Читать книгу Die Schattenmatrix - Marion Zimmer Bradley - Страница 6
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ОглавлениеMikhail Lanart-Hastur ritt am Ufer des Valeron entlang und genoss den schönen Herbsttag. Der sanfte Wind zerzauste sein goldenes Haar, und seine blauen Augen spiegelten die Farbe des Wassers wider. Die Luft war frisch, und die Bäume am Ufer trugen ein goldenes und rostbraunes Laubkleid, was ihn an ein gewisses durchdringendes Augenpaar erinnerte, das seiner Base Marguerida Alton gehörte. Aber natürlich erinnerte ihn beinahe alles an Marguerida, und es fiel ihm unglaublich schwer, nicht an sie zu denken und sich stattdessen auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren.
Er kehrte auf die Ländereien von Elhalyn zurück, die er vor vier Jahren kurz besucht hatte. Damals war er der Friedensmann von Dyan Ardais und der nominelle Erbe von Regis Hastur gewesen – woran sich freilich nichts geändert hatte. Inzwischen war er zum Regenten der Domäne Elhalyn ernannt und mit der Aufgabe betraut worden, die Söhne von Priscilla zu prüfen, damit entschieden werden konnte, ob einer von ihnen die psychische Stärke besaß, das größtenteils zeremonielle, aber dennoch wichtige Amt des Königs auszuüben.
Mikhail dachte an seine letzte Begegnung mit Priscilla, die mit einer Séance geendet hatte, und schüttelte leicht den Kopf. Er fragte sich, ob der Knochendeuter Burl und das Medium Ysaba noch immer ihre Gefährten waren. Er wusste, dass die Elhalyns die Burg kurz nach seinem und Dyans Besuch verlassen hatten und wieder nach Haus Halyn gezogen waren. Dorthin war er nun unterwegs, begleitet von den beiden Wachen Daryll und Mathias. Er hätte eigentlich mit einem größeren Gefolge reiten sollen – seine neue und ungewollte Stellung verlangte es. Aber Priscilla hatte ihn gebeten, allein zu kommen, und so begierig sein Onkel auch darauf war, das Königtum der Elhalyns wiederherzustellen – das kam nun doch nicht in Frage. Regis hatte ihm die beiden Wachen mitgegeben, und Mikhail war froh über ihre Gesellschaft.
Sooft Mikhail an die Sitzung in der Kristallkammer von Burg Comyn kurz vor Mittsommer dachte, sank ihm der Mut. Er war die Ereignisse wieder und wieder durchgegangen und hatte versucht, sie zu entwirren. Als Erstes hatte sein Onkel verkündet, dass er den Telepathischen Rat auflöste, der mehr als zwanzig Jahre an der Regierung Darkovers mitgewirkt hatte, und stattdessen den traditionellen Rat der Comyn wieder einsetzte. Dann hatte er Mikhail ohne Vorwarnung oder vorherige Absprache zum Regenten von Elhalyn ernannt, und sein Neffe hatte den Posten aus Pflichtgefühl angenommen. Mikhail hatte nicht die Zeit gehabt, darüber nachzudenken und die möglichen Vorzüge und Folgen abzuwägen. Es war ihm keine andere Wahl geblieben als anzunehmen.
Die unendliche Wut, die schon monatelang in ihm gärte, rumorte auch jetzt in seinem Bauch. Mikhail hatte bisher nie Grund gehabt, wütend auf seinen Onkel zu sein, und er hasste dieses Gefühl. Aber er konnte sich der Erkenntnis nicht erwehren, dass Regis ihn in eine Position manövriert hatte, die er selbst nicht ausüben wollte, und dass er sich weigerte, ihm die wahren Gründe mitzuteilen. Sein tief verwurzeltes Pflichtgefühl hatte Mikhail zähneknirschend gehorchen lassen, obwohl er nicht verstand, was hier vor sich ging. Sein einziger Trost war, dass er mit diesem Gefühl nicht allein war – niemand, außer vielleicht Danilo Syrtis-Ardais, wusste wirklich, was Regis Hastur gegenwärtig vorhatte.
Mikhail kannte seinen Onkel als klugen und gerissenen Mann, dem es gelungen war, Darkover durch ein schreckliches Kapitel seiner langen und blutigen Geschichte zu führen. Er hatte seinem Onkel immer vertraut, aber nun brachten seine zwiespältigen Gefühle und Zweifel dieses Vertrauen ins Wanken. Er hatte das Problem analysiert, so gut er konnte, und so viele Widersprüche darin entdeckt, dass er ziemlich beunruhigt war. Er hatte sich sogar die Überlegung gestattet, ob Regis Hastur überhaupt noch wusste, was er tat – allerdings nur kurz. Dann hatte er den Gedanken eilig wieder verdrängt und in die hinterste Ecke seines Bewusstseins verbannt.
Mikhail dachte an sein letztes Gespräch mit Regis, unmittelbar vor seiner Abreise. Sein Onkel hatte müde und zerstreut gewirkt, und ihm war nicht wohl dabei gewesen, Regis‘ Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. Die Regentschaft über Elhalyn war wirklich eine geringfügige Angelegenheit, verglichen mit der Wiederherstellung des Rates, dem Problem der umstrittenen Erbfolge in der Domäne Alton oder einer möglichen Rückkehr der Aldarans in die Gesellschaft der Comyn.
Vom familieneigenen Charme der Hasturs, den Regis im Übermaß besaß, was nichts zu spüren gewesen. Mikhail hatte in aller Kürze die Fragen gestellt, die er beantwortet haben wollte – musste –, und weniger als zufrieden stellende Antworten bekommen. Sein Onkel hatte ihm gegenüber nicht die geringsten Andeutungen über seine Absichten gemacht, und im Nachhinein musste sich Mikhail sagen, dass er nicht gerade sehr hilfreich oder auch nur aufmerksam gewesen war. »Du wirst das schon machen, Mikhail, da bin ich mir sicher. Wir reden weiter, wenn du zu Mittwinter wieder nach Hause kommst. Lass dir ruhig Zeit damit, die Burschen zu prüfen. Die Sache eilt nicht.«
Bei diesem Treffen hatte Mikhail deutlich gespürt, dass die ihm zugewiesene Aufgabe nicht besonders wichtig war. Und, schlimmer noch, dass er selbst ebenfalls nicht wichtig war. Er hatte sich ausgeschlossen gefühlt, so wie damals, als Regis‘ Sohn Danilo geboren wurde; unerwünscht und irgendwie störend. Sein Verstand sagte ihm, dass dies nicht der Fall war – weder damals noch jetzt –, aber er war ehrlich genug, um sich einzugestehen, dass seine Gefühle mehr als nur ein bisschen verletzt waren.
Seiner Ansicht nach bestand das Problem darin, dass Regis offensichtlich versuchte, das Rad der Zeit zurückzudrehen, indem er behauptete, die Wiederherstellung des Königtums der Elhalyns sei notwendig, ebenso wie der Rat der Comyn. Gleichzeitig beharrte er darauf, dass diese Maßnahmen nicht reaktionär seien, sondern im Interesse der Zukunft geschähen. Sein Vorhaben klang plausibel, bis Mikhail es einer sorgfältigen Prüfung unterzog.
Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass Regis längst irgendeinen ausgeklügelten Plan im Kopf hatte. Die einzige verwertbare Information, die er seinem Onkel abringen konnte, war dessen Überzeugung, dass Darkover vereint werden musste – indem die Aldarans Mitglied im Rat der Comyn wurden –, und zwar bald.
Da die anderen Domänen den Aldarans nicht trauten, konnte Regis die übrigen Mitglieder des Rates nur mit Mühe dazu überreden, dem Teil seines Plans, den er enthüllt hatte, zuzustimmen. Selbst Mikhails Eltern standen dem Vorschlag ablehnend gegenüber, ebenso Lady Marilla Aillard und ihr Sohn Dyan Ardais. Dom Francisco Ridenow schien seine Meinung täglich zu ändern, lediglich Lew Alton unterstützte die Idee uneingeschränkt.
Mikhail teilte die Vorbehalte seiner Eltern hinsichtlich der Aldarans nicht, die er vor Jahren einmal heimlich besucht hatte. Er war mit dem alten Dom Damon bekannt, ebenso mit seinem Sohn und Erben Robert sowie mit dessen Zwillingsbruder Hermes Aldaran, der kürzlich das Amt des darkovanischen Vertreters beim terranischen Senat von Lew Alton übernommen hatte. Und er kannte Gisela Aldaran, die Schwester der beiden, seinerzeit eine reizende junge Frau. Er hatte die Familie sehr gemocht und wusste ganz genau, dass sie im Grunde anständige Leute waren.
Aber das Vorurteil gegen die Aldarans war alt und saß tief. Die Darkovaner hatten ein sehr gutes Gedächtnis, vor allem wenn es um Verrat ging, und die Aldarans hatten den Rat vor vielen Jahren einmal betrogen. Da mochte Regis noch so oft sagen, dass man die Vergangenheit ruhen lassen solle und dass es an der Zeit sei, alte Wunden zu heilen. Er hatte den hartnäckigen Widerstand, auf den seine Vorschläge stießen, eindeutig unterschätzt.
Mikhail bezweifelte, dass es seinem Onkel trotz dessen großer Überzeugungskraft gelingen würde, die Wogen zu glätten. Je mehr Druck er ausübte, desto mehr Widerstand schlug ihm entgegen, vor allem bei Mikhails Mutter Javanne Hastur. In vielerlei Hinsicht war das Benehmen seiner Mutter seit der Sitzung in der Kristallkammer sogar quälender als das von Regis. Sie war schon immer eine eigensinnige Frau gewesen, aber die Bekanntgabe seiner Regentschaft hatte eine Wut in ihr ausgelöst, die er nicht verstand. Sie war für ihn plötzlich nicht mehr die vertraute Mutter, sondern eine abweisende und distanzierte Fremde. Es hatte Momente gegeben, in denen er sich die Überlegung gestattete, ob sie noch bei Verstand war. Ihre Mutter war nämlich eine Elhalyn gewesen, und die waren schließlich bekannt für ihre psychische Labilität. Er hegte diesen fürchterlichen Gedanken jedoch nicht sehr lange, sonst hätte er womöglich auch noch an seinem Onkel, ihrem Bruder, zweifeln müssen – und das war mehr, als er ertragen konnte.
Der Wind blies das Laub über den Weg, die Blätter hatten dasselbe Rot wie Margueridas Haar. Mikhail beschloss, lieber von seiner Geliebten zu träumen, als sich weiter mit verworrenen Problemen zu beschäftigen.
Der Abschied im Turm von Arilinn vor fünf Tagen war ihnen sehr schwer gefallen, obwohl sie beide eine tapfere Miene aufgesetzt hatten. Marguerida hatte sich in jene ihr eigene Schüchternheit zurückgezogen, hinter der sie sich immer dann verbarg, wenn sie besonders aufgewühlt war. Sie hatten nicht von ihrer Liebe zueinander gesprochen, das wäre zu schmerzlich gewesen. Stattdessen hatten sie über belanglose Dinge geredet und so ihre Gefühle verschleiert, die sie beide zu überwältigen drohten.
Mikhail und Marguerida waren unmittelbar nach Mittsommer in Arilinn eingetroffen; Marguerida, um ihr Studium der Matrixwissenschaften aufzunehmen, und Mikhail, um sich das nötige Wissen anzueignen, damit er die Elhalyn-Knaben auf Laran testen konnte, was sich weit komplizierter als erwartet gestaltet hatte. Es entbehrte seiner Meinung nach nicht einer gewissen Ironie, dass Marguerida ausgerechnet die Matrixwissenschaften erlernen wollte, nachdem die Kristalle in gewisser Weise ein Fluch für sie waren. In den ersten Wochen dort hatte sie einen neuen Anfall der Schwellenkrankheit erlitten. Ausgelöst wurde sie wahrscheinlich durch die Nähe der Matrixrelais im Turm – zumindest war das die einzig mögliche Erklärung.
Sehr zum Missfallen von Mestra Camilla MacRoss, die die neuen Schüler in Arilinn betreute, hatte Marguerida die Erlaubnis erhalten, in einem der kleinen Häuser zu wohnen. Diese waren eigentlich nur für Besucher, Gäste und die Familien derer vorgesehen, die zur Heilung in den Turm kamen. Eine solche Übereinkunft war noch nie zuvor getroffen worden, und dass sie nicht mit den anderen im Schlafsaal schlief, hatte Margueridas Lage nur noch schwieriger gemacht. Mestra MacRoss mochte es nicht, wenn einer ihrer Schützlinge eine Sonderbehandlung erhielt, es sei denn, sie hatte sie ihm selbst gewährt.
Mikhail schmunzelte bei dieser Erinnerung, denn er kannte Mestra Camilla noch aus seiner eigenen Zeit in Arilinn. Sie war damals schon sehr alt gewesen; inzwischen musste sie uralt sein. Niemand, nicht einmal Jeff Kerwin, der Bewahrer von Arilinn, wagte es, ihr einen Rückzug von ihrem Amt nahe zu legen. Sie war sehr entschlossen und unglaublich streng, was weiter nicht verwunderte, denn ihrem Kommando unterstanden fast ausschließlich junge Leute. Die Heranwachsenden, die gerade in ihr Laran kamen; sie sprühten vor Lebensenergie, hatten nur Unfug im Kopf und waren mit Kräften ausgestattet, die sie noch nicht ganz unter Kontrolle hatten.
Die beiden Frauen hatten sich vom ersten Moment an nicht gemocht. Mestra Camilla konnte eigentlich sehr gut mit Jugendlichen umgehen, aber Marguerida war eine Erwachsene und keine besonders gefügige dazu. Oder vielmehr, überlegte Mikhail, war seine unabhängige, selbstständige Base auf ihre Weise sehr diszipliniert und sogar gehorsam, allerdings entsprach diese ganz und gar nicht den Vorstellungen der älteren Frau. Sie stellte einfach zu viele Fragen, eine eingefleischte Gewohnheit nach zehn Jahren akademischer Studien. Sie wollte immer wissen, warum etwas in einer bestimmten Weise geschah, obwohl sie ihre lebhafte Neugier ernsthaft zu zügeln versuchte. ›Warum‹ gehörte nun mal nicht zu den Wörtern, die Camilla MacRoss besonders schätzte.
Die anderen Schüler in Arilinn hatten die Situation auch nicht gerade entspannt. Sie waren alle wild entschlossen, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, und konnten es kaum erwarten, ihren Schülerstatus abzulegen und endlich Mechaniker oder Techniker zu werden oder vielleicht sogar Bewahrer. Gewohnt, sich stets sowohl nach Camilla als auch nach Loren MacAndrews, der ältesten Schülerin, zu richten, behandelten sie Marguerida wie einen Eindringling. Sie waren neidisch auf ihr Alter, ihre Erfahrung und die Geschwindigkeit, mit der sie lernte. Und die Tatsache, dass sie eine Alton und außerdem die Erbin der Domäne Alton war, behagte ihnen ebenfalls nicht. Die Alton-Gabe des erzwungenen Rapports war gleichermaßen gepriesen wie gefürchtet, und dass ausgerechnet eine Frau sie besaß, die den größten Teil ihres Lebens nicht auf Darkover verbracht hatte, machte alle nervös. Niemand konnte einschätzen, ob sie sich auch anständig benehmen und ihre Gabe moralisch einwandfrei einsetzen würde.
Marguerida, dickköpfig wie ein Esel, hatte mit Stolz und wilder Entschlossenheit reagiert. So krank sie auch war, lehnte sie die Sonderbehandlung ab. Jeff hatte also eingreifen müssen, was Margueridas Verhältnis zu Camilla jedoch nur verschlechtert hatte. Das Ganze roch nach Vorzugsbehandlung, weil sie mit Jeff verwandt war. Die beiden Frauen hatten sich schließlich auf einen förmlich-distanzierten Umgang geeinigt, was die Feindseligkeit zwischen ihnen lediglich verschleierte, anstatt sie abzubauen.
Mikhail war froh, dass er jetzt da war, obwohl es für sie beide schwer gewesen war, sich so nahe zu sein und einander mit nüchterner Sachlichkeit behandeln zu müssen. Ihre Liebe, die sie sich noch vor Mittsommer gestanden hatten, war unverändert groß, aber die Umstände verhinderten, dass es zu mehr kam als zu gelegentlichen gemeinsamen Spaziergängen in einem der Gärten Arilinns oder zu einigen Ausritten an schönen Nachmittagen. Sie sprachen über alles, angefangen von den Sitten, die Marguerida als lächerlich empfand, bis zum Wesen der Gottheiten auf Darkover und in anderen Welten. Mikhail hatte sich immer danach gesehnt, einmal zu den Sternen zu reisen, und er fand es wundervoll und zugleich traurig, wenn sie ihm von den Planeten erzählte, die sie bereits besucht hatte. Er beneidete sie um ihre Reisen und ihre Bildung, und doch schätzte er jeden Augenblick, den er in ihrer faszinierenden Gesellschaft verbrachte. Immerhin war seine Schwester Liriel noch in Arilinn, und sie war eine echte Freundin für Marguerida. Aber Mikhail wusste, dass sie ihn vermisste, und er war insgeheim froh darüber.
Mikhail dachte an Margueridas Stiefmutter, Diotima Ridenow-Alton, die an einer schweren Krankheit litt, die weder terranische Ärzte noch darkovanische Heiler eindeutig diagnostizieren konnten. Es handelte sich wahrscheinlich um eine Art Krebs, aber die Patientin hatte bisher auf keine Behandlung angesprochen. Die Ärzte hatten wochenlang versucht, den Verfall ihres mittlerweile zerbrechlichen Körpers aufzuhalten. Nach heftigen Diskussionen hatte man dann beschlossen, sie in einen künstlichen Dauerschlaf zu versetzen, bis eine neue Therapie entdeckt würde. Diese Maßnahme war jedoch bestenfalls ein Notbehelf.
Seine Geliebte war darüber mehr als besorgt gewesen, denn sie liebte Diotima wie ihre eigene Mutter. Der Versuch, möglichst nahe bei den mächtigen Matrixschirmen zu leben, das Wiederauftreten der Schwellenkrankheit und die tiefe Sorge um ihre Stiefmutter hatten sie abwechselnd rasend vor Angst gemacht oder völlig deprimiert. Und obwohl Marguerida sich die größte Mühe gegeben hatte, so zu tun, als sei sie guter Dinge, und sogar über seine Scherze gelacht hatte, wusste Mikhail, dass sie eigentlich litt. Nur ihr wilder Stolz verhinderte, dass sie die Beherrschung verlor – und ihre Dickköpfigkeit.
Das Rauschen des Wassers erinnerte ihn an ihr Lachen, das er in diesen Tagen nur zu selten hörte, und die frische Brise auf seiner Haut an ihre scharfe Zunge. Er lachte laut auf. Bei dem Geräusch schnaubte Stürmer, sein mächtiger Brauner, als Antwort und stellte die Ohren auf. Mikhail hörte die Glöckchen im Zaumzeug der beiden Wachen und spürte, dass sie sich nach dem Grund für seine Heiterkeit fragten. Die Erklärung war zu kompliziert, selbst für Männer, die er so gut kannte wie Daryll und Mathias. Außerdem wollte er nicht zugeben, dass er auf dem besten Wege war, sich in einen liebeskranken Romantiker zu verwandeln. Mit achtundzwanzig sollte er ein so kindisches Benehmen eigentlich abgelegt haben. Als Nächstes würde er wohl noch Liebesgedichte schreiben!
Es war lange her, dass er in Gesellschaft von Mitgliedern der Garde gewesen war, und ihm war nicht ganz wohl dabei. Wenn er als Kind auf Burg Comyn herumgetollt war, hatte sich immer ein Gardist in der Nähe befunden. Er hatte sie stets als freundliche Männer erlebt, die ihn huckepack reiten ließen oder ihm Geschichten erzählten. Damals hatte er nicht gewusst, dass es einen guten Grund für ihre Wachsamkeit gab und dass sich Mörder in den Straßen von Thendara herumtrieben, die sogar Kinder in ihren Wiegen umbrachten.
Aber nachdem die Weltenzerstörer einmal besiegt waren und sein Onkel Regis Hastur Lady Linnea kennen gelernt und die beiden ihr erstes Kind bekommen hatten, war er von der Anwesenheit der Gardisten einigermaßen befreit gewesen. Nicht ganz allerdings, schließlich war er immer noch der offizielle Erbe von Hastur. Er war vierzehn gewesen, als Danilo Hastur zur Welt kam, alt genug, um zuerst in Arilinn eine kurze Ausbildung zu absolvieren und dann für zwei Jahre in die Kadettengarde einzutreten. Damals war er sich gar nicht im Klaren darüber gewesen, dass sich damit sein Status änderte, dass er nun nicht mehr das bevorzugte Kind war wie in den Jahren zuvor. Erst als er zum Friedensmann für den jungen Dyan Ardais wurde, waren die Mitglieder der Garde nicht mehr ständig in seiner Nähe, wie es Erwachsenen entsprach. Während seiner Zeit in der Garde hatte er einige enge und dauerhafte Freundschaften geschlossen, und die Männer, die hinter ihm ritten, waren eher Gefährten und Waffenbrüder als Wachhunde.
Jetzt wollte er nur noch so schnell wie möglich Haus Halyn erreichen, die Knaben prüfen, einen geeigneten Kandidaten für das Amt des Königs finden und die Regentschaft wieder loswerden. Er wollte gar nicht daran denken, wie sein Leben aussehen würde, wenn dieser Plan nicht aufging. Er tätschelte den kräftigen Hals seines Braunen und dachte an das letzte Mal, als er diesen Weg geritten war.
Wessen Idee war es damals eigentlich gewesen, loszuziehen und die zurückgezogen lebende Priscilla Elhalyn zu besuchen – seine oder Dyans? Mikhail erinnerte sich nicht mehr. Er wusste nur noch, dass es etwa vier Jahre zurücklag und dass sie beide reif für ein Abenteuer gewesen waren. Sie waren auf ihre Pferde gestiegen und zum Spaß nach Westen geritten, ohne sich auch nur das Geringste dabei zu denken. Dass Priscilla sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen würde, war ihnen erst in den Sinn gekommen, als sie schon fast angekommen waren, und keiner von ihnen konnte mehr einen Rückzieher machen, ohne als Trottel dazustehen.
Nach einem dreitägigen Ritt waren sie schließlich unangemeldet auf Burg Elhalyn eingetroffen. Priscilla hatte sich allerdings nicht sehr beunruhigt über die Störung gezeigt. Immerhin war Mikhail der Enkel von Alanna Elhalyn, der Schwester ihres Vaters Stefan. Der Besuch eines Vetters, so hatte ihre Haltung ausgedrückt, war immer willkommen. Und irgendwie wirkte sie auf ihre verwirrte Art beinahe so, als hätte sie die beiden erwartet. Die kleine Frau mit Augen wie graue Glasmurmeln lebte umgeben von ihren Kindern und wenigen Dienern und war durchaus eine nette Abwechslung, aber wohl kaum das Abenteuer, auf das er gehofft hatte.
Burg Elhalyn war ein bescheidenes Anwesen – lange nicht so groß und eindrucksvoll wie Ardais –, aber solide gebaut. Einer der Diener hatte erzählt, dass sie noch aus dem Zeitalter des Chaos stammte, als der Vertrag endlich die Kriege beendete, die den Planeten so lange bestimmt hatten. Mikhail hatte die Steine untersucht und herausgefunden, dass das Gebäude noch nicht so alt war. Doch bei dem Durcheinander, das damals geherrscht hatte, war alles möglich.
In jenen wirren Zeiten war sehr vieles verloren gegangen, viele Aufzeichnungen und auch viel Wissen. Einiges davon blieb allerdings besser für immer verloren, denn wie Mikhail wusste, hatte man Matrizen damals auf eine für ihn unvorstellbare Art und Weise eingesetzt. Da hatte es das Haftfeuer gegeben, das an der Haut kleben blieb und sich bis zum Knochen durchfraß – ein grauenhafter Gedanke. Und das war noch nicht einmal das Schlimmste gewesen. Mikhail konnte sich das alles kaum vorstellen und war froh für Darkover, dass diese schrecklichen Zeiten lange zurücklagen.
Was nicht heißen sollte, dass in jüngerer Zeit nichts passiert wäre. Kurz nach seiner Geburt hatte die Sharra-Rebellion den Planeten erschüttert, und ein paar Jahre später hatten die Weltenzerstörer versucht, die gesamte Ökologie auf Darkover zu vernichten. Doch seit fast zwei Jahrzehnten herrschte nun endlich Ruhe auf dem Planeten. Es bestand demnach kein echter Anlass für den Schutz durch die Gardisten, außer dass Mikhail als Regent von Elhalyn einen gewissen Status besaß und dass es der Sitte entsprach.
Der miserable Zustand von Burg Elhalyn hatte Mikhail schockiert. Das Klima auf Darkover war wirklich unbarmherzig. Die Winter waren grausam, und die Häuser wurden allein deshalb gut in Schuss gehalten, um die Gesundheit ihrer Bewohner während der kältesten Monate zu garantieren. Zugige Flure und Türen, die in den Angeln knarrten, waren eine neue und ziemlich unangenehme Erfahrung für ihn. Dyan hatte ein paar bissige Bemerkungen darüber gemacht, aber Mikhail hatte diese Nachlässigkeit auf die wohl bekannte Verschrobenheit der Elhalyns zurückgeführt.
Mikhail hatte bei Priscillas fünf Kindern immerzu nach Anzeichen für die nachweisliche Geistesgestörtheit der Elhalyn-Linie gesucht, aber trotz ihres eigenartigen Zuhauses wirkten sie alle gesund und durchaus normal. Sie waren keine Fremden gewohnt und deshalb zunächst sehr schüchtern, aber schon nach einem Tag hatten sie die beiden Männer akzeptiert. Die beiden Nesthäkchen Miralys und Valenta versteckten sich nicht mehr hinter den Röcken ihrer Mutter, und die Knaben Alain, Vincent und Emun stellten neugierige Fragen über Pferde, Thendara, die Terraner und viele andere Dinge. Die Jungen hatten damals Valient, den Vater seines jetzigen Pferdes, ebenso bewundert wie Dyans temperamentvolle Stute Roslinda, sie hatten Bemerkungen über ihre Kleidung gemacht und sich alles in allem wie andere junge Burschen benommen, die er kannte.
Bis zur Nacht der Séance war der Aufenthalt ziemlich langweilig gewesen. Wer oder was immer damals gesprochen hatte – Mikhail erinnerte sich noch genau an die kalte Berührung und schauderte. Im Nachhinein war er sehr froh darüber, dass der Geist von Derik – falls er es denn gewesen war – ihm den Eid abgenommen hatte, niemals über das Vorkommnis zu sprechen. Er hätte mit dieser Geschichte bestimmt ernsthafte Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit geweckt.
Allerdings hatte er bei diesem Versprechen nicht damit gerechnet, je nach Elhalyn zurückzukehren oder Priscilla und ihre Kinder jemals wieder zu sehen. Niemals hätte er sich auch nur träumen lassen, dass er einmal Regent der Domäne Elhalyn werden und von Regis Hastur den Befehl bekommen würde, unter Priscillas Söhnen denjenigen auszuwählen, der den lange verwaisten Thron des Königs von Darkover einnehmen könnte.
Mikhail hatte seit jener tumultartigen Sitzung in der Kristallkammer bereits mehrfach den Wunsch verspürt, die Regentschaft abzulehnen. Diese Entscheidung hätte wahrscheinlich die Beziehung zu seinen Eltern wiederhergestellt und ihn zudem von einer unerwünschten Last befreit. Doch sein Pflichtgefühl war zu stark. Er brachte die Worte einfach nicht heraus. Hätte man ihn doch nur nicht zum Herrscher ausgebildet!
Und wären seine Eltern doch nur nicht so starrsinnig und misstrauisch gegenüber ihm, Lew Alton und Marguerida gewesen, was diese Angelegenheit betraf. Sie argwöhnten nur das Schlimmste! Man hatte Mikhail einst dazu ausgebildet, einmal der pflichtbewusste Erbe von Regis Hastur zu werden und über Darkover zu herrschen, doch dann war ihm alles weggeschnappt worden. Nun blieb ihm nichts weiter übrig, als die vor ihm liegende Aufgabe so gut wie möglich zu meistern, auch wenn er das Gefühl hatte, dass man ihn nur aus dem Weg haben wollte. Jede Leronis hätte die Jungen prüfen können, das wusste er genau. Doch Regis hatte darauf bestanden, dass Mikhail es tat, und wollte sich mit keinem anderen begnügen.
Je länger er über die Sache nachdachte, desto sicherer war sich Mikhail, dass ihm entscheidende Informationen fehlten. Man hatte ihn nicht abgeschoben, egal wie er sich fühlte. Er war ein Teil des Plans – ein willenloser Bauer in einem von Regis‘ bösen Spielen. Es war zum Verrücktwerden! Er war ein Gefangener seiner eigenen Treue, aber auch von Regis‘ Manipulationen. Er war nicht frei, um seine eigenen Ziele zu verfolgen, und das ärgerte ihn mehr, als ihm bis zu diesem Augenblick bewusst gewesen war.
Das alles war sehr entmutigend. Die Erkenntnis, dass seines Wissens niemand uneingeschränkt glücklich mit den Vorschlägen seines Onkels war, tröstete ihn nur wenig. Er empfand tiefes Mitgefühl für seinen jungen Vetter Danilo Hastur, der inzwischen eigentlich längst zum Erben hätte ernannt werden müssen. Doch seine einzige Information war eine geheimnisvolle Bemerkung von Lady Linnea gewesen. »Regis ist sich mit Dani noch nicht sicher.« Wenn sich Mikhail schon gleichzeitig ausgeschlossen und gefangen fühlte, wie musste es dann erst Danilo Hastur gehen?
Was Regis auch vorgeschlagen hatte, selbst die Teilnahme der Aldarans am Rat der Comyn, klang äußerst logisch. Aber die Darkovaner waren kein logisch denkendes Volk. Sie waren sehr leidenschaftlich, und wenn ihre Gefühle mit ihnen durchgingen, wie es bei seiner Mutter offenbar gerade der Fall war, dann hörten sie nur noch auf ihr Herz. Regis schien das allerdings nicht zu begreifen.
Mikhail fragte sich, welche Geheimnisse sein Onkel wohl bewahrte, und dachte dabei ein bisschen schuldbewusst an seine eigenen. Er hatte nie von der Séance erzählt und auch über seine beiden Besuche bei den Aldarans geschwiegen. Aber das waren schließlich nur Kleinigkeiten. Außerdem hatte Regis einmal zu ihm gesagt, die halbe Staatskunst bestünde darin, über Informationen zu verfügen und zu wissen, wann und wie man sie einsetzte.
Mikhail tat seine widersprüchlichen Gedanken mit einem Achselzucken ab. Von der ganzen Grübelei schmerzte ihm nur der Kopf. Er wusste, dass sich Regis in mancherlei Hinsicht verändert hatte, aber er musste sich wohl oder übel damit abfinden. Er konnte die Veränderung nicht genau benennen, und wenn er mal genau darüber nachdachte, schien auch etwas Überstürztes in den Aktionen seines Onkels zu liegen, als folgte er einem geheimen Zeitplan, den er unbedingt einhalten musste.
Genug! Der Tag war zu schön für solche Gedanken. Er konnte die düster aufragende Masse von Burg Elhalyn bereits am Horizont erkennen und war froh, dass Priscilla von dort weggezogen war. Haus Halyn, der alte Landsitz der Familie, lag fünfzehn Kilometer näher am Meer, und Mikhail hoffte nur, er war in besserem Zustand als die zerfallene Burg, die sogar aus der Ferne traurig und heruntergekommen aussah.
Aber selbst wenn der Landsitz nicht besser erhalten war, glaubte er sich damit abfinden zu können. Schließlich war es nicht für immer, er würde lange vor seinem Lebensabend entweder die Regentschaft los sein oder ein für alle Mal die Möglichkeit, den Platz seines Onkels einzunehmen.
Seltsam. Früher hatte er sich sogar einmal danach gesehnt, diese undankbare Aufgabe zu übernehmen, die Regis zwei Jahrzehnte lang trefflich erfüllt hatte. Das war allerdings, lange bevor er Marguerida kennen gelernt hatte. Er stieß ein leises Lachen aus, bei dem Stürmer sofort die Ohren aufstellte. Mikhail gestattete sich einen Gedanken an die Listen, die er als junger Bursche angelegt hatte, mit all den Dingen, die er nach seiner Thronbesteigung tun wollte. Sie waren, so vermutete er, ebenso idealistisch wie töricht gewesen.
Der Wind drehte sich, und der Geruch des Meeres von Dalereuth wehte zu ihm herüber. Es war ein scharfer Geruch, nach Salz und etwas, das er nicht benennen konnte. Marguerida würde es bestimmt wissen, schließlich war sie auf einer Welt mit vielen Ozeanen aufgewachsen, nachdem sie Darkover im Alter von fünf Jahren verlassen hatte. Trotz der Eindrücke von Thetis, die er im Lauf der Monate durch sie gewonnen hatte, konnte Mikhail nicht wirklich nachvollziehen, wie es war, direkt an einem tosenden Ozean zu wohnen. Und auch die sonderbaren Geschöpfe, die wie Sterne aussahen, oder die springenden Meeressäugetiere, die sie Dolfine nannte, waren ihm nach wie vor fremd.
Mikhail wusste, dass Marguerida sich manchmal nach Thetis und der Wärme dort sehnte, und er fragte sich, ob sie auf Darkover je glücklich sein würde. Er hoffte es, denn sein Glück war ohne sie nicht vollkommen, und er hätte es nicht ertragen, wenn sie wieder fortgegangen wäre. Sobald sie ihre Ausbildung im Turm abgeschlossen hatte, würde ihr allerdings freistehen, genau das zu tun – nämlich Darkover zu verlassen. Das war kein erfreulicher Gedanke. Falls sie sich tatsächlich für eine Abreise entschied, würde sie ein großes Chaos verursachen und wahrscheinlich sämtliche Pläne zunichte machen, die Regis gerade ausheckte.
Ein seltsames Krächzen über seinem Kopf ließ ihn aufblicken und verscheuchte seine düsteren Gedanken. Es stammte von einem großen Vogel, einer Art Krähe, wie sie Mikhail noch nie gesehen hatte. Sie war glänzend schwarz, mit vereinzelt weißen Federn am Flügelrand. Das Tier sah ihn aus argwöhnischen roten Augen an, schrie noch einmal und kreiste genau drei Mal über ihm. Mikhail zuckte leicht zusammen, der Vogel sah gefährlich aus mit seinen gewaltigen Klauen und dem scharfen Schnabel.
Mikhail sah ihm zu, wie er seine Kreise drehte, und freute sich an der Vollkommenheit seines Fluges. Er sah ihm nach, bis er endgültig verschwand, dann trieb er sein Pferd an. Bis Haus Halyn waren es noch einige Kilometer, und wenn er vor Einbruch der Dunkelheit ankommen wollte, musste er sich beeilen.
Beim Weiterreiten überlief Mikhail ein leichter Schauder des Unbehagens, doch er schimpfte sich sofort lautlos einen abergläubischen Narren. Diese Seekrähe war bestimmt kein böses Omen, kein Wink des Schicksals. Ihm war nur nicht ganz wohl bei der Sache, weil man ihn mit einer Aufgabe betraut hatte, die er weder angestrebt noch gerne übernommen hatte.
Mikhail stimmte ein Trinklied aus ihrer Studentenzeit an, das er von Marguerida gelernt hatte. Es war ziemlich unanständig, und er hörte die Gardisten hinter sich kichern. Ihre Ausgelassenheit erfreute sein Herz so sehr, dass er seine Sorgen beinahe vergaß, während er auf Haus Halyn zuritt.