Читать книгу Die Schattenmatrix - Marion Zimmer Bradley - Страница 4

Prolog

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Erzähl mir doch noch mal, wieso wir hierher gekommen sind, um Priscilla Elhalyn zu besuchen«, brummte Dyan Ardais, als er vor Mikhail die Treppe hinabstieg. »Und wieso wir uns auf diese Sache eingelassen haben.«

Mikhail Lanart-Hastur betrachtete seinen Begleiter im flackernden Licht der Laternen, die dunklen Haare und den hellen Teint, und setzte zu einer Antwort an. In diesem Augenblick erleuchtete ein Blitz den abgenutzten Teppich unter seinen Füßen, und ein Donnerschlag ließ die Wände von Burg Elhalyn erbeben. Regen prasselte gegen die Fensterscheiben.

»Wir waren damals eben ein bisschen betrunken«, sagte er schließlich, als der Lärm verebbte. »Außerdem waren da die vielen Mädchen in Thendara, die sich für uns hübsch gemacht hatten.«

»Schön, aber jetzt sind wir nicht betrunken, und eine Séance entspricht nicht gerade meiner Vorstellung von einem lustigen Abend!«

»Woher willst du das denn wissen? Auf wie vielen Séancen warst du denn schon?«

»Auf keiner! Ich finde es abartig, mit toten Leuten zu reden oder es zu versuchen.«

Mikhail lachte leise. Dyan Ardais junior, dessen Friedensmann er war, war ein ziemlich nervöser Achtzehnjähriger. »Was ist denn los? Hast du etwa Angst, dass Priscillas Medium deinen Vater heraufbeschwört?«

»Bei den Göttern! Daran hatte ich nicht einmal gedacht! Ich habe ihn nicht gekannt, solange er lebte, und jetzt will ich seine Bekanntschaft auch nicht mehr machen!«

Mikhail hatte bereits mehrere Tage Zeit gehabt, die spontane Eingebung zu bereuen, die sie zu dem allmählich verfallenden Steinhaufen namens Burg Elhalyn geführt hatte. Er wusste, er war schon zu alt für solche Dinge, und er war für Dyan verantwortlich. Wenn sie sich nur nicht so gelangweilt hätten. Sie waren einfach reif gewesen für ein wenig Unfug, und jetzt ließ sich die Sache nicht mehr rückgängig machen. Sie waren die Gäste von Priscilla Elhalyn, der Schwester von Derik Elhalyn, dem letzten König von Darkover, und sie konnten schwerlich einfach ihre Pferde besteigen und in den Sturm davonreiten.

»Höchstwahrscheinlich wird es ein totaler Reinfall, Dyan, und sie werden den Geist von Derik Elhalyn nicht aus der Oberwelt herüberlocken können. Und auch nicht Priscillas Vater oder meine Großmutter Alanna Elhalyn. Obwohl ich nichts dagegen hätte, sie mal zu sehen. Sie ist lange tot, und ich war schon immer neugierig auf sie. Ich wette, wir können nicht einmal eine gute Geschichte erzählen, wenn wir zurückkommen.«

»Das wäre mir ganz recht.« Dyan klang nicht mehr so gereizt; Mikhails gute Laune hatte ihn besänftigt. »Bis jetzt war es eine ziemlich fade Zeit, wenn man mal von ihren Gefolgsleuten absieht, die wir neulich getroffen haben. Ich habe noch nie gehört, dass jemand einen Knochendeuter und ein Medium bei sich aufnimmt.«

»Die Elhalyns waren schon immer ziemlich exzentrisch.«

»Damit willst du wohl sagen, dass Priscilla fast genauso verrückt ist wie ihr wahnsinniger Bruder. Dieser Burl ist mir jedenfalls unheimlich, und ich bin mir sicher, wir haben es ihm zu verdanken, dass wir bei dieser Geisteranrufung mitmachen müssen.«

Mikhail lachte erneut, aber er teilte Dyans Ansicht über den Knochendeuter. Leute wie ihn traf man auf dem Marktplatz jeder darkovanischen Stadt an, allerdings begegnete man ihnen normalerweise nicht im Hause einer Comynara. Andererseits wusste Mikhail, dass es ein absolut menschliches Verlangen war, in die Zukunft sehen zu wollen, und wahrscheinlich verfügte dieser Burl lediglich über ein geringes Talent, ein Laran, nicht unähnlich der Aldaran-Gabe des Hellsehens.

Ysaba, die andere Vertraute Priscillas, war seiner Meinung nach die seltsamere von den beiden. Knochendeuter und andere Wahrsager hatte Mikhail schon früher gesehen, aber ein echtes Medium zu treffen war für ihn eine neue Erfahrung. Er spürte, dass sie Laran besaß, aber keines, dem er bisher begegnet war; vermutlich war die Frau nie in einem Turm ausgebildet worden. Er hätte sie nur zu gerne danach gefragt, aber das wäre sehr unhöflich gewesen.

Die beiden jungen Männer schritten durch einen staubigen Korridor und wurden von Duncan MacLeod in Empfang genommen, der für die Ställe verantwortlich war, aber auch als Coridom Dienst tat. Er war ein grauhaariger Mann mit wettergegerbtem Gesicht und misstrauischen Augen. Immerhin befanden sich die Ställe in gutem Zustand – in einem besseren als die Burg, die unter Priscillas nachlässiger Verwaltung dem Verfall preisgegeben war. Priscillas Personal war schon alt und nicht sehr zahlreich. Es gab weder junge Dienstmädchen, die die Zimmer in Ordnung gehalten hätten, noch Burschen, die lernten, wie man die Stallungen verwaltete, was Mikhail ebenfalls verwunderte. Burg Elhalyn war auf eine entmutigende Weise beinahe menschenleer.

Dies war wirklich der sonderbarste Haushalt, den Mikhail je gesehen hatte. Abgesehen von ihren Kindern und den wenigen Dienern hatte Priscilla seit den Tagen der Sharra-Rebellion und den tragischen Ereignissen, die so viele Mitglieder der Comyn in den Tod oder Wahnsinn getrieben hatten, alleine in der Burg gewohnt. Sie schien völlig zufrieden mit ihrer Einsamkeit, ein wenig verwirrt bisweilen, aber nicht so offenkundig verrückt, wie es ihr Bruder gewesen war. Die Elhalyns waren häufig geistesgestört, wie Mikhail wusste.

Er hatte eine ganze Reihe Fragen, die er allerdings nicht stellen konnte, ohne unverschämt zu wirken; eine davon – sicher nicht die unerheblichste – war die nach der Vaterschaft von Priscillas fünf Kindern. Da waren der fast fünfzehnjährige Alain, Vincent mit dreizehn und Emun mit zehn, dazu zwei Töchter, Miralys und Valenta, schüchterne Mädchen von neun und acht Jahren. Priscilla hatte nie geheiratet, und ihre zahlreichen Liebhaber waren stets namenlos und unbekannt geblieben. Da die Frauen der Elhalyns den Status einer Comynara innehatten, war Priscilla in ihrer Wahl sehr frei, was den meisten Frauen nicht gestattet war, aber Mikhail fand die ganze Sache dennoch beunruhigend. Er hatte sich nie für prüde gehalten, und dennoch irritierte ihn dieser ungebührliche Lebensstil.

Duncan geleitete sie durch einen schmalen Gang, der den Haupttrakt der Burg mit dem engen Kerker verband, einem Überbleibsel aus einer sehr viel früheren Zeit Darkovers, als die Familien mit Landbesitz noch schreckliche Kriege gegeneinander geführt hatten. Es roch nach Moder, nach uralten Steinen und den Knochen unter der Erde, und Mikhail versuchte das bedrückende Gefühl abzuschütteln, das ihn überkam.

Schließlich öffnete Duncan eine wuchtig gezimmerte Tür, und ein kalter Windstoß fuhr herein. Genau in diesem Moment ertönte ein erneuter Donnerschlag, das Dach des Verbindungsgangs erzitterte und ließ einen feinen Regen aus Sägespänen und Verputz auf den Ärmel seiner Jacke rieseln. Dyan stieß einen angewiderten Laut aus und fuhr sich nervös mit den Fingern durchs Haar.

Sie folgten Duncan in einen runden Raum, der beinahe gemütlich gewirkt hätte, wenn es nicht so kalt gewesen wäre. Der kleine Kamin war zwar angezündet und duftete nach Balsamscheiten, reichte aber nicht aus, um den Raum zu erwärmen. Die Wände waren aus Stein, und sie waren feucht und kalt. Mikhail sah die zahlreichen Schimmelflecken, deren muffigen Geruch der angenehme Duft des Holzes kaum verdeckte. Auf einem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes standen ein paar knisternde Kerzen, die unheimliche Schatten auf die vermodernden Teppiche an den Wänden warfen.

Mikhail versuchte, sich den Raum in der Vergangenheit vorzustellen, mit den längst toten Elhalyns, die hier Zuflucht gesucht hatten, belagert von ihren Feinden. Aber der Raum war zu heruntergekommen, zu kalt und öde für romantische Vorstellungen. Er war ein Relikt aus einer anderen Zeit, und Mikhail war froh, dass sie lange vorüber war.

Priscilla und ihr Medium Ysaba betraten den Raum und unterbrachen seine Träumereien. Mikhail hatte die kleine Hausherrin noch nie so aufgeregt gesehen, ihre Augen leuchteten im flackernden Kerzenschein. Sie strahlte große Vorfreude aus; offenbar stand ein wundervolles Ereignis bevor. Ihr Haar war rotblond, und ihre Haut schimmerte in dieser Beleuchtung beinahe golden. Man konnte sie zwar nicht als Schönheit bezeichnen, aber sie wirkte durchaus anziehend in ihrem unverhüllten Eifer.

»Bitte setzt euch doch an den Tisch«, sagte sie mit einer einladenden Geste.

Mikhail rückte ihr galant einen Stuhl zurecht und sah, dass Dyan dem Medium die gleiche Gefälligkeit erwies, wobei ihm seine Unlust dabei deutlich anzusehen war. Die beiden nahmen die verbleibenden Plätze ein, und Mikhail fragte sich, wo der Knochendeuter Burl blieb.

Der Tisch war erst vor kurzem poliert worden, er glänzte in dem goldenen Licht, und seine Oberfläche duftete angenehm nach Bienenwachs. Mikhail wandte seine Aufmerksamkeit einer großen Quarzkugel in der Tischmitte zu. Sie schimmerte leicht blau, es war jedoch nicht das intensive Blau eines Matrixkristalls. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Duncan etwas in den Kamin warf; die Flamme loderte kurz auf. Ein schwerer, blumiger Geruch erfüllte den Raum, ähnlich dem Weihrauch, den seine Schwester Liriel immer benutzte, aber kräftiger und lange nicht so angenehm. Der Rauch brannte ihm in den Augen, und seine Finger wurden allmählich taub.

Ysaba blickte mit blassen, völlig ausdruckslosen Augen in die Kugel. Sie war keine sehr anziehende Frau und hatte den typischen hellen Teint der Trockenstädter, außerdem war Mikhail sich über ihr Alter im Unklaren. Es donnerte erneut, und für einen Augenblick blendete ihn der Blitz, der vor den hohen, schmalen Fenstern aufleuchtete. Der Wind fegte in Böen um den altertümlichen Kerker, und die Wände erzitterten unter dem Wüten des Sturms.

In der Kammer war es, abgesehen vom Knistern des Feuers und dem Heulen des Windes, sehr still. Mikhail spürte dicht über dem Boden einen Luftzug, der von der Tür hinter ihm kam, und wackelte mit den Zehen in seinen Stiefeln. Er hoffte, die Sache dauerte nicht zu lange. Das schäbige Zimmer, das er sich mit Dyan teilte, war zumindest warm, und er wollte so bald wie möglich dorthin zurück und sich ins Bett legen!

»Bitte fasst euch an den Händen«, unterbrach Priscilla seine Gedanken.

Dyan zuckte leicht zusammen, schob aber seine linke Hand widerstrebend in Mikhails rechte, anschließend streckte er die freie Hand aus, und Ysaba ergriff sie. Mikhail spürte, wie Priscilla mit ihren erstaunlich warmen und weichen Fingern seine linke Hand nahm und ihre andere in die des Mediums legte.

»Ihr dürft den Kreis nicht unterbrechen«, sagte das Medium ruhig.

Wieso habe ich mich von dir zu dieser Sache überreden lassen, Mik?

Wir konnten Priscillas Bitte schwerlich ablehnen, was?

Wenn einer von uns beiden auch nur ein wenig Rückgrat hätte, dann hätten wir es mit Sicherheit getan!

Mikhail spürte, wie sich der Jüngere vor Unbehagen beinahe krümmte. Ihm war zwar ebenfalls nicht ganz wohl bei der ganzen Geschichte, aber er teilte Dyans Empfindungen nicht, denn seine stets wache Neugier war nun voll entbrannt. Wenn das hier erst vorbei war, hatte er eine wunderbare Geschichte zu erzählen!

Man hörte ein Stöhnen, und nach einem kurzen Augenblick erkannte Mikhail, dass es diesmal nicht der Wind war, sondern das Medium. Das Geräusch klang sehr merkwürdig, und er vermochte kaum zu glauben, dass es einem menschlichen Körper entstammte. Der dichte, beißende Geruch aus dem Kamin schien intensiver zu werden, und er hatte das plötzliche Bedürfnis zu niesen. Er zog die Nase kraus, und es gelang ihm, den Reflex zu unterdrücken.

Die Kugel in der Mitte des Tisches verdunkelte sich, als wäre sie mit Rauch gefüllt. Langsam formte sich darin eine Gestalt, und Mikhail spürte, wie sich die Härchen in seinem Nacken vor Furcht aufstellten. Ein Teil seines Gehirns wusste genau, dass es sich um eine besondere Form von Laran handelte, aber in einem anderen Teil hausten noch immer die Gespenstergeschichten, die man ihm als Kind erzählt hatte.

Die Gestalt verdichtete sich, und etwas Blasses und Dünnes schien aus dem Quarz zu sickern. Das lange, gewundene, zähflüssige Gebilde schwebte einen Augenblick in der Luft und neigte sich dann zu dem Medium hinab. Mikhail hörte Dyan rau und geräuschvoll atmen und sah ihn an. Sein junger Begleiter hatte die Augen fest geschlossen, seine Hand bebte in Mikhails Griff. Trotz des qualmenden Weihrauchs nahm er deutlich den Geruch von Schweiß wahr – seines eigenen und Dyans. Als er seinem Freund aufmunternd – wie er hoffte – die Hand drückte, berührte das Gespenst Ysabas Brust.

Eine kurze Weile herrschte Schweigen, dann drang eine Stimme aus der Kehle des Mediums. »Wer sind diese Fremden?« Es war ein ziemlich zittriger Tenor, schrill und unangenehm.

Mikhail spürte, wie Dyans Hand in seinem Griff zuckte. Was soll das denn für ein Geist sein, der nicht einmal weiß, wer wir sind?

Derik – falls er es ist – hat uns nie kennen gelernt.

Ach so. Seine telepathische Stimme klang nur wenig überzeugt, und Mikhail gab ihr Recht, wollte aber erst einmal abwarten, was weiter geschah. Da er seine erste Furcht überwunden hatte, begann ihn die ganze Angelegenheit zu interessieren. Wie, fragte er sich, erzeugte Ysaba diese Stimme?

»Lieber Bruder, darf ich dir Dom Mikhail Hastur, den Sohn von Javanne Hastur und Enkel von Alanna Elhalyn, und Dom Dyan Ardais, den Sohn von Dyan-Gabriel Ardais vorstellen?« Priscilla klang wie eine perfekte Gastgeberin, nicht wie jemand, der zu einem Geist spricht, und Mikhail ertappte sich dabei, dass er ihre Ruhe bewunderte.

»Warum sind sie hier? Was wollen sie von mir?« Der weinerliche Tonfall in seinen Worten ging Mikhail auf die Nerven.

»Sie sind hier, um mich zu besuchen, was sehr nett von ihnen ist, da wir nur selten Gäste auf Burg Elhalyn haben. Ohne die Kinder und Ysaba und Burl wäre ich sehr einsam.«

»Sie sind Spione!«

»Unsinn! Das sind ganz normale junge Männer.« Priscilla wirkte weit munterer als in den letzten Tagen seit Mikhails Ankunft; sie schien den Streit mit ihrem toten Bruder zu genießen. »Sie haben mit den Kindern gespielt, sind über die Ländereien geritten und fühlen sich hier schon wie zu Hause.«

»Schick sie weg! Sie stören mich.«

»Ich habe meine Einsamkeit satt, Derik«, antwortete sie verdrießlich. »Es ist so angenehm, endlich mal jemanden zum Reden zu haben.«

»Schick sie weg! Sie wollen mich verletzen.«

»Derik – wie könnten sie dir wehtun?«

Während die beiden weiterstritten, warf Mikhail einen langen Blick auf Ysaba. Im flackernden Kerzenschein beobachtete er ihre Kehle, um zu sehen, ob sich ihre Muskeln bewegten, wenn Derik sprach, und er stellte fest, dass dies nicht der Fall war. Woher zum Teufel kam die Stimme dann? Lauschten sie tatsächlich einem Geist?

Auf einmal sah Mikhail, dass etwas über dem Kopf des Mediums in der Luft schwebte. Es war nur eine flüchtige Bewegung, wie von einer Rauchfahne, und er konnte undeutlich die Züge eines Mannes ausmachen. Im Raum wurde es plötzlich kälter, das flüchtige Etwas verdichtete sich und wurde undurchsichtig, so dass die Wand hinter Ysaba nicht mehr zu sehen war.

»Dyan Ardais war nie mein Freund«, sagte das Wesen. »Alle waren sie meine Feinde, Schwester, alle. Du bist mein einziger Freund. Und ich muss dir noch etwas sagen!« Seine Worte hatten etwas Verschwörerisches und verhießen sowohl ein Versprechen als auch Unheil.

»Aber Derik – du musst es mir erzählen! Ich warte seit Monaten darauf!«

»Es ist eine Verschwörung gegen mich im Gange. Nicht diese Männer ... aber andere. Und diese Jünglinge hier werden alles verraten ... dadurch wird alles zunichte gemacht! Sie werden versuchen, uns davon abzuhalten ...« Die Stimme verlor sich.

Priscilla dachte einen Moment über die Worte nach, wobei sie Mikhail und Dyan mit ihren grauen Augen musterte. Sie legte kurz die Stirn in Falten, entspannte sich aber rasch wieder und sagte: »Mikhail, versprich Derik, dass du niemandem von diesem Abend erzählen wirst.« Sie schien die Ängste ihres Bruders gewohnt zu sein und klang, als würde sie einem nörgelnden Kind mal wieder seinen Willen lassen. Gleichzeitig hatte ihre Stimme einen rauen Unterton, der sich für Mikhail sehr wenig geschwisterlich anhörte.

Mikhail zögerte. Er hatte es immer ernst genommen, wenn er sein Wort gab, und er wollte keinen Eid schwören, den er nicht halten konnte. Aber wem er auch von diesem Erlebnis erzählte, man würde ihn ohnehin für ebenso verrückt wie Derik halten. Außerdem wusste niemand, dass er und Dyan auf Burg Elhalyn weilten, es wäre also nicht sehr schwierig, die Sache geheim zu halten. Und er war so neugierig auf die Worte des Geistes, dass er alles versprochen hätte. »Ich schwöre, dass ich niemandem von diesem Abend erzählen werde.«

Neben ihm rutschte Dyan auf seinem Stuhl hin und her. »Auch ich schwöre, dass ich niemandem etwas sagen werde.« In seiner Stimme lag eine gewisse Heftigkeit, und Mikhail wusste, dass er meinte, was er sagte. Ich werde die Sache so schnell wie möglich vergessen!

»Siehst du?«, sagte Priscilla erfreut.

»Schwüre kann man brechen.«

»Aber warum sollten sie das denn tun? Sie wollen dir doch nichts Böses, mein lieber Bruder.«

Darauf folgte ein langes Schweigen, und die neblige Gestalt über dem Medium wirbelte durch die Luft und veränderte elegant ihre Form. Die Wirkung war verblüffend. Dann stürzte sich der Geist ohne Vorwarnung auf Mikhail und Dyan, wobei er lange Dunstbahnen hinter sich herzog. Mikhail spürte, wie ein Nebelschleier über seine Stirn strich, und schrak zurück. Sein Herz klopfte heftig. Neben ihm stieß Dyan einen Schreckensschrei aus und umklammerte Mikhails Hand so fest, dass er ihm fast die Finger brach.

Es dauerte nicht lange, und der Nebel verzog sich wieder, aber Mikhail musste feststellen, dass er nach Luft schnappte und trotz der Kälte schweißgebadet war. Unter dem Tisch schlotterten seine Knie.

»Sie scheinen ganz in Ordnung zu sein«, gab der Geist widerwillig zu.

»Aber natürlich sind sie in Ordnung. Es sind sehr nette Jungs.«

Trotz seines Entsetzens hätte Mikhail beinahe aufgelacht, weil Priscilla ihn einen netten Jungen nannte. Sie war vielleicht elf Jahre älter als er, aber sie benahm sich die meiste Zeit wie ein altes Weib. Er sog die Wangen ein, um das Lachen zu unterdrücken, das aus ihm herauszubrechen drohte. Er hatte immer schon dazu geneigt, aus Angst oder bei Gefahr zu lachen, und seine Mutter hatte einmal gesagt, er würde wahrscheinlich sogar lachend zum Galgen schreiten.

Langsam schwand seine Furcht und mit ihr der Drang zu lachen. Er schluckte trocken und sehnte sich nach einem Glas Wein. Wenn dieser Geist nichts weiter konnte, als ihn mit Nebel einzuhüllen, bestand wahrhaftig kein Grund zur Angst. Und es war ein Jammer, dass er sein Wort gegeben hatte, nichts zu erzählen – schade um die gute Geschichte.

Mikhail war so sehr in Gedanken versunken, dass er Deriks nächste Worte beinahe überhört hätte. »Der Wächter braucht dich. Es ist Zeit!«

»Endlich!« Priscilla sah begeistert aus. Ihr schmales Gesicht leuchtete vor Freude, und sie wirkte plötzlich wie ein junges Mädchen und nicht wie eine Mutter von fünf Kindern. Ihre Reaktion hatte jedoch auch etwas Unheilvolles, und Mikhail senkte rasch den Blick. Wächter? Was bedeutete das? »Bald sind wir wieder vereint, Bruder«, flüsterte sie, gerade laut genug, dass Mikhail sie verstehen konnte.

Trotz seiner gewaltigen Neugier beschloss er, dass er nicht mehr erfahren wollte, als er bereits wusste. Wieder vereint? Wollte Priscilla etwa sterben? Es hatte sich nicht so angehört. Er zuckte die Achseln, um seine Anspannung zu lösen und seine Verlegenheit zu vertreiben. Er war da in etwas hineingestolpert, das ihn nichts anging, und je eher er wieder aus der Sache herauskam, desto besser.

Die schimmernde Gestalt über dem Medium löste sich langsam auf, und die Kugel auf dem Tisch füllte sich wieder mit Nebel. Ysaba öffnete die Hände und ließ ihre Nachbarn los, dann sackte sie nach vorn auf die Tischplatte. Ihr Kopf schlug hörbar auf die polierte Oberfläche; Mikhail zuckte mitfühlend zusammen.

Duncan, der die ganze Zeit über im Halbschatten gestanden hatte, trat vor. Mit einem Glas Wein in der Hand richtete er die Frau auf und hielt ihr das Glas an die Lippen. Dann traf sein Blick den von Mikhail, und ein Ausdruck von Scham und Abscheu lag darin. Das Medium öffnete leicht den Mund und nahm ein wenig Wein zu sich. Das meiste lief ihr allerdings das Kinn hinab.

Mikhail sah aus den Augenwinkeln, wie sich Dyan die Hand, die Ysaba gehalten hatte, an der Hose abwischte. Sein jugendliches, vor Ekel verzerrtes Gesicht erzeugte in Mikhail Gewissensbisse. Er hätte seinen Freund nicht auf Burg Elhalyn mitnehmen sollen.

Mik, ich fühle mich schmutzig! Ich möchte so etwas nie wieder durchmachen! Lass uns beim ersten Morgenlicht aufbrechen – bitte! Es ist schrecklich hier!

Ich glaube, du hast Recht. Aber ich frage mich, wer oder was dieser Wächter ist.

Und wenn es Aldones persönlich ist – es ist mir egal. Ich will nur weg von hier!

Mikhail stimmte Dyans Empfindung schweigend zu.

Am folgenden Morgen ritten sie trotz des Regens zurück nach Thendara. Wie durch eine stillschweigende Vereinbarung sprachen sie weder auf dem Heimritt noch später je über das seltsame Ereignis. Aber von Zeit zu Zeit dachte Mikhail daran, und er fragte sich, ob sie tatsächlich den Geist von Derik Elhalyn gehört hatten und wer dieser Wächter sein könnte.

Die Schattenmatrix

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