Читать книгу Die Schattenmatrix - Marion Zimmer Bradley - Страница 7
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ОглавлениеEs war ein Jammer, dachte Margaret Alton, dass ihr dieser wunderschöne Tag von Kopfschmerzen verdorben wurde. Sie saß auf einer niedrigen Bank im Duftgarten von Arilinn und versuchte die schmerzlindernden Methoden anzuwenden, die sie in den vier Monaten im Turm gelernt hatte. Doch obwohl sie die Technik beherrschte, hämmerte der Schmerz hartnäckig weiter in ihrem Schädel.
Sie zuckte zusammen, als die Stiche noch heftiger zu werden schienen; sie hatte das Gefühl, als bohrte ihr jemand Stilette in die Stirn, direkt über den Augen. Sie spürte den Puls, der heiß durch ihre Adern pochte, bis ihr plötzlich klar wurde, dass es diesmal keine gewöhnlichen Kopfschmerzen waren.
Nein, befand Margaret, das hier war nicht zu vergleichen mit dem scheußlichen Gefühl, das sie überkam, wenn sie mal wieder zu lange im Turm gewesen war. Sie hätte nie gedacht, dass sie sich nicht in der Nähe großer Ansammlungen von Matrizen aufhalten konnte – obwohl schon der Anblick eines persönlichen Sternsteins ihr Übelkeit verursachte. Nichts und niemand hatte sie auf eine Umgebung wie den Turm von Arilinn vorbereitet – auf diese gewaltigen Energien, die hinter steinernen Wänden eingeschlossen waren. Und was noch schlimmer war: Die anderen hatten gar nicht begriffen, was ihr die großen Schirme antaten, bis sie schließlich ernsthaft krank wurde.
Ihre erste Erfahrung damit war sehr qualvoll gewesen, ein heftiger Schub der Schwellenkrankheit hatte sie niedergestreckt, fast so schrecklich wie der vom vorangegangenen Sommer auf Burg Ardais. Immer wenn sie das Gebäude ansah und an die ersten Nächte im Schlafsaal dachte, schauderte sie. Sie wusste, sie hätte sterben können.
Glücklicherweise war sie jedoch nicht gestorben, und das Problem ließ sich überraschend einfach lösen. Außerhalb des Turms und damit abseits der Energien der Matrizen klang die Krankheit sofort ab. Sie wohnte nun in einer kleinen Hütte außerhalb der Mauern, was sie sehr genoss, denn hier war sie das unaufhörliche Geschnatter und die offene Feindseligkeit ihrer Mitschüler ebenfalls los. Sie lebte zum ersten Mal allein, und das Gefühl der Abgeschiedenheit, des Ungestörtseins, linderte etwas in ihr, das sie bisher gar nicht als schmerzhaft empfunden hatte. Sie betrat den Turm jetzt nur noch zum Unterricht. Und der galt im Augenblick weniger dem Studium ihres eigenen Laran als vielmehr verschiedenen meditativen Techniken, durch die sie sich in der Nähe einer großen Anzahl von Matrixsteinen aufhalten konnte, wie sie in Arilinn oder in jedem anderen Turm untergebracht waren.
Der Turm war ganz anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Margaret hatte gedacht, es handle sich um ein einzelnes Gebäude, wie jene, die sie bei ihren beiden Besuchen in der Oberwelt vor ein paar Monaten kurz gesehen hatte. Stattdessen war Arilinn eine kleine, aber geschäftige Gemeinde mit dem Turm als Mittelpunkt. Dort lebten Weber, die Kleider speziell für die Insassen des Turms herstellten, Bauern, die Getreide anbauten, geschickte Kopisten, die in den Archiven arbeiteten und sich bemühten, die noch erhaltenen Schriften aus der Vergangenheit zu bewahren, und viele andere Handwerker.
Margaret fand schließlich heraus, dass es deshalb ein ganzes Leben dauern konnte, bis man die Matrixwissenschaften lernte, weil man immer nur sehr wenig auf einmal aufnehmen konnte. Es war nicht wie in Musik oder Geschichte, wo Studenten sich hinsetzten und ein Dutzend Texte lasen, an mehreren Seminaren teilnahmen und dann ein gewisses Fachwissen für sich in Anspruch nehmen konnten. Der alte Jeff Kerwin hatte sich inzwischen länger damit beschäftigt, als Margaret auf der Welt war, und selbst er lernte immer noch.
Das Haus, in dem sie wohnte, war erst wenige Jahre alt; ihr Onkel Jeff hatte die Anlage einst bauen lassen. Ihr Vater, Lew Alton, wohnte ebenfalls dort, wenn er zu einem seiner häufigen Besuche aus Thendara kam. Er wäre gerne für immer geblieben, um die Fortschritte von Diotimas Behandlung zu verfolgen, aber dem hatte Jeff einen Riegel vorgeschoben, weil er Lews Anwesenheit für störend hielt.
Dem war auch tatsächlich so, denn Lew neigte zu Zornesausbrüchen und Aufgeregtheit und verlangte stets nach Lösungen, obwohl noch niemand genau sagen konnte, welcher Art das Problem eigentlich war. Sie wussten nur, dass Dios Zellen aus irgendeinem Grund zerfielen – trotz aller Versuche, das Fortschreiten ihrer seltsamen Krankheit aufzuhalten.
Jetzt lag Diotima Ridenow in der Mitte des Raumes, in dessen Wänden riesige Kristalle leuchteten, und sie sah aus wie eine schlafende Märchenprinzessin. Margaret hatte es fertig gebracht, sie ein paar Mal zu besuchen, aber sie konnte die vielen Matrixsteine auf engstem Raum nicht lange ertragen. Sie hatte große Schuldgefühle deswegen und war unendlich wütend auf sich selbst. Sie wusste, dass sie sich das alles nur einredete, aber sie war im Innersten überzeugt, dass sie ihre tiefe Abneigung gegen die Matrizen durchaus überwinden und an Dios Seite sitzen könnte, wenn sie nur stark genug wäre.
Es hatte sie rasend gemacht, dass sie nichts für ihre geliebte Stiefmutter tun konnte. Sie war nun mal das Kind ihres Vaters und hatte wie er immerzu den gewaltigen Drang, aktiv zu sein, statt tatenlos zuzusehen. Nach mehreren frustrierten Wochen, in denen sie sich kaum dem Studium ihrer Gabe widmete, verfiel sie auf die Idee, ihre kostbare Aufnahmeausrüstung zweckzuentfremden, damit sie Dio Gesellschaft leisten konnte.
Mit Hilfe der beiden Aufnahmegeräte, die sie besaß – ihrem eigenen und dem von Ivor Davidson –, nahm sie alle Lieder auf, an die sie sich aus ihrer Kindheit auf Thetis erinnerte. Dazu die vielen Lieder, die sie seit ihrer Rückkehr nach Darkover neu oder wieder gelernt hatte, und alles, was ihr sonst noch so in den Sinn kam. Allein schon durch das Singen fühlte sie sich weniger hilflos. Sie wusste, sie war keine großartige Sängerin, nur eine sehr gründlich ausgebildete Musikerin. Margaret fehlte es an jenem gewissen Etwas, das den Künstler vom Liebhaber unterscheidet, aber ihre Stiefmutter würde sich wohl kaum daran stören.
Als sie eine Scheibe voll hatte – etwa sechsundzwanzig Stunden Gesang mit gelegentlichen Geschichten, die zur Musik passten –, hatte sie sich wieder in Dios Kammer gewagt, Ivors Abspielgerät aufgestellt und eingeschaltet. Margaret scherte sich keinen Deut darum, dass sie ein halbes Dutzend terranische Regeln über die Technologiebeschränkungen auf Planeten wie Darkover verletzte oder dass die Geräte eigentlich der Universität gehörten und sie diese eigentlich zurückgeben müsste. Sicher, sie hatte die Musikfakultät nicht darüber informiert, dass sie auf absehbare Zeit nicht an die Universität zurückkehren würde, und dort nahm man wahrscheinlich an, dass sie noch immer fleißig an dem Überblick über die darkovanische Musik arbeitete, wegen dem sie vor fünf Monaten wieder auf den Planeten gekommen war. Aber das waren alles nur Haarspaltereien. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie Darkover nicht mehr verlassen würde, und sie hatte gewiss nicht vor, ihre Arbeit der Fakultät zu übermitteln, damit hinterher irgendwer daran herumbasteln konnte.
Die Batterien, mit denen das Gerät lief, reichten etwa für sechs Monate Dauerbetrieb, und notfalls würde ihr der Bruder ihrer Mutter, Captain Rafe Scott, schon neue besorgen, falls sie welche brauchte. Er arbeitete im terranischen Hauptquartier in Thendara, und sie war überzeugt, dass er die Batterien beschaffen konnte. Margaret war klar, dass sie sich allein für solche Gedanken eigentlich verabscheuen müsste, aber sie tat es schließlich für Dio, und damit war es ihr wichtiger als alles andere.
Und so wurde die glitzernde Kammer rund um die Uhr mit Gesang erfüllt. Margaret wusste nicht, ob es wirklich half und ob Dio ihre Stimme, ihre Lieder überhaupt hörte, aber sie fühlte sich besser, wenn sie wusste, dass ihre Stiefmutter nicht völlig von jedem menschlichen Kontakt abgeschnitten war.
Manchmal kam Lew noch zu Margaret, nachdem er den ganzen Tag bei Dio verbracht hatte, er wirkte dann meist recht abgespannt, aber ruhig. Er sagte ihr mehrfach, dass ihre Lieder wunderschön seien und dass es ihm gut täte, ihre Stimme zu hören, selbst wenn es Dio nicht helfen sollte. Sogar einige der Techniker und Schüler in Arilinn, die sich normalerweise von Margaret fern hielten, hatten sie aufgesucht, um ihr zu sagen, dass sie oft ihrer Musik lauschten und sich neben Diotimas im Koma liegenden Körper setzten, wenn sie in die Kammer gingen, um die Frau zu überwachen. Dies war der freundlichste Kontakt, den Margaret je mit den Bewohnern im Turm hatte, und der einzige, der frei von Misstrauen und Abneigung war.
Sie war in der Erwartung hergekommen, eine Umgebung wie an der Universität vorzufinden, und hatte stattdessen feststellen müssen, dass Arilinn eine Brutstätte des Konkurrenzdenkens war. Wer einen hohen Grad an Laran besaß, neigte dazu, sich als Herr über diejenigen aufzuspielen, die einen niedrigeren hatten – einschließlich der beiden Töchter von Regis, die zur gleichen Zeit wie Margaret ihre Ausbildung begonnen hatten. Mehrere Frauen besaßen den Ehrgeiz, Bewahrerin zu werden, was nur verständlich war, denn außer zu heiraten oder eine Entsagende zu werden, konnte eine Frau auf Darkover nicht viel tun, wenn sie Einfluss ausüben wollte. Einige der Männer strebten dasselbe Ziel an, wenngleich männliche Bewahrer noch immer eine Seltenheit waren.
Der feindselige Empfang hatte Margaret gekränkt und verwirrt, und es hatte einige Zeit gedauert, bis sie begriff, dass sie genau das in reichem Maße hatte, wonach sich viele junge Menschen sehnten. Margaret wusste genau, sie wären entsetzt gewesen und hätten ihr sowieso nicht geglaubt, dass sie ihnen die Alton-Gabe und was sie von der Aldaran-Gabe der Voraussicht besaß, liebend gerne geschenkt hätte, wenn es nur möglich gewesen wäre. Sie hatte ihr Laran nie gewollt und wollte es noch immer nicht. Sie musste sich einfach damit abfinden, aber es bereitete ihr trotz geringer Fortschritte keine Freude.
Margaret rieb sich mit der rechten Hand die Stirn, um den Schmerz aus ihrem Kopf zu verscheuchen. Die linke Hand steckte in einem Handschuh aus mehreren Schichten gesponnener Seide und ruhte in ihrem Schoß. Unaufhörlich öffnete und schloss sie die Finger in dem Handschuh, spürte die Kraftlinien, die in ihre Haut geätzt waren, und versuchte nicht daran zu denken, wie sie zu ihnen gekommen war, als sie damals in der Oberwelt einen Schluss-Stein aus einem Spiegelturm gerissen hatte. In den Monaten, seit sie gegen die längst verstorbene Bewahrerin Ashara Alton um ihr Leben und ihre Seele gekämpft hatte, waren die schrecklichen Erinnerungen ein wenig verblasst, allerdings waren sie immer noch so lebendig, dass ihr angst und bange wurde, sobald sie daran dachte.
Der fingerlose Handschuh aus Seide half. Anfangs hatte sie jeden Handschuh verwendet, den sie zu fassen bekam, bis sie kurz vor Mittsommer in Thendara herausfand, dass ein seidener besser half als einer aus Leder. Allerdings nicht lange. Nach drei oder vier Tagen begann die Seide zu verfallen, als scheuerten die Linien auf ihrer Haut die Fasern durch.
Liriel Lanart-Hastur, ihre Base und vielleicht beste Freundin, hatte bald nach ihrer Ankunft in Arilinn vorgeschlagen, dass die Handschuhe vielleicht mehrere Lagen dick sein sollten. Keine von den beiden konnte mit Nadel und Faden besonders geschickt umgehen – sie waren sich einig, dass Handarbeiten unerträglich langweilig waren –, aber Liriel war hartnäckig geblieben. Sie hatte so lange herumexperimentiert, bis sie herausfand, dass genau vier Lagen Seide dem ständigen Energiefluss aus Margarets Schattenmatrix widerstanden. Ihre Bemühungen hatten ein unbeholfen zusammengeflicktes Etwas hervorgebracht, das unbequem zu tragen war, die Handfläche bedeckte und bis über das Handgelenk reichte, die Finger jedoch frei ließ.
Anschließend hatte Liriel einen Abdruck von Margarets Hand zusammen mit genauen Anweisungen an einen Handschuhmachermeister in Thendara geschickt. Zehn Tage später waren vier fingerlose Handschuhpaare eingetroffen. Die Nähte waren trotz der verschiedenen Lagen so fein gearbeitet, dass die Handschuhe durchaus angenehm zu tragen waren. Der Handschuhmacher schickte jetzt alle paar Wochen eine neue Lieferung und hatte irgendwann begonnen, Verzierungen anzubringen, so dass Margaret außer ihren glatten Handschuhen nun auch welche mit hübschen Stickereien an den Stulpen besaß, und sogar ein Paar, das am Handgelenk mit winzigen Perlen verziert war. Sie trug meistens beide Handschuhe, da sie so weniger auffiel als nur mit einem.
Der sanfte Wind drehte, kräuselte Margarets feines Haar und wehte es ihr in die pochende Stirn. Sie rutschte auf der Steinbank umher, die trotz des sonnigen Tages angenehm kühl war, und biss sich auf die Unterlippe. Dieser eigentümliche Schmerz kam ihr irgendwie bekannt vor, sie bekam ihn aber nicht ganz zu fassen.
Und dann wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie am Tag von Ivors plötzlichem Tod genau dieselben Kopfschmerzen gehabt hatte. Sie war mit der Aldaran-Gabe der Voraussicht wirklich gestraft, denn sie reichte gerade aus, um ihr vage Hinweise auf zukünftige Dinge zu liefern – allerdings nicht so viel, dass es ihr genützt hätte, sondern gerade genug, um sie zu erschrecken.
Margaret war übel. Ihr erster Gedanke galt Dio. Was, wenn sie aus dem künstlichen Tiefschlaf plötzlich erwacht war oder wenn er nicht ausreichte, um ihre Stiefmutter am Leben zu erhalten? Sie konnte den Gedanken nicht ertragen. Dio musste weiterleben und endlich wieder gesund werden.
Besorgt erhob Margaret sich von der Bank und machte sich auf den Weg zum Hauptgebäude von Arilinn. Aber nach drei Schritten blieb sie stehen. In ihrem jetzigen Zustand in die Tiefschlafkammer zu stürzen war mehr als dumm. Sie würde nur selber krank werden. Oder Dios Zustand verschlimmern.
Wo war Liriel? Ihre Base war die Technikerin im Turm von Tramontana gewesen, als Margaret nach Darkover kam, aber sie war nach Arilinn übergesiedelt, um in Margarets Nähe zu sein, wenn sie das anstrengende Studium der Matrixwissenschaften und der Alton-Gabe aufnahm. Margaret hatte gar nicht nach Arilinn gewollt, sondern wäre viel lieber nach Neskaya gegangen, wo Istvana Ridenow als Bewahrerin waltete. Sie wusste immer noch nicht recht, wieso sie sich überreden ließ, nach Arilinn zu kommen – ihr Verwandter Jeff Kerwin, auch bekannt als Lord Damon Ridenow, hatte ihr zugeredet, dass ihr ein paar Monate dort gut täten, und sie war so erschöpft gewesen von ihren Abenteuern, dass sie einfach zugestimmt hatte. Außerdem wurde Dio in Arilinn behandelt, und das hatte die Sache entschieden.
Bei ihrer Ankunft in Darkover hätte Margaret nie gedacht, auf wie viele Verwandte sie hier treffen würde. Nach all den Jahren, in denen sie das einzige Kind von Lew Alton war, hatte sie nun Vettern und Onkel im Überfluss – und die meisten von ihnen wohnten sogar entweder in Arilinn oder kamen häufig zu Besuch. Selbst Ariel, Liriels Zwillingsschwester, wohnte zusammen mit ihrem Mann Pedro, ihrem verwundeten Sohn Domenic und den vier anderen Söhnen dort. Sie hatte sich schon bald mit den Kindern angefreundet, vor allem mit dem kleinen Donal, den sie aus Versehen in die Oberwelt geschickt hatte. Er war ein sehr lebhafter Bengel, den es langweilte, bei seinen ängstlichen Eltern eingesperrt zu sein, und Margaret hatte ihm nach und nach die Grundbegriffe der terranischen Sprache beigebracht, wohl wissend, dass sie damit sowohl die Mutter des Jungen als auch ihre Tante verärgerte. Also war es ihr Geheimnis, und bislang hatte es Donal für sich behalten, was Margarets gute Meinung von ihm nur verstärkte. Donal behandelte sie nie wie jemand Außergewöhnliches, sondern schien sie für ihr Alter ganz interessant zu finden. Lady Javanne kam ebenfalls häufig vorbei, um Ariel zu besuchen, aber die meiste Zeit war sie in Thendara, wo sie ihre Intrigen spann und Regis Hastur von diesem und jenem zu überzeugen versuchte.
Liriel! Margaret hatte während ihrer Zeit in Arilinn gelernt, nicht im Geiste zu schreien – ein Problem, vor dem viele junge Telepathen standen. Dank der Alton-Gabe des erzwungenen Rapports besaß sie eine unglaubliche geistige Stimmkraft, und dass sie die Disziplin gefunden hatte, diese zu beherrschen, zählte bislang zu ihren wenigen Triumphen.
Ja, Marguerida.
Ich habe diese Kopfschmerzen, die ich immer bei bösen Vorahnungen bekomme. Ist mit Dio alles in Ordnung?
Ich habe erst vor einer halben Stunde nachgesehen, sie war wie immer. Ich bin noch geblieben, um mir dieses thetische Reiselied bis zum Schluss anzuhören – der Rhythmus ist fast hypnotisch.
Du hast nicht das ganze Lied gehört – nur den Teil, den ich kenne und den die Leute auf unserer Insel besaßen. Der Rhythmus ist der Rhythmus der Wellen, deshalb ist er zwangsläufig hypnotisch. Bist du sicher, dass es Dio gut geht?
Ganz sicher.
Dann stimmt irgendetwas anderes nicht – oder wird bald nicht mehr stimmen. Verdammt! Warum muss ich nur diese blöden unvollständigen Ahnungen haben? Man sollte meinen, man sieht entweder gar nichts oder einen eindeutigen, präzisen Hinweis, mit dem man etwas anfangen kann.
Das würde es sicher leichter machen, Marguerida. Aber wie so oft klafft zwischen Ideal und Wirklichkeit eine große Lücke. Wann hat es denn angefangen?
Ungefähr vor einer halben Stunde. Erst dachte ich, es ist der übliche Kopfschmerz von den Matrizen – dabei war ich heute Nachmittag nicht sehr viel im Turm. Ich habe am Vormittag mit Jeff gearbeitet, mein zweites Frühstück eingenommen und wollte gerade in die Schreibstube gehen, um nachzusehen, wie es mit diesen Aufzeichnungen vorangeht, die Haydn Lindir entdeckt hat, als – Peng! – diese Fleischspieße mein Gehirn attackierten. Also habe ich mich in den Duftgarten gesetzt, weil ich dachte, ich bräuchte nur ein wenig Sonne und Entspannung, aber es wurde immer schlimmer.
Verstehe. Im Augenblick kann ich aber nichts Verkehrtes entdecken.
Wahrscheinlich hat es gar nichts mit Arilinn zu tun. Vielleicht ist Mikhail von einer Klippe gestürzt und hat sich den Hals gebrochen.
Hör sofort auf damit! Solches Zeug lasse ich mir zwar von meiner Schwester gefallen, weil sie eine sehr lebhafte Fantasie und keinen Funken Selbstbeherrschung hat, aber von dir erwarte ich mehr!
Natürlich, Liriel! Margarets Antwort klang beinahe unterwürfig. Sie akzeptierte jede Kritik von Liriel, was sie sonst bei niemandem tat, nicht einmal bei ihrem Vater.
So ist es schon besser. Wenn meinem Bruder etwas zugestoßen wäre, würdest du es wissen, und es gäbe nicht die geringste Unsicherheit.
Du hast wahrscheinlich Recht. Wenn doch nur unsere Väter nicht solche dickköpfigen Idioten wären!
Wahrscheinlich könntest du dich leichter auf den Mond wünschen als das, Chiya. Die beiden sind schließlich Männer, und Männer müssen immer Recht haben, selbst wenn sie völlig falsch liegen. Am meisten tut mir Onkel Regis Leid, der irgendwie zwischen die beiden geraten ist, und auch die Mitglieder der Cortes, die sich ihren Streit ständig anhören müssen.
Meinst du, sie werden ihre Beziehung je wieder in Ordnung bringen, zumindest so weit, dass Dom Gabriel mir erlaubt ...
Wenn du die Domäne Alton an Vater abtreten würdest, sähe er vielleicht einen Weg, sich nicht länger wie ein Dummkopf zu benehmen, aber ich glaube, er genießt es geradezu, deinen Vater zu übervorteilen. Er denkt wahrscheinlich gar nicht an dich und Mikhail oder an irgendjemanden sonst, sondern nur noch an sich und seinen verletzten Stolz.
Ich würde es zwar sofort tun, nur wäre der alte Herr nicht sonderlich begeistert, und er ist mit der Sorge um Dio schon genug beschäftigt. Warum muss nur alles so kompliziert sein?
Wenn ich darauf eine Antwort wüsste, wäre ich die klügste Frau auf Darkover und verschiedenen anderen Planeten dazu. Hast du schon gegessen, Marguerida?
O ja. Ich kann immer noch nicht fassen, wie viel ich essen kann, ohne ein Gramm zuzunehmen. Ich weiß zwar genau, dass mein Laran von Körperenergie gespeist wird, aber es widerspricht dennoch allem, was ich über Diät weiß!
Ich gebe zu, dass ich dich ein bisschen um deine Figur beneide, Marguerida. Und mir ist aufgefallen, dass deine Schattenmatrix pausenlos strahlt. Das ist ein sehr interessantes Phänomen – aus technischer Sicht. Es ist allerdings auch der Grund, warum deine Handschuhe nach etwa zehn Tagen verschlissen sind.
Ich weiß, und ich wünschte, jemand hätte eine bessere Idee, damit ich nicht immer diese Dinger tragen muss. Ich komme mir sehr extravagant vor. Selbst wenn ich beide trage, damit die Aufmerksamkeit nicht auf die linke Hand gelenkt wird, fühle ich mich noch unsicher!
Ach, ich weiß nicht. Maeve Landyn hat neulich gesagt, deine Handschuhe seien ganz entzückend, vor allem seit Meister Esteban sie mit Stickereien verziert.
Ich komme mir vor wie ein Monster.
Ich weiß, Chiya, aber das solltest du nicht. Jetzt trink einen Tee oder etwas Ähnliches. Oder hol dir Dorilys aus dem Stall und reite ein wenig aus. Danach geht es dir doch immer besser.
Gut, aber ohne Mikhail wird es nicht dasselbe sein.
Liriel hatte Recht, Margaret brauchte dringend ein bisschen Bewegung. Und die kleine zinnfarbene Stute, die Mikhail ihr geschenkt hatte, um ihr den Aufenthalt in Arilinn ein wenig angenehmer zu machen, war eine wahre Freude. Sie hatte sich auf Anhieb in das Pferd verliebt, als sie es vor Monaten auf der Koppel in Armida gesehen hatte. Es war ein lebhaftes Fohlen gewesen, mit dunkler Mähne und dunklem Schwanz, fast silbrigen Hufen und einem Fell wie poliertes Metall.
Das Studium der Matrixwissenschaften war wirklich sehr anstrengend, und die Ausritte gaben ihr neue Kraft. Die frische Luft und die Sonne schafften es jedes Mal, ihre angeborene gute Laune wiederherzustellen, und Margaret wusste, dass sie sich in den letzten Tagen ziemlich vernachlässigt hatte.
Seit Mikhail nach dem für sie beide schwierigen Abschied nicht mehr da war, hatte sie ihr Pferd kaum noch gesehen. Sie wusste, dass die Stallburschen sich gut um Dorilys kümmerten, sie bewegten, striegelten und fütterten. Die kleine Stute erinnerte sie sehr an Mikhail, und sie war nicht mit ganzem Herzen bei der Sache, als sie zu den Ställen ging, nachdem sie ihren Reitrock angezogen und Lederhandschuhe über die seidenen gestreift hatte.
Die Kopfschmerzen hatten etwas nachgelassen, aber sie waren immer noch spürbar da, wie entfernter Donner, den man mehr fühlt als hört. Margaret gähnte, um ihren Kiefer zu entspannen, und betrat den schattigen Stall. Es roch nach sauberem Stroh, verspritztem Wasser und Mist – eine Mischung, die sie angenehm und irgendwie tröstlich fand. Einer der Pferdeburschen bemerkte sie und kam ihr mit einem breiten Grinsen entgegen.
»Domna! Dorilys wird sich aber freuen, Sie zu sehen. Sie sind nicht mehr so lange weggeblieben, seit Sie krank waren.«
»Sie sollten mich ausschimpfen, Martin, weil ich mein kleines Mädchen so vernachlässigt habe.«
»Wieso denn, Domna, das würde ich niemals tun. Ich habe hier nichts zu sagen, und Sie waren bestimmt fleißig bei Ihren Studien im Turm.«
Margaret gab es auf. Sie würde sich wahrscheinlich nie richtig wohl dabei fühlen, wenn man sich ihr unterwarf und sie behandelte, als wäre sie etwas Besonderes. Sie war zu viele Jahre Ivor Davidsons Assistentin gewesen und hatte sich um sein Gepäck und Reiserouten gekümmert, hatte mit kleinlichen Bürokraten und korrupten Zollbeamten verhandelt oder sich mit akademischer Rivalität und Eifersucht herumgeschlagen. Sie konnte sich nun mal nicht über Nacht in eine Comynara verwandeln. Egal, wie man sie behandelte, sie hatte immer noch das Gefühl, einfach nur Margaret Alton zu sein, ein Mitglied der Universität, und nicht Marguerida Alton, die Erbin einer darkovanischen Domäne, eine Adlige in beinahe jeder terranischen Hierarchie, die ihr einfiel.
Es war ein bisschen entmutigend, zu wissen, dass es ihr auch mit den besten Absichten der Welt wahrscheinlich nie gelingen würde, sich so zu benehmen, wie es ihrer Furcht erregenden Tante Javanne Lanart-Hastur und all den anderen Matronen ihrer Generation gefiel. Sie blieb zu unabhängig, zu eigensinnig, und es mangelte ihr entweder am Willen oder an der Fähigkeit, sich einem Mann zu unterwerfen, oder zumindest so zu tun, als sei sie dumm und schwach. In den engen Grenzen der darkovanischen Gesellschaft war sie eine Außenseiterin und würde wahrscheinlich auch immer eine bleiben, egal, wie sehr sie sich anstrengte.
Aber da sie ihren Charakter nun mal nicht ändern konnte, beschloss Margaret, das Beste aus allem zu machen, und wenn es nur ein netter Spazierritt an einem schönen Herbsttag war. Das Thermometer zeigte fast zehn Grad an, und der Wind blies nur als kühle Brise; er roch nach Laub, das zu Pottasche verbrannt wurde, und nach dem Brot aus den Bäckereien von Darkover.
Martin führte die gesattelte Dorilys, die aufgeregt tänzelte, über das Pflaster zum Tritt. Hinter ihm brachte ein zweiter Stalljunge ein weiteres Pferd, und Margaret begriff verblüfft, dass Martin sie begleiten wollte. Es würde ihr nichts nützen, wenn sie ihn bat, hier zu bleiben – sie war eine Frau, und Frauen, sofern sie keine Entsagenden waren, ritten nicht allein aus. Er würde ihren Wunsch nicht begreifen und, was noch schlimmer war, wäre sicherlich verletzt. Margaret wusste, dass sie oft zu feinfühlig war und dass Martin oder jeder andere Diener sie beeinflussen konnte, deshalb zuckte sie nur die Achseln, kletterte auf den Tritt und schwang sich in den Sattel.
Dorilys warf den Kopf zurück und bäumte sich kurz auf vor Freude, dass Margaret bei ihr war. Die kleine Stute ließ sich auch von den Stallburschen reiten, aber es gab keinen Zweifel daran, wer ihre bevorzugte Reiterin war. Sie tänzelte noch immer und konnte kaum erwarten, dass es losging. Margaret schlug die Zügel leicht gegen den weichen Hals des Pferdes und ritt aus dem Stallbereich. Martin folgte ihr.
Arilinn lag auf einer Ebene, die sich bis zum Fluss erstreckte, und das Gelände war überwiegend flach. Ein großer Teil war von Wald bedeckt – meist Bäume, die so ähnlich wie Ahorn, Ulme, Eberesche und andere Harthölzer aussahen, im Gegensatz zu den Nadelbäumen, die für die Landstriche weiter nördlich typisch waren. Aber es gab auch ausreichend freies Gelände, das sich gut für einen Ritt eignete.
Die Felder um die kleine Stadt beim Turm waren kahl, die Ernte war längst vorbei, doch die Bäume glühten in den Farben des Herbstes: Rot, Orange, Rostbraun und Gold. Ganz in der Nähe lag eine kleine Köhlersiedlung, und Margaret wusste, dass die Kohlenbrenner fleißig bei der Arbeit waren.
Sie hatte zu ihrer eigenen Überraschung herausgefunden, dass der ruhige Rhythmus des landwirtschaftlichen Jahres auf sie sehr besänftigend wirkte. Sie genoss es, der Gefangenschaft des Turms zu entfliehen, sich von der gewaltigen Energie zu entfernen, die dort herrschte, und über die Felder zu reiten. Oft hatte sie den Bauern dabei zugesehen, wie sie die Felder bestellten und später das Getreide einbrachten. Sie war auch bei der Mühle am Valeron gewesen, wo das Getreide zu Mehl gemahlen wurde. Ein Stück westlich der Mühle gab es ein Sägewerk und dahinter eine Färbersiedlung, in der man das Wasser des großen Flusses zur Arbeit benutzte.
Margaret ließ Dorilys in einen gemäßigten Trab fallen. Sie hätte die Stute nur zu gern losrennen lassen, aber dann hätte Martins Pferd nicht mithalten können. Margaret passte sich dem gleichmäßigen Rhythmus des Pferdes an, und langsam ließen die hartnäckigen Kopfschmerzen nach. Die rötliche Sonne wärmte ihr Gesicht; sie hatte sich inzwischen an die Kälte auf Darkover gewöhnt.
Nach etwa zwanzig Minuten erreichten sie das Ufer des Flusses. Er floss ruhig dahin, das Wasser gurgelte zwischen den Ufersteinen. Einige Binsen, die längst vertrocknet waren, raschelten im Wind und erzeugten ein angenehmes, beinahe melodiöses Geräusch.
Sie wandte den Kopf nach Westen, und ihr Herz floss beinahe über, als sie an Mikhail dachte, der irgendwo hinter dem Horizont vor ihr her ritt. Was sah er wohl gerade, und was dachte er? Margaret verlangsamte das Tempo, denn das Flussufer war uneben und nicht gerade der beste Untergrund für ein Pferd. Martin ritt schweigend hinter ihr her, der gleichmäßige Hufschlag seines Pferdes war ein beruhigender Ton in der Musik, die sie überall um sich herum fühlte. Für Margarets ausgebildete Ohren klang es wie eine gewaltige Symphonie, und zum ersten Mal fragte sie sich, warum diese Art von Musik auf Darkover wohl nicht existierte. Die Darkovaner sangen bei jeder Gelegenheit und noch dazu sehr gut, aber soweit Margaret feststellen konnte, hatten sie nie große Orchesterwerke geschaffen. Sie würde Meister Everard danach fragen, wenn sie wieder in Thendara war.
Der Gedanke an den alten Gildemeister ließ auch die Erinnerung an Ivor Davidson aufleben, ihren Freund und Mentor, der kurz nach ihrer Ankunft auf Darkover gestorben war. Sie vermisste ihn, aber die anfängliche Trauer hatte ein wenig nachgelassen, und sie konnte nun ohne großen Schmerz an ihn denken. Wäre Ivor nicht gestorben, sie wäre nie in den Kilghards gelandet, allein mit Rafaella n’ha Liriel, ihrer Führerin und Freundin, als der erste Anfall der Schwellenkrankheit sie überkam. Wie wäre Ivor wohl damit zurechtgekommen? Sie war in all den Jahren, in denen sie zusammen die Föderation bereisten und die Musik der Einheimischen dokumentierten und studierten, nie krank geworden – von gelegentlichen Erkältungen einmal abgesehen. Bei all ihren großartigen technischen Errungenschaften war es den Terranern nie gelungen, den gewöhnlichen Schnupfen zu besiegen, und Margaret glaubte auch nicht, dass es ihnen je gelingen würde.
Die Spannung in ihrem Körper ließ nach, während sie träge Bäume und fließendes Wasser betrachtete und ihre Gedanken ziellos wandern ließ. Liriels Vorschlag, ein wenig auszureiten, war wirklich eine gute Idee gewesen. Wie klug sie doch war. Margaret lächelte, wie so oft, wenn sie an ihre Base dachte. Liriel und ihr Bruder Mikhail entschädigten sie fast schon wieder dafür, dass sie auch den Rest des Alton-Clans ertragen musste – Tante Javanne und Onkel Gabriel, ihre älteren Söhne Gabriel junior und Rafael sowie Ariel, Liriels Zwillingsschwester. Fast. Ariel bereitete Margaret immer noch Krämpfe mit ihrer ständigen Hektik und Sorge. Die Frau war nun in der Mitte ihrer Schwangerschaft; sie erwartete ihr sechstes Kind, eine Tochter, die sie sich sehnlichst gewünscht hatte.
Margarets Lächeln schwand. Immer wenn sie an dieses ungeborene Kind dachte, überkam sie ein flaues Gefühl im Magen, eine schreckliche Ahnung von Gefahr. Mit dem Mädchen würde es einmal Schwierigkeiten geben. Wie furchtbar, so von einem Kind zu denken, das noch nicht einmal auf der Welt war! Es handelte sich mal wieder um eine dieser Vorahnungen, die Margaret ihre unausgeprägte Aldaran-Gabe der Voraussicht verfluchen ließ, und sie hoffte entgegen ihrer inneren Gewissheit, dass sie sich gänzlich irrte.
Zwischen zwei Atemzügen empfand Margaret plötzlich eine unglaubliche Kälte, einen stechenden Verlustschmerz. Sie riss erschrocken an den Zügeln, und Dorilys wieherte klagend. Sie blieb stehen, und Martin ritt mit besorgtem Gesichtsausdruck neben sie.
»Was ist, Domna?«
»Ich weiß es nicht. Es war, als hätte ein Schatten die Sonne gekreuzt. Wir sollten wohl besser zurückreiten.« Sie seufzte. Der Tag war so schön, und sie hatte ihn bis eben sehr genossen. Sie wollte nicht zurück nach Arilinn. Mehr als alles andere wollte sie nach Westen reiten, Mikhail folgen und sich einen Teufel um die Domäne und ihre Studien scheren. Dennoch wendete Margaret pflichtbewusst ihr Pferd, und sie ritten zurück in Richtung Turm, der gerade noch über den Bäumen zu sehen war.
Der Stall sah noch genauso aus, wie sie ihn verlassen hatten, alles schien in Ordnung zu sein. Margaret stieg ab, gab Martin die Zügel und tätschelte Dorilys flüchtig den Hals. »Ein andermal, meine Schöne. Ein andermal machen wir einen hübschen Spazierritt.« Das Pferd wieherte als Antwort und sah sie aus großen dunklen Augen an, als hätte es jedes Wort verstanden.
Margaret eilte zum Turm, ihr Herz klopfte heftig. Ihre Füße flogen nur so über den gepflasterten Gehweg, sie rannte an der Bäckerei vorbei und an der Schreibstube, in der sie ursprünglich den Nachmittag verbringen wollte. Sie blieb auch bei ihrem kleinen Haus nicht stehen, denn je näher sie dem Turm kam, desto größer wurde dieses unangenehme Gefühl in ihr.
Irgendetwas war geschehen, etwas Schlimmes, und in ihrer Fantasie begann sie sich alles Mögliche auszumalen. Dio war aus dem künstlichen Tiefschlaf erwacht, bei Ariel hatten vorzeitig die Wehen eingesetzt, oder Mikhail war ... Nein! Margaret verlangsamte ihr Tempo ein wenig und zwang sich, mit ihren aberwitzigen Theorien aufzuhören. Sie war Akademikerin und kein hysterisches Weibsbild, das bei jeder Gelegenheit aus der Haut fuhr! Sie war Tutorin an der Universität!
Liriel?
Ja, Marguerida. In der Antwort lagen eine unüberhörbare Traurigkeit und Zurückhaltung.
Was ist denn passiert?
Domenic ...
O nein! Margaret blieb abrupt auf dem Gehweg stehen. Sie fühlte förmlich, wie sie zu Eis erstarrte, zu Stein. Aber er war doch auf dem Wege der Besserung! Das stimmte allerdings nicht ganz. Ihr eigenes rasches Eingreifen hatte das Leben des Jungen unmittelbar nach dem Unfall gerettet, aber er hatte sich das Rückgrat gebrochen und würde nie wieder seine Arme und Beine bewegen können. Die Heiler hatten ihr Bestes getan – und Margaret wusste inzwischen, dass das Beste der darkovanischen Heiler in vielerlei Hinsicht ebenso gut war wie das, was die terranische Technologie zu bieten hatte – aber der Schaden war dennoch irreparabel. Wie?
Er ist erstickt. Es ging so schnell, dass niemand etwas tun konnte.
Margaret spürte, wie eine tiefe Wut in ihr hochstieg, und konnte sie nur mit großer Mühe zurückhalten. Arme Ariel! In einem terranischen Krankenhaus hätten sie dem Kind einen Beatmungsschlauch in den Hals gesteckt, immerhin stellte Erstickungstod die größte Gefahr bei einem Bruch des dritten Halswirbels dar. Margaret hatte das bis zu Domenics Unfall auch nicht gewusst, aber seitdem hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, möglichst viel über solche Verletzungen in Erfahrung zu bringen, um vielleicht doch den Todesfall, den sie vor Monaten in Armida vorhergesehen hatte, zu verhindern. Wenn Ariel doch nur nicht so eigensinnig darauf bestanden hätte, das Kind in Arilinn zu lassen!
Nun war es zu spät, und der Junge war tot. Margaret spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen, und die gewaltige Trauer um Ivor, die sie für überwunden gehalten hatte, kehrte mit voller Wucht zurück. Aber Ivor war alt gewesen, er hatte auf ein langes und erfülltes Leben zurückgeblickt. Domenic war ein neun Jahre altes Kind gewesen; sein Leben hatte kaum begonnen!
Trotz aller vernünftigen Argumente hatte Margaret immer noch das Gefühl, die Tragödie wäre vermeidbar gewesen, wenn sie nur überzeugender und hartnäckiger aufgetreten wäre. Hätte sie doch nur in Armida nicht diese Vorahnung gehabt oder es zumindest fertig gebracht, sie besser zu verbergen. Wenn Ariel nicht so hochgegangen und bei einsetzendem Sommersturm mit einem schwerfälligen Zweispänner losgefahren wäre. Wenn, wenn ... Hinterher war man immer schlauer.
Sie war sehr traurig, aber stärker noch waren ihre Schuldgefühle, als trüge sie die Verantwortung für den Tod des kleinen Jungen. Margaret kam sich vor wie eine Hexe. Ivor war bereits gestorben, und Dio lag auch im Sterben! Sie schüttelte sich und schimpfte sich eine entsetzliche Idiotin. Niemand konnte etwas dafür, aber sie wollte jemandem die Schuld geben, und die geeignetste Kandidatin war meist sie selbst. Es war nicht einmal Ariels Schuld. Margaret hegte allerdings den Verdacht, dass es ihrer Base nicht anders erging als ihr selbst und dass auch sie nach einem Sündenbock suchte.
Wie nimmt es Ariel auf?
Ganz gut, den Umständen entsprechend. Aber ich würde ihr nicht erlauben, dich jetzt zu sehen.
Nein, das hieße mein Glück herausfordern. Ich gehe jetzt erst einmal zurück in mein Haus.
Margaret machte auf dem schmalen Weg kehrt und ging zu dem kleinen Haus zurück, das seit vier Monaten ihr Zuhause war. Es war aus Stein gebaut und innen mit poliertem Holz verkleidet. Es gab fünf Zimmer, zwei Schlafräume, ein Wohnzimmer, Esszimmer und Küche. Es war gemütlich und kultiviert, was Margaret nach all den Jahren genoss, in denen sie zusammen mit Ivor häufig primitive Umstände ertragen musste.
Als sie das Haus betrat, hörte sie ihre Dienerin Katrin, eine freundliche Frau in den Fünfzigern, in der Küche hantieren und mit Töpfen und Pfannen klappern. Ein verführerischer Duft lag in der Luft – Rabbithorn-Eintopf, glaubte sie. Im Augenblick hatte Margaret zwar keinen Appetit, aber er würde sicher bald wiederkehren. Manchmal kam ihr das Bedürfnis nach einer Mahlzeit als die einzige Konstante in ihrem täglichen Leben vor.
Sie hatte die ganze Zeit über geweint, und jetzt war ihre Nase völlig verstopft. Sie fand ein großes, mit Blumen besticktes Taschentuch aus Leinen, wischte sich damit die Augen und schnäuzte sich. Dann setzte sie sich in einen gemütlichen Sessel neben dem kleinen Kamin im Wohnzimmer und überließ sich schweigend ihrer Trauer. Katrin sollte sie nicht hören und zu trösten versuchen. Sie wollte all dem Kummer freien Lauf lassen, der von ihrem schlanken Körper Besitz ergriff.
Das Licht im Zimmer begann zu schwinden, als die blutrote Sonne hinter den Horizont sank. Das Taschentuch war inzwischen ein durchnässter Stofflappen, aber Margaret hatte nicht die Kraft, aufzustehen und ein neues zu suchen. Ihre Augen brannten vom Weinen, und die Nase war gerötet vom wiederholten Schnäuzen. Um ihren Oberkörper spannte sich ein unsichtbarer Draht, der ihr in die Brüste schnitt, und der Pferdegeruch ihres Reitrocks löste einen Brechreiz in ihr aus.
Margaret wollte nicht mehr traurig sein und noch länger im Selbstmitleid versinken. Sie wollte an Ariel denken, an Piedro Alar, Ariels geduldigen und nachsichtigen Mann, oder an den kleinen Jungen, den sie vor seinem Unfall kaum gekannt hatte. Aber Ivor und Dio gingen ihr nicht aus dem Sinn.
Dann endlich versiegten die Tränen, und Margaret wurde langsam unruhig und kam sich nutzlos vor, weil sie hier in der zunehmenden Dämmerung saß. Sie wollte getröstet werden, doch es gab keinen Trost. Außer der Musik. Die starb nie, verreiste nie an ferne Orte und verkündete keine unerfreulichen Dinge. Oje, in was für einer schauerlichen Stimmung ich nur bin, dachte sie und fand durchaus einen gewissen Trost darin, sich elend zu fühlen. Mit großer Anstrengung stand sie auf, ging ins Schlafzimmer und holte ihre kleine Harfe aus der Ecke. Sie suchte vorsichtshalber auch noch ein neues Taschentuch.
Wieder im Wohnzimmer nahm sie die Stoffhülle von ihrem Instrument und stimmte es. Margaret wurde plötzlich bewusst, dass sie die Harfe seit Wochen nicht hervorgeholt hatte und dass sie unter dem Druck der Studien im Turm ihre Musik sträflich vernachlässigte. Sie hatte seit fast einem Monat keine Musik mehr für Dio aufgenommen! Nicht dass sich ihre schöne, schlafende Stiefmutter bald beschweren würde, aber falls Dio die Musik tatsächlich hören konnte, musste sie inzwischen genug davon haben.
Margaret machte sich mit ein paar simplen Tonleitern warm, stimmte das Instrument nach und spielte dann wahllos drauflos. Der Sturzbach von Tönen klang lieblich in ihren Ohren. Nach einigen Minuten griff sie eins ihrer Lieblingsstücke heraus, Montaines Dritte Etüde. Sie war ursprünglich für Klavier geschrieben, und Margaret hatte sie als Teil ihrer Diplomarbeit für Harfe adaptiert. Das Stück war vielschichtig genug, um ihre volle Aufmerksamkeit zu beanspruchen, aber auch so vertraut, dass es keine echte Herausforderung darstellte.
Dennoch versuchte sie nach zweimaligem Spielen einige Variationen, als würde die Übung es so erfordern. Völlig in ihr Spiel versunken nahm sie dennoch wahr, dass sie eins der Themen soeben auf eine bisher nie da gewesene Art auf den Kopf gestellt hatte. Genauso hatten sie im Haus von Ivor und Ida Davidson an den Abenden immer gespielt. Die beiden ließen immer einige Studenten in dem großen Haus gleich hinter der Musikschule wohnen. Sie dachte nicht oft an das Haus, denn damit war die Erinnerung an die Schlafsäle verbunden, wo sie ihr ziemlich unglückliches erstes Jahr an der Universität verbracht hatte. Das war, noch bevor Ivor sie in der Bibliothek singen hörte und ihr half, ihrem Leben einen Sinn und eine Richtung zu geben.
Beim Spielen schweiften Margarets Gedanken zu Ivors Begräbnis in Thendara ab. Viele Mitglieder der Musikergilde, die ihn zum Großteil nie kennen gelernt hatten, begleiteten damals seinen Sarg zum Friedhof und sangen ihre Lieder. Margaret hatte an jenem Tag ebenfalls gesungen, aber heute schien ihre Stimme versiegt zu sein, als ließe sich ihre Trauer nicht in Laute fassen. Ivor war alt gewesen und Domenic jung. Das war der Unterschied.
Ihre Finger glitt über die Saiten, und wie von allein ertönte das Klagelied, das sie damals für Ivor gesungen hatte. Es war ein großartiges Musikstück: achtundzwanzigstes Jahrhundert, Centauri. Ein trauriges Stück, aber mit einer Ahnung von Hoffnung, die Margarets Schmerz ein wenig linderte.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, hörte Margaret auf, das Klagelied zu spielen, und zupfte eine andere Melodie. Nach einigen Minuten bemerkte sie, dass sie das Stück gar nicht kannte, dass sie es beim Spielen erfand, während sie an den kleinen Jungen dachte, der zu früh aus dem Leben gerissen worden war, und an all die Dinge, die er nie erfahren würde. Es war ein überzeugendes Stück, ein Lied, das sie bewegte noch während sie es erschuf. Und es stammte von ihr, war nicht von jemand anderem geliehen! Ihr jahrelang geschulter Verstand verfolgte die Komposition kritisch und befand sie für gut. Margaret schuf nur selten eigene Stücke, und sie gestattete sich, ausnahmsweise kritiklos, ihre Freude an der Musik, die aus ihren Fingern floss. Das Lied erzählte vom Geräusch des Flusses, an dem sie vor ein paar Stunden entlanggeritten war, von den Binsen, die in der Brise wogten, vom Rufen eines Singvogels, den sie gehört hatte, ohne ihn richtig wahrzunehmen.
Margaret war so vertieft in die Musik, dass sie nicht hörte, wie die Haustür aufging, und sie bemerkte den Besucher erst, als sie zu spielen aufhörte und ein leises Räuspern hinter sich vernahm. Sie drehte sich abrupt um und sah Lew Alton im Eingang zum Wohnzimmer stehen. Er trug eine ziemlich abgewetzte Reituniform und hatte einen leichten Mantel über den Arm gehängt. Sein Silberhaar war zerzaust.
»Vater! Wie lange stehst du denn schon hier?« Sie forschte in seinem Gesicht und war plötzlich wieder angespannt; sie versuchte, seine Stimmung zu lesen, wie sie es als Kind immer getan hatte. Dann fiel ihr ein, dass dazu kein Anlass mehr bestand, da dieser Lew Alton ein völlig anderer Mensch war als damals. Er trank sich nicht mehr um den Verstand und wütete auch nicht mehr wie ein Tier. Aber Gewohnheiten streift man nicht einfach ab, und es fiel ihr schwer, diesem Mann, den sie eben erst kennen lernte, völlig zu trauen.
»Keine Ahnung. Ich war so verzaubert von deiner Musik, dass ich jegliches Zeitgefühl verloren habe. Was war das?« Lew lächelte zaghaft, und seine Augen leuchteten vor Interesse.
»Ich weiß es nicht – ich habe es gerade erfunden.«
»Hoffentlich vergisst du es nicht wieder, es war hervorragend.«
»Bestimmt nicht. Ich habe es beim Spielen gleich in Partitur gesetzt.«
»Das klingt so unglaublich einfach, wenn du es sagst.« Lew legte seinen Mantel ab. »Ich bin jedes Mal aufs Neue beeindruckt, dass du dir all diese Musik merken kannst, aber du hast mir nie erzählt, dass du auch komponierst.« Er setzte sich ihr gegenüber und forschte in ihrem noch immer tränennassen Gesicht.
»Ich komponiere nicht viel. Nicht wie Jheffy Chang oder Amethyst.«
»Wer?«
»Bekannte von der Universität. Jheffy hat die ganze Zeit über komponiert, er und Amethyst unterhielten eine Art Dauerwettstreit, als ich noch bei Ivor wohnte. Es war verrückt, weil sie es selbst überhaupt nicht bemerkten. Musik, neue Musik, schien einfach ständig aus ihnen herauszufließen. Ich habe diese Fähigkeit nie besessen, und das war auch gut so, denn sonst wäre ich niemals Ivors Assistentin geworden.«
»Wieso denn nicht?«
»Vater, man verlangt von einem Rennpferd doch auch nicht, dass es einen Pflug zieht, oder? Und von einem Ackergaul nicht, dass er ein Rennen läuft.«
»Bezeichnest du dich etwa selbst als Ackergaul, meine Tochter?« Er klang ernst, aber auch ein wenig spielerisch.
»Was die Musik betrifft, schon. Ich bin zwar gut genug, um andere nachzuahmen oder zu interpretieren, aber ich bin nicht besonders originell oder kreativ. Jedenfalls war ich es nicht, solange ich an der Universität studiert habe. Und ich bereue es kein bisschen, denn es erfordert eine ganze Menge, ein guter Komponist zu sein. Jheffy war eine Art Wunderkind und sehr eitel dazu, außerdem hatte er die Umgangsformen eines Murmeltiers. Am war da schon besser, sie stammte aus einer alten Musikerfamilie, die sie nicht so verdorben hatte, wie es bei Jheffy der Fall war. Nicht, dass sie ein angenehmer Mensch gewesen wäre – keine Spur –, aber sie musste wenigstens nicht pausenlos beweisen, dass sie die Beste war.«
»Es tut mir Leid, dass ich wegen meiner Arbeit im Senat der Föderation nicht genauer verfolgen konnte, was du dort alles gelernt hast, Chiya. Das klingt alles viel interessanter, als ich je gedacht hätte. Ich habe überhaupt das Gefühl, dass ich so viel von deinem Leben versäumt habe. Ich war nicht da, als du zum ersten Mal verliebt warst oder ...«
»Aber du warst doch dabei, Vater! Mikhail ist meine erste große Liebe. Und es wird nie eine andere geben, was auch geschieht.« Sie errötete. »Habe ich dir schon gesagt, dass ich mich sehr freue, dich zu sehen?«
»Nein, aber ich habe es an deiner Miene erkannt, als du mich bemerkt hast. Es tut unglaublich gut, diesen Blick in deinen Augen zu sehen. Ich verstehe gar nicht, wie ich so viele Jahre darauf verzichten konnte.«
»Wenn wir uns begegnet wären, während ich noch an der Universität war, hätten meine Augen sicher nicht geleuchtet, sondern zornig gefunkelt. Und wenn ich daran denke, wie unmöglich du damals auf Thetis warst, als du dich geweigert hast, mir etwas über meine Vergangenheit zu verraten, und gehofft hast, ich würde aus meiner geistigen Blockade herauswachsen, aus dem Schatten, den sie über mich geworfen hat – dann würde ich dich heute noch am liebsten ohrfeigen und beschimpfen.«
»Und das völlig zu Recht. Ich verdiene bestimmt jede Menge Ohrfeigen, und ich bin froh, dass du dich entschieden hast, auf diese Erfahrung zu verzichten.«
»Bist du hier, um Dio zu besuchen?«
»Natürlich. Aber bei meiner Ankunft habe ich vom Tod des kleinen Domenic erfahren und beschlossen, dass ein Besuch bei dir dringlicher ist. Ich muss allerdings gestehen, dass ich nicht erwartet habe, dich mit einer Harfe am Kamin anzutreffen.«
»Ich habe vorhin geweint und mich gefühlt, als wäre alles allein meine Schuld. Aber dann ist mir eingefallen, was Tante Javanne einmal über dich gesagt hat: dass du dich immer für den Urheber von allem gehalten hättest, was schief ging, und dass ich dir in dieser Beziehung sehr ähnlich sei – zu empfindsam, zu meinem eigenen Nachteil oder so ähnlich. Deshalb habe ich mich der Musik zugewandt.«
Thyra war in Bezug auf Musik genauso. Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals eine positive Erinnerung mit ihr verbinden würde. Er runzelte die Stirn und sah Margaret an. »Wieso?«
»Weil ich der Musik immer trauen konnte. Sie wird nie wütend auf dich, läuft nie weg oder stirbt. Sie ist klar und einfach. Vielleicht verhält es sich anders, wenn man Komponist ist. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hatte Jheffy schon manchmal etwas leicht Verzweifeltes an sich, als fürchtete er sich davor, eines Morgens aufzuwachen und festzustellen, dass die Musik mit einem anderen Komponisten nach Aldebaran abgereist ist. Aber wenn man Musik nur nachspielt, ist sie sehr zuverlässig und vertrauenswürdig. Und natürlich tröstend. Ich kann viele Dinge durch Musik ausdrücken, die ich mit Worten niemals sagen könnte.«
»Ich verstehe. An dieser Geschichte mit der Musik ist viel mehr dran, als ich gedacht hätte.« Er nickte, dann lächelte er schwach. »Wie geht es dir?«
»Ich bin traurig, aber auch ein bisschen wütend.«
»Wütend?«
»Domenic hätte nicht sterben müssen. Ich meine, wenn er in einem terranischen Krankenhaus gelegen hätte, wäre er nicht erstickt. Ich habe inzwischen sehr viel Achtung vor den Matrixwissenschaften, aber ich glaube nach wie vor, dass man sich nicht ausschließlich auf sie verlassen sollte. Das ist genauso dumm wie die Überzeugung, dass die Technologie die Antwort auf alle Fragen ist. Es muss doch ein Kompromiss möglich sein, eine gemeinsame Basis, allerdings kommt es mir so vor, als hätte sie bisher noch niemand zu erarbeiten versucht.«
»Wenn du einmal die menschliche Geschichte betrachtest, wirst du wahrscheinlich feststellen, dass die Leute aus Gefühlsduselei so sehr daran festhalten, etwas auf die gewohnte Weise zu tun, dass sie sich den Änderungen selbst dort widersetzen, wo sie zu ihrem Besten wären.«
»Ich weiß, aber es gefällt mir trotzdem nicht.«
»Natürlich nicht. Und du hast Recht, Domenic könnte vielleicht noch leben. Aber die Heiler waren nicht in der Lage, ihn wieder völlig gesund zu machen, so dass er für den Rest seines Lebens auf fremde Hilfe angewiesen gewesen wäre. Selbst die terranische Nanotechnik hätte die Sache wahrscheinlich nicht rückgängig machen können. Ich bin mir nicht sicher, aber die Angelegenheit liegt jetzt sowieso nicht mehr in unseren Händen.«
»Ich weiß, aber deswegen ist die Sache nicht leichter zu akzeptieren. Außerdem mache ich mir große Sorgen um Ariel, obwohl ich sie nicht mag. Bis zur Geburt sind es noch ein paar Monate, und nach allem, was ich hier in Arilinn gelernt habe, wirkt ihr Schmerz auf die Psyche ihrer Tochter sehr wahrscheinlich verheerend.« Ist das vielleicht der Grund, dass Alanna Alar in meiner Vision so zornig war? Vielleicht ist es meine Schuld, weil ich vorausgesehen habe, dass Domenic das Erwachsenenalter nicht erreichen wird, und dann wurde er verletzt, als sich die Kutsche überschlug und ...
»Marguerida – du kannst weder die Vergangenheit ändern, noch kannst du die Zukunft verhindern.«
»Nein, aber ich wünsche, ich könnte es.« Sie legte die Harfe weg und zupfte nervös an ihrem Reitrock. Nach einer Minute des Schweigens sagte sie heiser: »Ich bin so ungern hier.«
»Meinst du in Arilinn? Oder auf Darkover?«
»Arilinn. Es gefällt mir sehr auf Darkover, obwohl ich manche Bräuche hier recht sinnlos finde. Ich war vorhin reiten, und nur, weil ich eine Frau bin, musste einer der Stallburschen mitkommen, was bedeutete, dass ich nicht wie von Sinnen über die Felder galoppieren konnte, und dabei hätte ich genau darauf Lust gehabt. Ich fühle mich hier einfach nicht wohl, trotz der Bemühungen von Jeff und Liriel und einigen anderen, mir das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Ich kann nicht in einem Turmkreis sitzen, weil es mir immer noch unmöglich ist, mich in einem Raum mit vielen Matrizen aufzuhalten. Ein paar Studenten halten mich sicher schon für eine Art Monster. Sie starren auf das hier« – sie hob die linke Hand – »und versuchen durch die Seide zu sehen. Sie arbeiten nicht gern mit mir zusammen, und Berana, eine der älteren Heilerinnen, hat sich sogar rundheraus geweigert, irgendetwas mit mir zu tun zu haben. Das Wort ›Abscheu‹ treibt über ihren Geist wie ein Ölfleck. Sie gibt mir immerzu das Gefühl, als wäre ich irgendwie schmutzig.«
»Ich verstehe. Warum hast du nicht schon früher etwas gesagt?«
»Solange Mikhail hier war, ist es mir nicht so schlimm vorgekommen. Es war zwar nicht gut, aber ich konnte mich darauf freuen, mit ihm auszureiten, mit ihm zu reden ... Und ich wollte nicht ständig jammern und mich beschweren. Ich dachte immer, es würde leichter, je mehr ich lerne, aber stattdessen wurde es jeden Tag schwerer. Meine Empfindlichkeit gegen die Kristalle hat eher zugenommen. Ich muss einen großen Teil meiner Energie darauf verwenden, mich zusammenzureißen, weil ich die verdammten Dinger am liebsten in tausend Stücke sprengen würde.«
»Darüber würde ich mir keine Sorgen machen«, antwortete Lew ruhig. Gleichzeitig rutschte er unruhig auf seinem Stuhl umher.
»Ach nein?«, fauchte sie. »Ich schon, schließlich habe ich eine gewisse Vorstellung davon, wozu ich in der Lage bin. Das Ding hier« – sie schüttelte die Faust in Richtung ihres Vaters – »ist anders als jede Matrix, die es bisher gab, denn es stammt nicht aus der stofflichen Welt. Ich habe mit Jeff darüber geredet und mit Hiram d’Asturien, der mehr über die Geschichte der Matrixwissenschaften weiß als irgendwer sonst, weil ich herausfinden wollte, was mit mir los ist. Was ich hier habe, Vater, ist ein Stück der Oberwelt, das in meine Haut gemeißelt ist. Und nicht nur das, es war früher der Schluss-Stein des Hauptturms von Ashara Alton, der mächtigsten Leronis, die je gelebt hat, selbst wenn man die normale Übertreibung berücksichtigt, mit der historische Gestalten zwangsläufig beschrieben werden. Wenn ich die Beherrschung verlöre, könnte ich Arilinn vermutlich vom Angesicht der Welt schießen. Es würde mich nicht einmal überraschen, wenn genau das vor Jahrhunderten in Hali passiert wäre.«
»Ich sehe, du hast viel über die Sache nachgedacht, Chiya. Und ich muss sagen, du hast große Geduld und Ausdauer bewiesen. Sehr viel mehr als ich in deinem Alter.« Er seufzte.
»Mag sein«, sagte sie zögernd. Dann holte sie tief Luft und legte los, fest entschlossen, ihm alles zu sagen, was sie loswerden musste, solange sie noch den Mut dazu hatte. »Vater, ich weiß nicht, ob ich noch lange hier bleiben kann. Javanne wird bald auftauchen und mich mit Blicken durchbohren, nur weil ich existiere, und Ariel bekommt wahrscheinlich einen hysterischen Anfall, wenn sie mich nur von weitem sieht, weil sie mir immer noch die Schuld an Domenics Unfall gibt. Ich halte das alles nicht mehr aus. Ich habe die ganze Zeit über das Gefühl, als wäre meine Brust voller Glassplitter. Vor ein paar Monaten dachte ich noch, ich wäre nach Hause gekommen, aber inzwischen zweifle ich ernsthaft daran. Ich fühle mich in Arilinn ebenso fremd wie früher, bevor ich nach Darkover kam.«
»Du hättest Schauspielerin werden sollen, Marguerida. Ich hätte nie vermutet, dass du hier so unglücklich bist.«
»Aber es lässt sich nun mal nicht ändern, nachdem ich wirklich keine wilde Telepathin sein möchte. Offen gestanden möchte ich überhaupt keine Telepathin sein. Ich würde sogar alles geben, wenn ich die Vergangenheit nur ungeschehen machen könnte. Na ja, vielleicht nicht alles. Mikhail würde ich nicht aufgeben und dich auch nicht. Aber das reicht nicht. Ich brauche dringend ein wenig Ruhe und Frieden.«
»Du wolltest doch nach Neskaya gehen und bei Istvana Ridenow studieren, bevor man dich überredet hat, nach Arilinn zu kommen. Willst du das denn immer noch?«
»Wenn ich mich schon in einem Turm aufhalten muss, dann lieber bei Istvana als bei irgendwem sonst. Sie gibt mir wenigstens nicht das Gefühl, als wäre ich eine Gestalt mit zwei Köpfen und einem Schwanz!«
»Gut. Ich denke, das lässt sich arrangieren. Es ist das Mindeste, was ich für dich tun kann.«
Margaret starrte Lew an, zu überrascht, um sofort antworten zu können. Ihr Herz machte einen Freudensprung. Doch dann bekam sie plötzlich Angst, dass sie enttäuscht werden könnte. So einfach war die Sache bestimmt nicht! »Kannst du das denn wirklich?«
Lew sah sie feierlich, doch mit einem leichten Augenzwinkern an. »Ich bin nicht ganz ohne Einfluss.«
Margaret lachte, und dann musste sie wieder weinen. Die Schluchzer entrangen sich ihrer Brust, trotz ihrer heftigen Bemühungen, sie zu unterdrücken. Sie beugte sich vor, hielt sich den Bauch und schrie all ihre Trauer und ihren Verlust heraus. Das Geräusch war fürchterlich, und sie schämte sich sehr dafür, aber sie konnte nicht aufhören, und Lew unternahm keinen Versuch, es zu unterbinden. Stattdessen setzte er sich einfach hin und wartete, als verstünde er, wie wichtig die Tränen für sie waren.
Als sie endlich aufhören konnte, war es bereits völlig dunkel. Ihr Gesicht fühlte sich wund an. Sie wischte sich zum hundertsten Mal über die Wangen, schnäuzte sich die Nase und lehnte sich erschöpft in ihrem Sessel zurück. Zu ihrem eigenen Entsetzen hatte sie großen Hunger. Der Geruch nach Abendessen wehte in den Raum, und Katrin erschien im Eingang, einen weißen Mehlpunkt auf der kurzen Nase. Sie sah Lew an, grinste nur und sagte: »Ich decke lieber für zwei.«
Margaret lachte leise. »Eins muss man Darkover lassen – die Mahlzeiten kommen immer pünktlich und häufig.«
»Allerdings. Und jetzt geh und wasch dir das Gesicht.« Er lächelte plötzlich. »Das habe ich auf Thetis immer zu dir gesagt, stimmt’s? Dein Gesicht war einfach immer schmutzig.«
»Ja, Vater, das hast du immer gesagt. Und mein Gesicht war tatsächlich immer schmutzig. Ich danke dir.«
»Wofür?«
»Einfach nur so.« Und dann zog sie sich rasch zurück, denn die Tränen drohten ihr erneut in die Augen zu treten. Sie konnte nicht mit Worten ausdrücken, was ihr Herz zum Überlaufen brachte: die Liebe zu diesem Mann, ihrem Vater, den sie so spät entdeckt hatte. Sie hoffte, es würde noch genug Zeit sein, all dies zu sagen, allerdings nicht mit schmutzigem Gesicht und leerem Magen. Es würde warten müssen.