Читать книгу Die Schattenmatrix - Marion Zimmer Bradley - Страница 9
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ОглавлениеMikhail verdrängte seine zunehmende Ermüdung ebenso wie seine Empörung und erkundete das obere Stockwerk von Haus Halyn, wo die Kinder zusammen mit den beiden alten Ammen, Becca und Wena, untergebracht waren. Er ärgerte sich über den schlechten Zustand des Hauses, über die zerbrochenen Fensterscheiben und die Stapel schäbiger Kleidungsstücke und Bettwäsche, die überall herumlagen. Die Mädchen, so fand er heraus, teilten sich ein Schlafzimmer und die Knaben ein anderes, wodurch drei Zimmer unbewohnt blieben. Die alten Frauen schliefen in einem kleinen Raum neben den Mädchen, der sauberer als alle anderen war, offenbar interessierten sie sich mehr für ihr eigenes Wohlergehen als für das ihrer Schützlinge.
Zu seiner großen Überraschung und Freude entdeckte Mikhail, dass es ein sehr schönes und funktionierendes Badezimmer gab. Es entschädigte ihn beinahe für das halb verfallene Schlafzimmer, das er sich schließlich im zweiten Stock aussuchte. Die Bettvorhänge waren vergammelt, und die Matratze war seit Jahren nicht gestopft worden. Der Drillich hatte mehrere Löcher, und er hoffte inbrünstig, dass keine Mäuse Wohnung bezogen hatten.
Mit den schweigenden Mädchen im Schlepptau suchte er nach frischem Bettzeug. Keines der Kinder hatte seit Valentas geflüsterter Bemerkung mehr gesprochen, und die Jungen waren wieder in ihr Zimmer verschwunden. Mikhail war zu müde und zu wütend, um den Versuch zu starten, ihnen irgendetwas zu entlocken. Dafür würde später noch genug Zeit sein. Im Augenblick brauchte er saubere Decken und Laken. Er öffnete diverse Türen und fand schließlich einen Wäscheschrank, der mit Bettzeug voll gestopft war. Die Laken, die er entdeckte, waren so dünn, dass er hindurchsehen konnte, und die Decken hätten auch mal wieder eine Wäsche vertragen können, sie waren allerdings eher muffig von der langen Lagerung als schmutzig. Es fiel ihm kaum auf, wie seltsam es war, dass er Hausarbeiten verrichtete, die er sonst immer Dienern überließ, und nur entfernt war ihm bewusst, dass sein Geist nicht allzu klar war. Er konnte gerade mal die einfachsten Aufgaben bewältigen, und er fragte sich, ob er womöglich eine Krankheit ausbrütete.
Daryll und Mathias brachten das gesamte Gepäck herein und beschwerten sich nicht, dass ihnen die Arbeit von Dienstmädchen abverlangt wurde. Becca und Wena, die sich seit dem letzten Mal kaum verändert hatten, waren überhaupt keine Hilfe. Sie schienen ein bisschen dünner zu sein, was nach der Bemerkung des Kochs nicht weiter überraschte, und sie kamen Mikhail ziemlich dumm vor. Auf seine Frage, wo er denn Handtücher fände, gackerten sie nur wie ein Paar Hühner und zogen sich in ihr Zimmer zurück, wobei sie vor sich hin murmelten, dass sie für das Chaos um sie herum nicht verantwortlich seien.
Mikhail bemühte sich, die wachsende Abscheu bei seinem Rundgang zu unterdrücken, aber als er in das Zimmer kam, in dem die drei Knaben ein widerlich stinkendes Bett teilten, war es ihm nicht länger möglich. Alain Elhalyn saß in einem Stuhl und starrte ins Leere. Er trug bereits sein Nachthemd, ein schäbiges Gewand mit Speiseflecken auf der Brust, das nach altem Schweiß roch. Wie alles andere hier war es sehr dünn und an mehreren Stellen notdürftig geflickt. Der älteste Junge schien weder zu wissen, wer Mikhail war, noch sich für ihn zu interessieren.
»Ist Alain krank?«, fragte Mikhail Vincent, der noch der gesündeste der ganzen Bande zu sein schien. Er war ein hübscher Junge mit den markanten Gesichtszügen der Elhalyns und einer selbstsicheren Ausstrahlung, die ihn von seinen Geschwistern unterschied.
Vincent zuckte die Achseln. »Krank? Vielleicht. Emelda sagt, er ist schwachsinnig.« Er wirkte gleichgültig und überhaupt nicht wie der aufgeweckte Junge, den Mikhail in Erinnerung hatte. »Er sitzt immer nur da, und Becca kommt ab und zu und bringt ihn zur Toilette.« Die Antwort war ihm lästig.
»Aber vor vier Jahren war er noch nicht schwachsinnig, Vincent!« Die Verwahrlosung, die Mikhail überall in Haus Halyn vorfand, war mehr, als er ertragen konnte. »Er hatte seine Schwellenkrankheit doch schon hinter sich und war ein großartiger Bursche.«
»War er das? Dann hab ich es wohl vergessen. Es spielt ja auch keine Rolle, oder? Ich bin derjenige, den du suchst.« Vincent grinste, und in seinen Augen lag ein Ausdruck, dem Mikhail sofort misstraute. Es war vorbei, ehe er den Blick des Knaben richtig einschätzen konnte, aber Mikhail hatte ein flaues Gefühl im Magen, das garantiert nichts mit seinem leeren Bauch zu tun hatte. Er glaubte allmählich, dass dieser Ort verflucht war, und er hegte den Verdacht, dass dieser Fluch menschliche Gestalt hatte und Emelda hieß.
Wer war diese Frau, und was hatte sie mit den Kindern gemacht? Das waren nicht mehr die fröhlichen, lärmenden, die er in Erinnerung hatte, sie verhielten sich eher wie ängstliche Mäuschen, außer Vincent, der sich bei jeder Gelegenheit aufspielte und immerzu aufbrauste. Mikhail spielte mit dem Gedanken, sie am nächsten Morgen auf Pferde zu setzen und von diesem fürchterlichen Haus wegzuschaffen. Aber Alain sah nicht so aus, als könnte er auch nur eine Meile reiten, geschweige denn, den langen Ritt nach Thendara bewältigen, und Emuns Verfassung war kaum besser. Der jüngste Knabe wirkte gehetzt, fuhr bei jedem Geräusch zusammen und blickte ständig ängstlich über die Schulter. Außerdem würden die Pferde in diesem jämmerlichen Zustand noch am ersten Tag zusammenbrechen.
Gab es hier vielleicht eine Kutsche? Er erinnerte sich nicht, im Stall eine gesehen zu haben. Alles wäre ihm recht – ein Karren, sogar ein Heuwagen! Er wollte auf der Stelle weg von Haus Halyn! Notfalls ohne die Kinder.
Bei diesen Gedanken merkte Mikhail plötzlich, dass ihm jemand einflüsterte. Er war verblüfft. Konnte diese Frau ihn etwa beeinflussen? Das Flüstern war so zart gewesen, dass er es beinahe nicht wahrgenommen hätte, aber Emelda würde gewiss nichts Gutes im Schilde führen. Zum Glück war sie eine Aldaran – wenn sie nicht gelogen hatte – und keine Alton. Der Gedanke, sie könnte etwas von der Alton-Gabe des erzwungenen Rapports besitzen, war erschreckend.
Wie sollte er sie nur aus dem Haus bringen? Mikhail hatte in seinem ganzen Leben noch nie die Hand gegen eine Frau erhoben, egal, wie groß die Versuchung gewesen war, und er wusste nicht einmal, ob er es überhaupt konnte. Seine Gardisten würden sie vermutlich beseitigen, wenn er es ihnen befahl. Aber sie war eine Frau! Wie konnte er die Demütigung ertragen, dieses dürre Häufchen Ärger zwei starken Männern zu überlassen? Es gab bestimmt eine bessere Lösung. Sie musste ihm nur einfallen, aber sein Verstand schien noch immer benebelt und müde. Morgen, nachdem er richtig ausgeschlafen hatte, blieb noch genug Zeit dafür. Emelda ging ihn nichts an, im Gegensatz zu den Kindern.
Dennoch ließ ihn das Problem nicht los. Was würde sein Vater jetzt wohl tun? Die Frage war wirklich komisch, wenn er seine ziemlich feindselige Beziehung zu Dom Gabriel bedachte. Aber mit seinem alten Herm war nicht zu spaßen, und Mikhail wünschte sich – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben –, er wäre ein wenig wie er. Gabriel fehlte es an dem Feingefühl, von dem Mikhail seiner eigenen Einschätzung nach zu viel hatte, und er walzte jeden Widerstand ohne zu zögern nieder. Allein der Gedanke an Dom Gabriel gab Mikhail Kraft. Er konnte jedes bisschen Energie gebrauchen.
Er würde das Problem nicht lösen, indem er mitten auf dem Flur herumstand. Einen Augenblick lang überlegte er, was er hier eigentlich tat. Was hatte er gleich noch gesucht? Ach ja, Handtücher.
Ihm wurde bewusst, dass er soeben etwas vergessen hatte, aber er konnte den Gedanken nicht in seinen Kopf zurückzwingen, sosehr er sich auch anstrengte. Er wollte jetzt nur noch ein ausgiebiges Bad nehmen und saubere Kleider anziehen. Die hatte er zumindest in seinem Gepäck. Nach einem Bad würde er wieder mehr er selbst sein. Er nahm seine Sachen und ging in die dampfende Kammer. Es war der sauberste Ort, den er in Haus Halyn entdeckt hatte, und er fühlte sich sofort weniger hilflos.
Mikhail glitt in die heiße Wanne und entspannte sich. Er wollte nur noch in das Wasser hinabsinken, den Kopf unter Wasser tauchen, wegtreiben ... Er schoss nach oben, spuckte Wasser, seine Lungen lechzten nach Luft. Warum hatte er das getan?
Seine Verwirrung wich einer reinigenden Wut. Sein Geist wurde wieder klar. Dann drangen Zweifel in die momentane Klarheit. Mikhail fühlte sich plötzlich kraftlos und mehr als schlecht gerüstet für den Umgang mit den Kindern. Er hatte einen großen Fehler begangen, als er sich bereit erklärt hatte, für die Elhalyn-Kinder als Regent zu fungieren. Er hätte darauf bestehen sollen, dass einer seiner Brüder die Aufgabe übernahm. Er würde Hilfe brauchen, jemand musste ihm beistehen, der mehr Erfahrung hatte und besser ausgebildet war. Er würde mit Regis Kontakt aufnehmen müssen und ...
Mikhail zuckte zusammen. Er war noch nicht einmal einen Tag hier und schon gescheitert. Offensichtlich war er der Aufgabe nicht gewachsen. Zweifel nagten an ihm, wie damals, als er noch ein Heranwachsender gewesen war und Danilo Hastur geboren wurde, wodurch Mikhails Stellung sich verändert hatte. Wenn ich gut genug gewesen wäre, hätte Regis keinen Sohn gebraucht.
Er versuchte dieses Gefühl der eigenen Wertlosigkeit abzuschütteln, aber er redete sich hartnäckig weiter ein, dass er nicht annähernd der Mann war, für den er sich hielt. Er eignete sich lediglich dazu, den Friedensmann für Dyan Ardais oder irgendeinen anderen Herrn einer der Domänen abzugeben. Aber Regis hatte ihm eine Aufgabe gestellt, und er musste sie irgendwie erfüllen, und er musste es allein tun, egal, wie er sich dabei fühlte!
Seine Schuldigkeit galt vor allem den Kindern. Das hieß, er musste das Haus in Ordnung bringen und sich um ihre Gesundheit kümmern. In ihrem gegenwärtigen unterernährten und schmutzigen Zustand brauchte Mikhail die Jungen gar nicht erst zu prüfen. Er war sich nicht einmal mehr sicher, ob er in Arilinn wirklich genügend gelernt hatte, um die Sache richtig zu machen.
Mikhail rubbelte sich mit einem getrockneten Kürbis ab und machte eine Liste der Dinge, die er dringend erledigen musste: die Fenster reparieren, die Kamine kehren, das Dach ausbessern, die Wäsche machen. Am Morgen würde er Daryll sofort um Arbeitskräfte ins Dorf schicken. Er würde ein paar Dienstmädchen zum Saubermachen anheuern und mehrere Männer für die anfallenden Reparaturarbeiten. Das waren zumindest Aufgaben, denen er sich gewachsen fühlte – obwohl er leicht belustigt feststellte, dass er tatsächlich keine Ahnung hatte, wie das mit der Wäsche in Armida eigentlich funktioniert hatte. Und er hätte gewettet, dass Marguerida solche Dinge wusste, nicht weil sie eine Frau war, sondern weil sie auf anderen Planeten gelebt hatte und als aufmerksame Beobachterin wahrscheinlich Notiz davon genommen hatte. Sie hatte vermutlich sogar die Lieder der Wäscherinnen aufgenommen, und was der Schmied sang, wenn er die Hufeisen bearbeitete.
Er war so sehr in seine Gedanken an Marguerida vertieft, dass er eine Stelle seines Körpers fast wund rieb. Als er es bemerkte, runzelte er die Stirn und beendete sein Bad schneller, als er es üblicherweise tat. Er hüllte sich in ein fadenscheiniges Handtuch und machte sich im Geiste eine Notiz, so bald wie möglich neue Wäsche kommen zu lassen. Dann zog er seine Kleider an und verließ hastig das Bad.
Im Korridor spürte er, dass er beobachtet wurde. Er drehte sich um und schaute den Gang hinauf und hinunter. Das warme Bad hatte ihn schläfrig gemacht, und er strengte sich an, wieder wach zu werden. Auf dem Gang war niemand zu sehen, aber als er aufmerksam lauschte, hörte er das leise Rascheln von Stoff aus dem Zimmer der Mädchen; Miralys und Valenta würde es ähnlich sehen, dass sie ihn beobachteten. Erleichterung jagte durch seine Adern, und ihm wurde bewusst, dass er fast schon erwartet hatte, jemand würde mit einem Messer aus dem Dunkeln stürzen. Er war jedenfalls ganz schön erschrocken, und es wurde höchste Zeit, dass er sich wieder in den Griff bekam.
Einen Augenblick später schlüpfte Miralys aus ihrem Zimmer und gab sich große Mühe, es zufällig aussehen zu lassen. »Geht es dir jetzt besser?«, fragte sie leise.
»Ja, viel besser.«
Sie war ein wunderschönes Kind, trotz ihrer verdreckten Kleidung und den ungewaschenen Haaren. Ihre Haut war beinahe durchsichtig, mit einem Alabasterteint, den andere Frauen mit Hilfe von Milchbädern zu erreichen versuchten, und ihre Augen waren hellgrau, fast silbern. Er vermutete, ihr Haar wäre rot, wenn sie es waschen würde, aber jetzt sah es mehr nach einem schmutzigen Braun aus. Sie hatte einen Mund wie eine Blüte und eine zierliche Nase, und Mikhail fand, sie ähnelte einer Prinzessin aus einem von Liriels Märchenbüchern.
»Das freut mich für dich. Du hast ziemlich komisch ausgesehen, als du die Bettwäsche aussortiert hast.«
»Ich habe eben noch nie ein Bett gemacht. Warum gibt es hier eigentlich keine Dienstboten außer euren Kindermädchen und dem alten Duncan?«
»Sie erlaubt es nicht, und die meisten Leute im Dorf fürchten sich auch, hierher zu kommen.«
»Wieso denn?«
»Das darf ich nicht sagen.« Ihre Augen waren geweitet, fast vollständig ausgerissen, als sehnte sie sich danach, ihr Herz auszuschütten, konnte es aber nicht. Hilf mir!
Miralys’ lautloser Schrei war herzzerreißend, aber noch bevor Mikhail ihr antworten konnte, drehte sie sich um, rannte in ihr Zimmer zurück und warf die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu. Mikhail hörte ihr Schluchzen und dann die Stimme eines der Kindermädchen, die sie beruhigte. Er war schon im Begriff, die Tür zu öffnen, dann überlegte er es sich doch anders. Im Zimmer eines jungen Mädchens hatte er nichts verloren.
Stattdessen ging er in sein Zimmer zurück, suchte seinen Kamm und versuchte sein nasses Haar ein wenig zu ordnen. Der Spiegel über dem Toilettentisch war schwarz vor Staub, und er sah sich nach etwas um, womit er ihn abwischen konnte. Er fand einen Lappen und putzte damit den Spiegel, dann wischte er kurz über den Toilettentisch und vermisste den angenehmen sauberen Geruch nach Wachs und Politur, der den Raum eigentlich erfüllen sollte. Schließlich betrachtete er sein Spiegelbild; er war glatt rasiert, sein dunkelblondes Haar lockte sich bereits über der Stirn. Falls sie den Widerstand seiner Eltern je brechen konnten, würden er und Marguerida garantiert lockige Nachkommen haben, so viel stand fest. Über diesen so neuen und sonderbaren Gedanken musste er lachen, und um seine blauen Augen bildeten sich winzige Fältchen. Es tat gut zu lachen, aber es ließ ihn Marguerida nur umso mehr vermissen, denn Lachen war eine Gewohnheit zwischen ihnen geworden, fast wie eine zweite Sprache.
Wie werden wir sie wohl nennen?, fragte er sich, als er die Treppe hinabging. Es gab bereits eine ganze Menge Gabriels und Rafaels in der Familie, aber er hätte nichts dagegen, seinen Sohn Lewis zu nennen, obwohl seine Schwester Ariel den Namen schon einem ihrer Söhne gegeben hatte. Und Yllana vielleicht, nach Margueridas Großmutter aus der Aldaran-Linie. Das würde allerdings Javanne, seine Mutter, beleidigen.
Mikhail betrat das Wohnzimmer, bevor er seine Namenliste ganz fertig hatte; er würde Marguerida bei der ersten Gelegenheit davon erzählen, und sie würde es bestimmt lustig finden. Priscilla Elhalyn saß mit ihrem Stickrahmen im Salon, hielt eine Nadel über das Wäschestück und starrte ins Feuer. Sie erschrak ein wenig, als er eintrat, steckte die Nadel in den Stoff und faltete geziert die Hände im Schoß.
»Guten Abend, Domna.«
»Ist es schon Abend?« Sie schaute sich um, es war inzwischen ziemlich düster im Raum. Im Kamin brannte ein Feuer, aber keine einzige Kerze in den Halterungen war angezündet. »Ich hatte es gar nicht bemerkt. Kein Wunder, dass ich meine Stiche kaum noch sehen konnte.«
Mikhail nahm einen langen Stock vom Kaminsims, hielt ihn kurz ins Feuer und begann die Kerzen anzuzünden. »So dürftet Ihr etwas besser sehen.«
»Vermutlich. Aber es ist verschwenderisch.«
»Verschwenderisch?«
»Kerzen sind sehr teuer.«
»Domna, Ihr seid eine Dame von einer großen Domäne. Es gibt absolut keinen Grund, im Dunkeln zu leben.« Es sei denn, jemand hat es Euch befohlen.
Mikhail schoss durch den Kopf, dass es wegen all der Bretter vor den Fenstern schon zur Mittagszeit fast so dunkel im Haus war wie am Abend. Er fragte sich, ob die Baufälligkeit nicht vielleicht beabsichtigt war, um Priscilla und ihre Kinder im Dunkeln zu halten. Der flüchtige Gedanke war schon wieder verschwunden, bevor er weiter darüber nachdenken konnte.
»Vielleicht – aber das spielt alles keine Rolle. Ich werde sowieso bald keine Kerzen mehr brauchen.« Sie klang recht schläfrig, träumerisch und viel teilnahmsloser, als er sie in Erinnerung hatte.
»Sagt mir doch, Domna, wie lange ist Emelda schon bei Euch? Sie interessiert mich.«
»Wirklich? Das freut mich, sie ist wirklich eine wunderbare Frau. Ich weiß nicht, was ich ohne sie getan hätte. Mal sehen – ich kann mich kaum noch erinnern. Sie kam zum vorletzten Mittsommer, glaube ich. Ja, genau. Und dann ist Ysaba ... weggegangen. Emelda war mehrere Monate hier, dann ist sie noch einmal abgereist und kam nach diesem Mittsommer wieder zurück.«
»Verstehe.« Priscilla musste sich demnach während der Abwesenheit der seltsamen Frau einverstanden erklärt haben, ihre Kinder auf Laran prüfen zu lassen. Sie schien äußerst leicht beeinflussbar zu sein, nicht direkt schwach, aber von einer starken Persönlichkeit leicht zu führen. Sicher hatte Ysaba sie beeinflussen können, und jetzt gelang es Emelda.
Priscillas Stimme hatte zögerlich geklungen, als sie das Medium erwähnt hatte, was Mikhails Neugier weckte. Er hatte Ysaba mit ihrer unheimlichen Ausstrahlung nicht besonders gemocht, aber er spürte, dass sich nicht freiwillig weggegangen war, und fragte sich nun, ob er sie vielleicht finden könnte. Er würde ihr sehr gerne ein paar Fragen stellen.
Emelda schwebte in den Raum und zog ihren roten Behang ebenso hinter sich her wie einen leichten Weihrauchduft. Sie ignorierte Mikhail und ging direkt zu Priscilla, beugte sich über den Stickrahmen und machte einige Bemerkungen über den Fortgang der Arbeit. Im Nu hatte sie einen Fehler in der Stickerei gefunden.
»Das geht so nicht! Ihr müsst die ganze Blume wieder aufknüpfen, sie ist zu schlecht gearbeitet.«
»Natürlich«, antwortete Priscilla ruhig, ihre dunklen Augen wirkten verschwommen. »Dom Mikhail hat mich hier angetroffen, als ich im Dunkeln arbeiten wollte – wie dumm von mir. Er hat freundlicherweise die Kerzen für mich angezündet.«
»Domna, hört mir zu. Das Licht ist nur schlecht für Eure Augen. Ihr müsst Euch mehr Mühe geben, damit Ihr endlich lernt, im Dunkeln zu arbeiten.« Sie flüsterte, aber Mikhail hörte ihre Worte dennoch deutlich.
»Ich lasse ein paar Glaser kommen und die Fensterscheiben ersetzen«, kündigte er an, »dann werdet Ihr gut sehen können, ohne Geld für Kerzen auszugeben.« Die Szene wurde mit jeder Minute unwirklicher.
Ihr werdet nichts dergleichen tun! Das plötzliche Eindringen von Emeldas Gedanken verblüffte ihn.
Raus! Verschwindet gefälligst aus meinem Bewusstsein! Ich bin hier der Herr! Der Nachdruck seiner Antwort freute ihn und löste ein wenig von der Spannung, die ihn noch vor einer Minute gelähmt hatte.
Ihr werdet noch alles zunichte machen!
Nichts würde mich mehr freuen, Mestra Unheil.
In diesem Augenblick kamen Daryll und Mathias ins Zimmer, und Emelda funkelte die beiden wütend an. Bei ihrem Eintreten bemerkte Mikhail augenblicklich, wie sein Geist klarer wurde, als wäre der geistige Nebel, den die Frau aussandte, von der Zahl der anwesenden Leute abhängig. Was, bei Zandrus Hölle, war sie? Keine Leronis, das stand fest, was sie auch anhatte. Und wie konnte er sie nur aus dem Haus schaffen?
Ein Ruck ging durch Priscilla. »Ich kann diese Männer nicht in meinem Haus dulden«, sagte sie. »Meine Töchter sind ...«
» ... viel sicherer, wenn die beiden da sind«, unterbrach Mikhail. »Und nicht nur meine Männer werden bleiben, Domna, sondern ich beabsichtige auch, so schnell wie möglich Dienstmädchen und Dienstboten einzustellen. Dieses Haus braucht dringend Pflege, dafür werde ich sorgen und ebenso für Eure Kinder. Wenn Ihr Euch schon nicht für sie interessiert – ich tue es.«
Priscilla Elhalyns leicht vorstehende Augen wölbten sich noch mehr nach außen, als kämpfte sie mit einem inneren Konflikt. »Nimm Vincent und scher dich weg. Er ist derjenige, den du suchst – ich weiß es. Die anderen müssen mich begleiten, wenn ich fortgehe.«
»Darüber habt Ihr nicht mehr zu bestimmen, Domna.« Fortgehen? Was meinte sie damit? Die Verlockung, ihrem Vorschlag einfach nachzugeben, war gewaltig, denn Mikhail hielt Vincent ebenfalls für den aussichtsreichsten Kandidaten, den Thron der Elhalyns einmal zu übernehmen und ihn selbst von der lästigen Regentschaft zu befreien. Aber er konnte doch Miralys’ stummen Hilfeschrei nicht vergessen. Verdammt sollte er sein, wenn er die Kinder im Stich ließ, nur weil es der bequemere Weg war.
Außerdem hatte Mikhail verstanden, dass man ihn unauffällig zu einer baldigen Abreise drängen wollte, und je deutlicher er dies spürte, desto entschlossener war er zu bleiben, bis er seinen Auftrag erledigt hatte. Mich schubst keine verfluchte Kräuterhexe herum!
Zu seiner Überraschung schien Emelda bei diesem Gedanken ein wenig zusammenzuzucken und zu schrumpfen. Sie zupfte Priscilla am Ärmel und murmelte ihr etwas zu, worauf die beiden Frauen den Salon verließen. Genau in diesem Augenblick kamen vier der Kinder herein.
Alain fehlte, was Mikhail nicht weiter überraschte. Dem ältesten Sohn ging es so schlecht, dass er ohne Hilfe wahrscheinlich nicht einmal die Treppe herunterkam. Mikhail war zu müde und zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um die Kinder mehr als nur flüchtig in Augenschein zu nehmen, ihre schäbige Kleidung und ihre Verwahrlosung zu bemerken und einen Plan aufzustellen, was alles zu tun war. Er hatte leichte Gewissensbisse, weil er ein Bad genommen und saubere Kleidung angelegt hatte, anstatt umgehend die Dinge in Ordnung zu bringen. Aber dann tadelte er sich für seine Schuldgefühle. Er war schließlich kein Zauberer, der mit einer Handbewegung wiederherstellen konnte, was in all den Jahren der Vernachlässigung durcheinander geraten war. Er war auch nur ein Mensch, und in vielen häuslichen Belangen ein sehr unwissender dazu. Aber er war entschlossen, sein Bestes zu tun, auch wenn er damit Priscilla und ihre merkwürdige Gefährtin gegen sich aufbrachte.
Mikhail gefiel, was er sah, als sich die anderen Kinder ihm vorstellten. Offensichtlich hatten sie sich große Mühe gegeben und sich für diese besondere Gelegenheit herausgeputzt. Ihr Haar war gekämmt, Gesichter und Hände gewaschen. Sie sahen zwar immer noch Bettlern ähnlicher als den Kindern einer reichen Domäne, aber Mikhail freute sich dennoch. »Wie der Herr, so die Diener«, hieß ein Spruch in den Bergen, und mehr als je zuvor spürte er die Wahrheit, die darin lag.
Aufmerksam musterte Emun die beiden Gardisten, die nun ihre Uniformen trugen statt ihres Reisegewands; seine jungen Augen waren vor Bewunderung weit aufgerissen. Mikhail wurde bewusst, dass die beiden Jungen, ebenso wie Alain, unter anderen Umständen inzwischen längst bei den Kadetten wären. Wahrscheinlich wäre es das Beste für sie, so bald wie möglich aus diesem düsteren Haus mit seinen Medien und Geistern wegzukommen. Aber Priscilla hatte eine einzige Bedingung gestellt, nämlich, dass ihr die Kinder unter keinen Umständen weggenommen werden durften.
Mikhail glaubte, dass er diese Verfügung sicher wegen Untauglichkeit aufheben lassen könnte, aber dazu müsste er vor das Cortes-Gericht gehen. Dort war man gegenwärtig mit Dom Gabriels Rechtsstreit bezüglich der Domäne Alton ausreichend beschäftigt, dazu noch mit der möglichen Rückkehr der Aldarans in den Rat der Comyn. Die Richter des Cortes rauften sich angeblich alle zusammen die Haare, weil sie sich Angelegenheiten gegenübersahen, für die es meist nur wenige oder gar keine Präzedenzfälle gab. Ein Prozess würde außerdem bedeuten, dass Mikhail ohne die Kinder nach Thendara zurückkehren musste, und er vermutete, dass er sie damit nur in Gefahr brachte. Er hatte sich noch nie so sehr gewünscht, an zwei Orten gleichzeitig sein zu können, wie in diesem Augenblick – eigentlich an dreien, wenn er sein Verlangen, bei Marguerida in Arilinn zu sein, mitzählte.
Was für ein Dilemma! Er musste dafür sorgen, dass es den Kindern gut ging, und sei es nur, um einen der Jungen auf den Thron zu bringen. Um das bewerkstelligen zu können, musste er noch eine Weile in diesem Tollhaus bleiben. Andernfalls würde er als Marionettenkönig enden, bei dem sein junger Vetter Danilo die Fäden zog. Er mochte Danilo sehr, aber er verspürte nicht das geringste Verlangen, in eine solche Situation zu geraten. Es wäre sehr schwierig für ihn und wahrscheinlich noch schwieriger für Danilo.
Tiefe Zweifel nagten an ihm und verdarben ihm den Appetit. Er spürte, wie die Augen der Kinder ängstlich und erwartungsvoll auf ihn gerichtet waren. Nur Vincent schien zuversichtlich zu sein, und einmal mehr stellte Mikhail ein gewisses Unbehagen bei sich fest, was den mittleren Sohn betraf. Vielleicht tat der Junge auch nur so eingebildet, um seine Unsicherheit zu verbergen, aber irgendetwas war eigenartig an Vincent, allerdings konnte Mikhail es nicht genau benennen. Er wusste einfach nicht genügend über junge Männer – obwohl er selbst einer gewesen war –, um sich in seinem Urteil sicher zu fühlen.
Regis hätte ihn nicht allein hierher schicken dürfen. Er wäre besser in Begleitung von Hauslehrern, einem Fechtmeister und ein paar Erzieherinnen für die Mädchen gekommen. Warum war das eigentlich nicht der Fall? Sein Onkel war ein kluger Mann, und er tat selten etwas Unüberlegtes. Was, wenn ihn Regis nur aus dem Weg haben wollte?
Das unangenehme Gefühl, überflüssig zu sein und abgeschoben zu werden, das er mit vierzehn so oft verspürt hatte, flutete zurück. Mikhail versuchte den unerwünschten und unangenehmen Wust an Empfindungen zu unterdrücken, aber sie nagten während des gesamten armseligen Mahls aus zerkochtem Geflügel und matschigem Getreide an ihm. Abgesehen von den gelegentlichen Fragen Vincents war es ein sehr schweigsames Mahl. Die Mädchen aßen, als wären sie am Verhungern, und auch Emun schlang seine Portion Huhn hastig hinunter und sah sich nach mehr um. Irgendwann im Laufe der Mahlzeit tauchte eins der alten Kindermädchen auf, ging in die Küche und kam mit einem Tablett wieder heraus, das vermutlich für Alain bestimmt war.
Als Mikhail seine Gedanken wieder von seinen eigenen Sorgen ablenken konnte, wurde er wütend. Man hatte ihn immer gelehrt, dass Kinder kostbar seien, und die Art und Weise, wie man diese vier hier und Alain behandelt hatte, empörte ihn maßlos. Er wollte sie immer wieder in ein Gespräch verwickeln, aber die Mädchen blieben stumm, nur Emun antwortete ab und zu einsilbig. Vincent genoss es, sich über alles Mögliche lang und breit auszulassen, als beruhigte ihn der Klang seiner eigenen Stimme, aber im Grunde lohnte sich das Zuhören kaum.
Sobald das karge Mahl aufgezehrt war, stand Mikhail erleichtert von der stumpfen Tafel auf. Er wünschte den Kindern eine gute Nacht und sah ihnen nach, als sie leise hinausmarschierten. Dann wandte er sich an seine Männer. »Daryll, ich glaube, du kannst dich im Wohnzimmer ans Feuer betten, Mathias übernimmt die erste Wache.« Er wusste, wie sinnlos der Vorschlag war, dass keiner von ihnen vor seinem Zimmer auf dem Boden schlafen musste – sie hätten sowieso nicht auf ihn gehört. Sie waren für ihn verantwortlich und fest entschlossen, gut auf ihn aufzupassen, vor allem in diesem Haus.
»Sehr wohl, Dom. Und ich werde bei Tagesanbruch ins Dorf aufbrechen und sehen, ob ich ein paar Arbeiter auftreiben kann.«
»Sieh zu, dass du auch eine Wäscherin und ein paar Dienstmädchen findest. Ich habe schon Schweineställe gesehen, die sauberer als dieses Haus waren.«
»Ich werde mein Bestes tun. Komisches Haus, was?«
»Ziemlich.« Er verstand sehr gut, was Daryll nicht sagte, aber er wollte ihn auch nicht dazu ermuntern, Lady Elhalyn offen zu kritisieren.
Mikhail verließ die beiden und ging nach oben. Dort stand er einen Augenblick im Korridor und lauschte. Es war leise, eigentlich zu leise. Irgendetwas an dieser Stille war unnatürlich oder vielmehr beunruhigend. Aber damit würde er sich morgen befassen.
Er betrat sein Schlafzimmer und spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Mikhail konnte zunächst nicht erkennen, was, doch dann bemerkte er den zarten Hauch eines Duftes, eine Weihrauchwolke, die noch in der Luft hing. Er war sicher, dass Emelda hier gewesen war, wenngleich er sich nicht erklären konnte, zu welchem Zweck.
Mikhail wurde trotz seiner Erschöpfung fuchsteufelswild. Er witterte Unheil und begann daraufloszusuchen; als Erstes sichtete er seine Kleidung. Staubpartikel fielen aus den Falten des Stoffes, allerdings konnte er nicht mit Sicherheit sagen, ob man seine Kleidung absichtlich eingestaubt hatte oder ob es einfach nur der Hausstaub war. Es kam ihm unwahrscheinlich vor, dass seine Kleidung so schnell zugestaubt sein sollte. Er schüttelte sie heftig aus, auch um seine gärende Wut loszuwerden.
Dann deckte er das Bett auf, in dessen Nähe war nämlich der verbleibende Geruch am stärksten. Er zog erst die Decken ab, dann die Laken. Im flackernden Licht des kleinen Kamins tanzten unzählige Staubkörnchen in der Luft. Der Schornstein zog nicht sehr gut, und Mikhail dachte, dass er wahrscheinlich über und über mit uralter Schlacke bedeckt war. Er hätte Daryll auch einen Kaminkehrer rufen lassen sollen, falls es im nächsten Dorf einen gab. Er musste sich unbedingt ein Blatt Papier suchen und all diese Dinge aufschreiben, wenn Daryll oder Mathias nicht jeden zweiten Tag ins Dorf reiten sollten.
Mikhail riss die Kissen aus ihren Bezügen, seine Nase juckte schon von dem feinen Staub. Er hatte zwanzig Minuten gebraucht, um dieses Bett zu machen, und sehr zu seinem Ärger baute er es in nur fünf Minuten wieder auseinander.
Da fiel etwas auf die bloße Matratze: ein kleines, zugenähtes Säckchen, wie sie die Landbevölkerung für Heilkräuter und Breiumschläge verwendete. Die Dienstmädchen in Armida hatten oft Lavendelsäckchen unter ihre Kopfkissen gelegt, um besser schlafen zu können. Dem schwachen Geruch nach war das hier bestimmt kein Lavendel und auch kein Balsam. Mikhail hatte nicht die leiseste Ahnung, was in dem Säckchen war – Liriel kannte sich sehr gut mit Kräutern und Pflanzen aus. Schade, dass sie jetzt nicht hier war.
Aber irgendetwas an dem unschuldig aussehenden Gegenstand verursachte ihm eine Gänsehaut. Er hob ihn vorsichtig auf. Eine Weile ließ er das Ding an den dünnen Schnüren baumeln und widerstand dem Drang, es an die Nase zu halten. Er wusste genau, dass es eine schlechte Entscheidung wäre, ohne seine Ahnung erklären zu können. Schließlich wollte er das Ding in den Kamin schmeißen, doch er stoppte abrupt, als die Schnüre gerade aus seinen Fingern gleiten wollten. Wenn irgendein schädlicher Stoff darin war, würde er durch das Feuer nur in der Luft verteilt. Wieso war er eigentlich davon überzeugt, dass in dem Säckchen Gift war? Wieso nahm er an, dass eine feindselige Absicht dahinter steckte?
Mikhail trieb seinen müden Verstand an. Er hatte sich noch nie einem solchen Problem gegenübergesehen – wie man sich eines unbekannten Gegenstands entledigte, der möglicherweise gefährlich war. Wäre das Fenster nicht mit Brettern vernagelt gewesen, hätte er das Säckchen hinausgeworfen und sich am Morgen damit beschäftigt. Er besaß nun mal nicht dieses besondere Laran, das einem erlaubte, Dinge nur durch Anfassen zu analysieren, und bis zu diesem Moment hatte er sich auch nie nach dieser Gabe gesehnt.
Was machte man wohl mit solchen Gegenständen? Wenn Verbrennen nicht in Frage kam, was dann? Versenken oder vergraben, beschloss er nach langem Überlegen; er fühlte sich, als wäre sein Gehirn mit Leim verklebt. Er war gewiss kein abergläubischer Bauer, aber es widerstrebte ihm, das Säckchen einfach in Ruhe zu lassen. Wenn es tatsächlich harmlos war, was er bezweifelte, spielte es keine Rolle, was er tat, aber wenn es gefährlich war, musste er sehr vorsichtig damit umgehen.
Schließlich hielt er das Säckchen auf Armeslänge von sich gestreckt und trug es zum Abort, wo er es ins Loch fallen ließ. Dann nahm er den Eimer, der neben dem Sitz stand und leerte ihn in die Rinne. Er pumpte den Eimer sogar wieder halb voll für den nächsten Benutzer.
Sobald Mikhail das Ding los war, fühlte er sich weniger dumpf und müde. Möglicherweise bildete er sich das Ganze auch nur ein, aber er entschied, dass er auf jeden Fall besser vorsichtig sein sollte. Auf dem Rückweg zu seinem Zimmer begegnete er Mathias, der gerade die Treppe heraufkam, einen Stuhl aus dem Esszimmer in der einen Hand und eine Decke in der anderen. Sie sahen sich kurz an. Er spürte, dass Mathias, normalerweise ein sehr ausgeglichener Mensch, wegen irgendetwas beunruhigt war. Mikhail hätte ihn gerne gefragt, was denn los sei, aber aus dem verschlossenen Gesichtsausdruck des Gardisten folgerte er, dass Mathias es ihm schon sagen würde, wenn er wollte. Er empfand zu viel Respekt für seine Männer, um sie auszuhorchen.
Als Mikhail das Schlafzimmer wieder betrat, kam es ihm völlig normal vor, und er fand, dass er die Angelegenheit sehr gut gemeistert hatte. Es war zwar nur eine Kleinigkeit, aber sie beruhigte ihn sehr. Er zerrte die Betttücher wieder zurecht und zog die Stiefel aus. Einige Minuten lang saß er einfach nur am Kamin, wackelte mit den Zehen und schwelgte in stillem Vergnügen.
Er sehnte sich nach dem Bett, nach Schlaf. Aber er würde erst ruhen, wenn er Marguerida erreicht, ihre Seele in seiner gespürt und ihr geistiges Lachen gehört hatte. Der Schlaf konnte noch ein paar Minuten warten. Mikhail holte seinen Matrixstein unter dem Rock hervor, nahm ihn vorsichtig aus dem seidenen Beutel und betrachtete ihn eingehend. Das Feuer spiegelte sich in den Facetten des Steins, während Mikhail langsam und tief atmete und sich in Trance versetzte. Gleichzeitig nahm seine Müdigkeit ab, und wenn er jetzt auch nicht aufspringen und eine Gigue tanzen wollte, so war er zumindest nicht mehr so müde, dass er kaum noch aufrecht sitzen konnte.
Mikhail konzentrierte sich, und der Raum schien sich langsam aufzulösen. Marguerida?
Er suchte ihre Nähe, das Bewusstsein ihrer einzigartigen Energie, und spürte, wie sie antwortete. Die Antwort war sehr weit entfernt, viel schwächer als sonst. Mikhail? Bist du das?
Ja, meine Geliebte.
Geht es dir gut? Du wirkst ein bisschen ... nebelhaft.
Mikhail zögerte. Ein Teil von ihm wollte ihr all die seltsamen Dinge erzählen, die er in Haus Halyn entdeckt hatte, aber der andere Teil war dagegen. Er würde wie ein kompletter Narr dastehen, wenn er über zerbrochene Fensterscheiben und verstopfte Kamine jammerte. Und das Säckchen, das er gerade entsorgt hatte, war bestimmt völlig harmlos gewesen.
Ich bin ziemlich müde. In Haus Halyn geht es drunter und drüber, und ich habe hier als Erstes eine Stunde lang Ställe ausgemistet.
Du hast Ställe ausgemistet? Das verstehe ich nicht, Mik.
Domna Priscilla hat nur sehr wenig Personal.
Aha. Jedenfalls bin ich froh, dass du gut angekommen bist. Ich war schon in Sorge und habe mir vorgestellt, wie du von irgendwelchen Klippen stürzt und anderes dummes Zeug.
Sie wirkte tatsächlich gedämpfter als die energische Frau, die er kannte. Vielleicht wurde sie seiner langsam überdrüssig. Oder sie hatte beschlossen, dass sie nicht warten wollte, bis sich ihre unmögliche Situation von allein löste, und steuerte nun einen anderen Kurs. Tut mir Leid zu hören, dass du einen schlechten Tag hattest.
O Mik! Ich bin eine totale Idiotin. Sie machte eine Pause, die ihm unendlich lang vorkam. Ich weiß nicht, wie ich es dir beibringen soll, außer dass ich es dir einfach sage: Domenic ist heute Nachmittag gestorben.
Ich verstehe. Und wahrscheinlich gibst du dir wieder die Schuld. Er spürte zwar den Schmerz des Verlustes in der Brust, das Leid und die Trauer, aber das alles war weit entfernt. Er wusste, dass es ihn später, wenn er nicht mehr so müde war, härter treffen würde. Aber im Augenblick freute er sich zu sehr darüber, Marguerida zu spüren, als dass er diesem Schmerz erlaubt hätte, ihn vollständig zu ergreifen.
Nur ein bisschen. Wenn ich mir nicht gerade die Augen ausweine oder mit meinem Vater darüber rede, wie sehr ich Arilinn verabscheue, seit du nicht mehr hier bist.
Wirklich? Mikhail fühlte sich ermutigt.
Natürlich. Du weißt doch, dass ich sowieso nie in einen Turm wollte und es nur getan habe, weil mir keine andere Wahl blieb. Und ich wollte auch nie nach Arilinn – es wurde nur dadurch annehmbar, dass du auch dort studiert hast. Und natürlich wegen Dio. Seit du nicht mehr da bist, ist alles viel unangenehmer für mich geworden – die anderen, du weißt schon –, und wenn Liriel nicht wäre ... egal.
Quälen sie dich wieder? Sie sollen verschwinden.
Manche. Aber ich habe meinem alten Herm alles erzählt, und ich glaube, er will Onkel Jeff davon überzeugen, dass es Zeit für mich ist, nach Neskaya zu gehen und bei Istvana zu studieren. Jetzt könnte ich noch leichter reisen als später im Jahr, und ehrlich gesagt, ich glaube, wenn ich nicht bald von Arilinn wegkomme, werde ich hier still und leise verrückt. Oder vielleicht sogar sehr lautstark!
Das wäre tragisch!
Na ja, ein sehr weiter Weg wäre es nicht – in den Wahnsinn, meine ich. Nach Neskaya wird es allerdings ein weiter Weg, aber vielleicht kann ich Rafaella dafür gewinnen, mitzukommen. Ich würde sie wahnsinnig gern wieder sehen, ich vermisse sie sehr. Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Du klingst noch immer so nebelhaft.
Ich bin nur müde, meine Liebe. Und ich vermisse dich.
Dann geh jetzt schlafen. Ich freue mich, deine Stimme zu hören, wie weit weg sie auch klingt, aber wenn du kleine Kinder hüten musst, wirst du deine Kraft brauchen.
Allerdings. Sie sind aber nicht mehr ganz so klein, Marguerida. Das jüngste ist zwölf, glaube ich. Valenta. Ein sehr hüb sches kleines Mädchen, obwohl ihre Schwester Miralys be stimmt einmal die Schönheit werden wird.
Willst du mich etwa eifersüchtig machen?
Nein. Bist du eifersüchtig?
Nur ein bisschen. Aber gewiss nicht auf ein Kind! Ich glaube, ich war noch nie eifersüchtig, deshalb bin ich mir nicht sicher. Ich weiß, du hast den Reizen einer ganzen Generation sich nach dir verzehrender, schöner Mädchen widerstanden, Mik, aber ich mache mir trotzdem Sorgen. Ich meine, es würde so viele Probleme lösen, wenn du eine der Elhalyn-Töchter heiraten würdest, auch wenn du beinahe alt genug bist, um ihr ...
Genau. Ich bin alt genug, um ihr Vater sein zu können, was jede Verbindung zum Skandal machen würde. Wobei ehrlich gesagt, allein die Vorstellung, mit Priscilla Elhalyn ins Bett zu gehen, widerlich ist.
Gut!
Boshaftes Weib!
Wie alt ist sie eigentlich?
Priscilla? Ungefähr achtunddreißig, aber sie sieht älter aus.
Eine alte Hexe! Da bin ich aber froh.
Noch nicht ganz, aber sie arbeitet anscheinend darauf hin. Marguerida – du bist die einzige Frau auf der Welt für mich!
Ach, Mik. Ich liebe dich so sehr, und ich vermisse dich. Wenn ich nicht wegen des kleinen Domenic so traurig wäre, würde ich jetzt vor Freude durchs Zimmer tanzen.
Weißt du, was mir gestern in den Sinn gekommen ist – die Namen unserer Kinder. Darüber habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht nachgedacht.
Ich auch nicht. Welche Namen hast du denn ausgesucht?
Ich fand, dass es genügend Gabriels und Rafaels in der Familie gibt, aber ich dachte, Lewis wäre ein guter Name für einen Sohn und vielleicht Yllana für ein Mädchen.
Ich hätte nie an Yllana gedacht, aber so hieß meine Groß mutter. Würde diese Wahl nicht Tante Javanne furchtbar wü tend machen?
Genau mein Gedanke!
Ich würde meine erste Tochter aber gern Diotima nennen.
Warum habe ich bloß nicht daran gedacht? Er wusste, dass er deshalb nicht daran gedacht hatte, weil er den Gedanken nicht ertrug, dass Margueridas Mutter vielleicht schon bald nicht mehr lebte.
Das macht nichts. Aber die Idee war nett – Mik, würde es dir viel ausmachen, falls wir einmal einen Sohn bekommen, wenn wir ihn Domenic nennen?
Mikhail wurde von tiefem Schmerz erfasst, aber auch von der Gewissheit, dass Margueridas Idee richtig war. Und er hatte eine Ahnung, dass dieser Domenic, falls er je zur Welt kam, vielleicht lange genug leben würde, um ein echtes Schicksal zu erfüllen – anstatt jung zu sterben oder ermordet zu werden, wie Domenic Lanart-Alton, nach dem die Alars ihren Sohn benannt hatten. Aller guten Dinge sind drei, hieß es. Und er tadelte sich ein wenig, weil er so abergläubisch und betäubt vor Erschöpfung gewesen war.
Nein, Marguerida. Das fände ich wundervoll!
Darüber bin ich aber froh. Ich hatte schon Angst, dir könnte die Idee nicht gefallen.
Sie ist wunderbar und passend. Anscheinend triffst du in stinktiv immer die richtigen Worte, meine Liebste.
Das sagst du jetzt nur, weil ich mir dich als Geliebten ausgesucht habe! Er spürte ihr unbeschwertes Lachen. Aber du schläfst mir noch gleich ein! Geh jetzt zu Bett! Gute Nacht, mein Mikhail, mein Geliebter. Schlaf gut.
Gute Nacht, Marguerida.