicht der Fall, und er fragte sich, wieso. Irgendetwas musste in den letzten Stunden geschehen sein. Es würde warten müssen. Später, wenn er gegessen und gebadet hatte, würde er Kontakt mit ihr aufnehmen. Jetzt musste er erst einmal Priscilla finden.

»Habt Ihr etwa vor, zum Essen zu bleiben?«, fragte der Koch mürrisch.

»Ja. Ich und meine beiden Gefährten ebenfalls.«

Der Koch lachte gackernd. »Da wird sich die Gnädigste aber mächtig freuen – drei Leute zum Essen! Ich hoffe, Ihr seid nicht sehr hungrig, denn bei so vielen Leuten sind die Portionen nicht sehr groß.«

Dem Topf entstieg ein Duft nach Geflügel und Zwiebeln, und obwohl das nicht gerade Mikhails Leibspeise war, knurrte sein leerer Magen vor Hunger. »Wir haben die Ställe ausgemistet und deshalb einen sehr gesunden Appetit.«

»Die Ställe ... ein Hastur mistet Ställe aus!« Der Koch drehte sich wieder um und sah ihn an. »Ich hätte ja nie gedacht, dass ich das einmal erlebe. Es wird Euch allerdings nichts helfen, die Mestra lässt bestimmt kein zweites Huhn in den Topf. Sie ist nämlich sehr knauserig.«

Der Koch meinte eindeutig nicht Priscilla, sondern die andere Frau, Emelda, die Duncan bereits erwähnt hatte. Knauserig? Die Domäne Elhalyn war sehr reich, und für Geiz bestand nicht die geringste Notwendigkeit. Diese Emelda musste die Haushälterin sein. Mikhail war im Laufe der Jahre vielen solchen Personen begegnet, sie konnten furchtbar herrische, kleinliche Tyrannen sein. Und wenn er daran dachte, wie geistesabwesend Priscilla bei seinem letzten Besuch gewesen war, hätte es ihn nicht überrascht, sie unter der Knute einer entschlossenen Dienerin anzutreffen. Dennoch war er verstört. Allerdings lebten auch Kinder im Haus, mit einem normalen Appetit, wie er annahm, und er schauderte bei dem Gedanken, dass sie nicht genug zu essen bekommen könnten.

Mikhail zuckte die Achseln. Er würde überhaupt nichts herausfinden, wenn er noch länger hier herumstand. Sein plötzlicher Widerwille, sich zu bewegen und die Küche zu verlassen, überraschte ihn. Sein Kopf war benebelt, als hätte er zu viel Wein getrunken. Das musste die Wirkung der Arbeit im Stall sein.

Er ging gemächlich aus der Küche und trat in einen dunklen Flur, der nach Schimmel und Mehltau roch. Nach etwa fünfzehn Schritten kam er in ein Esszimmer, einen traurigen kleinen Raum, mit einer Ansammlung von Stühlen, die aus verschiedenen Quellen zu stammen schienen und um einen langen Tisch herumstanden, den seit Jahren niemand gewachst hatte. Ein Tischende war mit einer dicken Staubschicht bedeckt, das andere hingegen wies Spuren von kürzlichem Gebrauch auf. Die stumpfe Oberfläche war abgenutzt und fettverschmiert, das Holz war an mehreren Stellen gesprungen, das dünne Furnier abgeblättert. Der Raum wirkte niederschmetternd, und jeder Gedanke an eine fähige, wenngleich tyrannische Haushälterin löste sich in Trübsal auf.

Es war kalt, und als Mikhail zu dem Kamin in der Wand schaute, bemerkte er eine kleine Kohlenpfanne, die auf den Kaminböcken stand. Das Ding würde kaum genug Hitze produzieren, um eine Maus zu wärmen, außerdem musste es sehr stark rauchen. Er sah nur in ein schwarzes Loch und begriff, dass der Kamin vollständig mit Schlacke verstopft sein musste. Noch etwas, das er dringend reparieren lassen musste.

Mikhail trat vom Kamin zurück und warf einen Blick auf die zerschlissenen Tapeten an den Wänden, und ein tiefes Gefühl der Hilflosigkeit und Verzweiflung befiel ihn. Anders als sein Vater oder sein Bruder Gabriel hatte er noch nie einem Haushalt vorgestanden. Burg Comyn, auf der er seine Jugend verbracht hatte, war von einem ganzen Heer von tüchtigen Dienern bewirtschaftet worden; Armida und Burg Ardais ebenso. Er wusste zwar, dass man Lebensmittel von den Bauernhöfen in die Küchen transportieren musste, dass Brennholz gehackt und getrocknet werden musste, dass die Wäsche auf den Märkten in Thendara besorgt wurde, aber er hatte keine Ahnung, wie man einen Kamin in Stand hielt! Oder was man gegen verschimmelte Korridore unternahm. Die Aufgabe kam ihm gewaltig vor, und hungrig und müde, wie er im Augenblick war, schien sie seine Kräfte wahrlich zu übersteigen. Dann sagte er sich jedoch, dass er immerhin der Regent von Elhalyn war und Befehle erteilen konnte. Wenn allerdings alle hier so waren wie Duncan und der namenlose Koch, dann konnte er nicht sicher sein, dass man seine Befehle auch verstand, geschweige denn befolgte.

Mikhail fühlte sich immer noch von einer seltsamen Trägheit ergriffen, und es erforderte seine ganze Entschlusskraft, den kalten Speisesaal zu verlassen und sich im restlichen Haus umzusehen. Mikhail ging durch eine Art Wohnzimmer oder Salon und bemerkte einen Stickrahmen neben dem Kamin, was vermuten ließ, dass entweder Priscilla oder eine ihrer Töchter sich mit einer Handarbeit beschäftigt hatten. Es war zwar nichts Außergewöhnliches, aber der beruhigendste Anblick seit seiner Ankunft.

Er wagte sich ins Foyer, ein ehemals schöner Empfangsraum, der nun schäbig und verfallen war. In den Boden waren große Steinfliesen eingelassen, doch einige waren gesprungen, und andere hatten sich verschoben, so dass sie nicht mehr eben mit dem Boden abschlossen. Ein langes Fenster auf einer Seite des Haupteingangs war mit mehreren Holzbrettern vernagelt worden, die so notdürftig zusammengezimmert waren, dass Mikhail den Luftzug zwischen ihnen spürte. Der leichte Schwefelgeruch von der heißen Quelle wehte herein, und er rümpfte die Nase.

Im Haus war es ungewöhnlich still. Er blickte zur Treppe und horchte angestrengt nach Geräuschen im oberen Stockwerk. Hier wohnten fünf Kinder, und dennoch war alles ruhig. Armida hatte in seiner Kindheit von lauten Schritten, jungen Stimmen und zugeknallten Türen widergehallt. Javanne hatte sich oft beschwert, sie habe keine ruhige Minute, und immer behauptet, wenn sie gewusst hätte, wie laut Kinder seien, hätte sie vielleicht nicht so viele in die Welt gesetzt. Mikhail wäre im Augenblick froh gewesen, das Trampeln zu hören, mit dem er und seine Brüder die Treppen von Armida erzittern ließen. Irgendetwas an der Stille in diesem Haus war nicht in Ordnung, aber er konnte nicht genau sagen, was.

Ein leises Rascheln von Stoff ließ ihn in das Dunkel neben der Treppe blicken, von wo nach einem Augenblick eine Frau auftauchte. Sie war mager, beinahe knochig, und sehr dunkles, fast schwarzes Haar fiel in dichten Locken um ihr schmales Gesicht. Ihre Hautfarbe war irgendwie seltsam – sie hatte einen befremdlichen Grünstich –, aber bei der schlechten Beleuchtung spielten ihm seine Augen vielleicht nur einen Streich. Die Farbe ihres Gewandes jedoch war keine optische Täuschung. Der Stoff war von jenem besonderen Rot, das ausschließlich den feierlichen Gewändern der Bewahrerinnen vorbehalten blieb.

Einen Augenblick lang standen sie beide da und starrten einander an. Dann sprach die Frau mit hochnäsigem Tonfall. »Was tut Ihr hier?«

»Ich bin Mikhail Hastur, und ich bin gekommen, um mich um die Kinder zu kümmern. Wo ist Domna Priscilla?«

»Um die Kinder kümmern! Um die braucht sich niemand zu kümmern.« Die Frau sah Mikhail mit ihren grauen Augen an, und er wurde von einem solchen Schwindelgefühl erfasst, dass er den Blick abwenden musste.

»Wer seid Ihr?«, stieß er wütend hervor, als er seine Sinne wieder im Griff hatte. Wie konnte es dieses Weibsbild wagen, ihn direkt anzusehen! Was war hier eigentlich los?

»Ich bin Emelda, und Ihr habt den weiten Weg umsonst gemacht. Ihr solltet besser sofort wieder gehen.«

Bevor Mikhail antworten konnte, trat Priscilla aus dem Flur hinter der Treppe. Ihre Augen wirkten leer, und das rotblonde Haar war grau geworden. Er hatte sie als ziemlich mollige Frau in Erinnerung, aber nun war sie sehr dünn, beinahe hager. »Ich habe Stimmen gehört.« Sie sah Mikhail und blieb stehen. »Ach, du bist es. Du warst mit deinem Freund Dyan schon einmal hier, hab ich Recht? Das heißt – nicht hier, sondern auf Burg Elhalyn. Aber ich erinnere mich noch genau an dich.« Sie schien deshalb sehr zufrieden mit sich zu sein. »Was ist diesmal der Grund für deinen Besuch?«

»Regis Hastur hat mich zum Regenten von Elhalyn ernannt, Domna, was man Euch, soviel ich weiß, bereits mitgeteilt hat.«

»Ach das. Ja, ich glaube, ich habe eine entsprechende Nachricht erhalten. Aber das erklärt noch immer nicht deine Anwesenheit. Ich habe dich nicht eingeladen, oder?« Priscilla schaute verwirrt drein, dann ein wenig beunruhigt, als wäre ihr plötzlich etwas Unangenehmes eingefallen. Ihr Blick wanderte nervös zu Emelda.

Mikhail fühlte sich, als würden eklige Insekten wild in seinem Kopf herumschwirren. »Als Regent trage ich immerhin Sorge für das Wohlergehen der Kinder, außerdem muss ich die Knaben prüfen«, brachte er schließlich heraus. »Ich bin mit zweien meiner Männer hierher gekommen und ...«

»Ihr habt auch noch Leute mitgebracht!« Das war Emelda, und sie sah wütend aus. »Das können wir nicht dulden.«

Mikhail war mit seiner Geduld am Ende. »Schweig, wer immer du bist. Die Sache geht dich nichts an!« Keine verdammte Haushälterin sagt mir, was ich zu tun habe! Und wieso trägt sie die Farbe einer Bewahrerin?

Die schwarz gelockte Frau warf sich in Positur. »Ich bin Emelda Aldaran, und es geht mich sehr wohl etwas an. Weil nämlich ohne meine Führung ...«

»Domna Elhalyn«, donnerte Mikhail und war selbst überrascht vom Dröhnen in seiner Stimme, »was ist hier eigentlich los?«

Priscilla blickte von Mikhail zu Emelda, als säße sie zwischen zwei hungrigen Raubtieren in der Falle. Ihre blassen Augen funkelten im schwachen Licht des Foyers, und ihre Hände begannen zu zittern. »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte sie kraftlos.

»Ich meine, dass Ihr in diesem baufälligen Haus mit zerbrochenen Fenstern lebt, dass Eure Diener sich unverschämt benehmen und Eure Ställe eine Schande sind!«

»Wenn es Euch nicht gefällt, könnt Ihr ja gehen«, sagte Emelda mit einem affektierten Grinsen. »Ihr seid hier weder erwünscht, noch werdet Ihr gebraucht.«

Erneut hatte Mikhail das Gefühl, als würde ihm die Energie aus dem Leib gesaugt, und er warf der seltsamen Frau einen misstrauischen Blick zu. Sie besaß zweifellos Laran und behauptete, eine Aldaran zu sein – wahrscheinlich ein Nedestra-Kind, obwohl sie eigentlich zu alt wirkte, um eine Tochter von Robert oder Herm Aldaran zu sein. Allerdings spielte es keine Rolle, und außerdem konnte sie auch lügen. Was hingegen sehr wohl eine Rolle spielte, war die Tatsache, dass sie offensichtlich Macht über Priscilla besaß und Haus Halyn zu ihrem eigenen Nutzen führte. Mikhail hätte sie am liebsten erwürgt, und beinahe im selben Augenblick überkam ihn ein Gefühl von Schwäche und Benommenheit.

Was, bei Zandrus Hölle, war sie? Mikhail war noch nie jemandem wie Emelda begegnet. Er biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf Priscilla; die andere Frau verbannte er mit aller Kraft aus seinem Bewusstsein. Sofort verließ ihn das Schwächegefühl, und wäre er kein ausgebildeter Telepath gewesen, hätte er diese Empfindung wohl für Einbildung gehalten.

»Mein Platz ist hier, bis sich einer der Knaben als geeigneter Thronfolger erweist – und das kann ein Jahr oder länger dauern. Außerdem habe ich nicht die Absicht, den bevorstehenden Winter in einem Abbruchhaus zu verbringen. Wie konntet Ihr die Kinder nur in einem solchen Schweinestall leben lassen?« Mikhail war so empört, weil er sich von seinem letzten Besuch noch gut an die Kinder erinnerte.

»Es macht ihnen nichts aus«, entgegnete Priscilla, als würde das alles erklären.

»Domna«, flüsterte Emelda, »Ihr dürft nicht zulassen, dass er stört, wenn der Wächter Euch ruft. Ihr müsst ihn auf der Stelle zum Gehen bewegen.«

»Emelda hat Recht. Ich habe es mir anders überlegt. Ich hätte mich nicht von Regis Hastur überreden lassen dürfen ...« Sie sprach nun mit größerer Sicherheit als zuvor, aber die Worte klangen monoton und ausdruckslos, als kämen sie von einer Puppe.

»Das liegt nicht mehr in Eurer Hand, Domna. Der Rat der Comyn hat meiner Ernennung zum Regenten bereits zugestimmt, und ich werde hier nicht weggehen.« Das stimmte zwar nicht genau, da der Rat weiterhin in seine eigenen Probleme verwickelt war und die Sitzungen größtenteils aus Redeschlachten zwischen Dom Gabriel und Regis oder Lew und Dom Gabriel bestanden. Aber der Rat hatte ihn auch nicht abgelehnt. Die Domäne Elhalyn war nun wirklich ihre geringste Sorge, und Mikhails Sitz im Rat war ordnungsgemäß vorgeschlagen und beschlossen worden – gegen die lautstarken Einwände seines eigenen Vaters.

Mikhail hätte seinen Platz sofort und ohne das geringste Bedauern einem seiner Brüder überlassen. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Gabriel Emelda gegenübertreten würde – ein sehr komisches und irgendwie ermutigendes Bild. So wie er Gabriels explosives Temperament kannte, hätte er die Frau längst zur Tür hinausgeworfen. Seltsam – er hatte den Gedanken an seinen ältesten Bruder noch nie so angenehm empfunden.

»Wie könnt Ihr es wagen, so mit mir zu sprechen!« Emelda baute sich drohend vor ihm auf.

»Ich spreche mit dir, wie es mir passt. Und jetzt verschwinde gefälligst hier und lass mich mit der Domna allein reden.«

»Wirklich, Mikhail«, mischte sich Priscilla ein, »du weißt überhaupt nicht, was du tust. Nur weil du Regent bist, kannst du doch nicht einfach hier aufkreuzen und über uns bestimmen. Ich habe Emelda immer an meiner Seite – ich muss, denn sie ist meine Führerin.«

Dieser schüchterne Widerstand von Priscilla kam unerwartet, und Mikhail dachte kurz nach. Soviel er wusste, waren seine Vollmachten als Regent uneingeschränkt, jedenfalls, was das Wohlergehen der Kinder betraf. Weniger sicher war er sich, wie viel Macht er über Priscilla hatte, aber er beschloss zu bluffen. Mochte doch Regis später eine Lösung finden, wenn er zu weit gegangen war. Er wollte diese Aufgabe endlich erledigen, und zwar gut erledigen, und diese kleine Tyrannin konnte ihn nicht davon abhalten. Wenn es sein musste, würde er sich wie sein dickköpfiger Bruder Gabriel aufführen.

»Ich übernehme ab sofort das Kommando, Domna. Ich werde mich darum kümmern, dass dieses Haus für den Winter hergerichtet wird und dass die Kinder gut versorgt sind. Ihr könnt selbstverständlich tun, was Ihr wollt, und Eure Begleiterin ebenso. Ich bin an Eurem Treiben nicht interessiert.«

»Aber wozu? Wir werden doch sowieso nicht mehr lange hier sein.«

Mikhail sah Priscilla erstaunt an. »Ach? Und wo wollt Ihr hingehen? Vielleicht zurück nach Burg Elhalyn?«

»O nein. Wir werden bald weggehen.« Ihr Blick war nun verstohlen, und ihr Gesichtsausdruck gleichzeitig geheimnisvoll und freudig. Wenn sie eine Katze wäre, würde jetzt Sahne an ihren Barthaaren kleben, dachte Mikhail. »Du brauchst dir wegen der Kinder nicht den Kopf zu zerbrechen. Der Wächter wird sich bald um sie kümmern.«

»Der Wächter? ... Welcher Wächter, Domna?«

Mikhail war sich sicher, dass es mit der Séance zu tun hatte, an der er vor vier Jahren teilgenommen hatte und bei der Derik Elhalyn oder etwas, das sich als sein Geist ausgab, Priscilla etwas von einem »Wächter« erzählt hatte. Damals war es Mikhail schon nicht wohl bei der Sache gewesen, und nun ging es ihm nicht anders. »Was ist denn aus Ysaba geworden? Ist sie ebenfalls hier?« Er hatte die Frau nicht gemocht, aber sie hatte immerhin harmlos gewirkt.

In dem zugigen Foyer entstand ein Schweigen, das von Stiefeltritten unterbrochen wurde, die sich vom Salon her näherten. Mikhail beobachtete, wie Priscilla ihre Gefährtin ansah, und zwischen den beiden ging irgendetwas vor sich, etwas Dunkles und Schreckliches. »Sie ist nicht mehr hier«, sagte Priscilla sehr leise. Im gleichen Augenblick betrat Daryll die Eingangshalle.

»Wir haben die Pferde untergebracht und gefüttert, Dom Mikhail«, sagte der junge Gardist. Er deutete eine Verbeugung vor den beiden Frauen an und runzelte die Stirn beim Anblick von Emeldas Gewand. Eine Leronis? Hier?

Mikhail schnappte den Gedanken auf, und dem Ruck nach zu urteilen, der durch Emelda ging, hatte sie ihn ebenfalls gelesen. »Sehr gut. Du solltest lieber noch etwas von dem Essen aus unseren Satteltaschen holen, der Koch ist nämlich der Meinung, dass es nicht für alle reicht.« Er war sehr froh über Darylls Anwesenheit, wegen der geschulten Wachsamkeit des Gardisten ebenso sehr wie wegen seines gesunden Menschenverstands. Nach nur zehn Minuten mit den beiden Frauen schwirrte ihm bereits der Kopf.

»Ihr könnt nicht erwarten, dass wir auch noch Eure Männer verpflegen!« sagte Emelda mit schriller Stimme. »Das ist unannehmbar. Ich werde es nicht erlauben!«

»Schweig! Wenn du nur noch ein Wort sagst, stopf ich dir einen Lumpen in den Mund. Du bist hier nicht die Herrin!«

»Aber sie spricht in meinem Namen«, murmelte Priscilla und sah sehr verwirrt und besorgt aus.

»Dann seid Ihr eine noch größere Närrin, als ich dachte«, antwortete Mikhail, der inzwischen nicht einmal mehr vorgab, höflich zu sein.

Emelda machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte aus dem Raum, das rote Gewand flatterte ihr um die Knöchel. Priscilla folgte ihr, sie rief der Frau ängstlich nach und bat sie um Vergebung.

»Was war denn hier los?« Daryll war neugierig, seine Augen leuchteten vor Interesse.

»Wenn ich das nur wüsste.«

»Wer war denn die Frau in dem roten Kleid?«

»Sie behauptet, sie sei Emelda Aldaran, und das könnte sogar stimmen, soviel ich weiß. Ich bin mir bisher nur in einer Sache sicher, nämlich, dass sie Priscilla in ihrer Gewalt hat, und ich weiß nicht recht, wie ich sie loswerden soll.« Er seufzte. »Höchstwahrscheinlich hat sie auch kein Recht auf das Gewand, das sie trägt.«

Bevor er fortfahren konnte, hörte Mikhail ein leises Knarren am Ende der Treppe. Er schaute nach oben, von wo ihn mehrere Augenpaare beobachteten. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er die Gesichter von Miralys und Valenta und ihrer Brüder Vincent und Emun. Sie sahen furchtbar aus – verängstigt und schlecht ernährt –, und Mikhail packte die Wut. Er hatte Kinder von Kleinbauern gesehen, die besser genährt waren!

Valenta glitt die Treppe hinab, wobei sie von Zeit zu Zeit über das Geländer spähte, als würde sie sich vor etwas fürchten. Miralys und die Knaben folgten ihr mit vorsichtigen Schritten. Sobald das jüngste Mädchen den unebenen Boden des Foyers erreicht hatte, stürzte sie auf Mikhail zu. Sie legte ihre Hand in die seine und sah mit einem so stummen Flehen zu ihm hinauf, dass er fast zu Tränen gerührt war. Sie kniete nieder und lehnte sich vertrauensvoll an sein Bein. »Ich habe gewusst, dass du wieder kommst«, flüsterte sie.

Die Schattenmatrix

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