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Die Geheimschrift des Lebens kann jeder lesen
ОглавлениеWie sehen nun all die Rezepte, Karten und Pläne aus, von denen die Rede ist? Woraus bestehen sie? Sie liegen in den langen Molekülfäden, auf denen sich auch die Anleitungen für das Altern und Sterben finden. Wenn man ewig leben möchte, muss man also den Informationsfaden verändern, und dazu muss man genau wissen, wie er aufgebaut ist und wo auf ihm die einzelnen Anleitungen stehen.
Manchmal nennt man den Informationsfaden auch Erbsubstanz. Die Eigenschaften des Körpers, zum Beispiel die Augenfarbe oder Form der Nase, können durch den Informationsfaden von den Eltern auf die Kinder übertragen, also vererbt werden. Der chemische Name der Säure ist kompliziert. Er lautet deoxyribonucleic acid, zu Deutsch: Desoxyribonukleinsäure. Weil Wissenschaftler ebenso bequem sind wie alle anderen Menschen, kürzen sie den englischen Namen mit DNA ab. Der ausgeschriebene chemische Name hört sich etwas exotisch an und erinnert ein wenig an malerische Indianerwörter. Übersetzt heißt er: »saurer Zucker aus dem Kern der Zelle, der zu wenig Sauerstoff hat«.
DNA ist tatsächlich eine Säure, ähnlich wie die in Zitronen oder Essig, aber sie ist viel komplizierter zusammengesetzt. Im Zitronensaft schwimmen Zitronensäurebausteine in Wasser herum. Entzieht man dem Saft das Wasser, zum Beispiel durch Erhitzen, lagern sich die Bausteine zu einem hübschen Kristall zusammen. Solche Kristalle mögen gut schmecken und in der Sonne glitzern, aber sie sind auch einfältig. In ihnen kann keine Information gespeichert oder verschlüsselt sein, weil sie aus lauter gleichen Untereinheiten bestehen. Es ist ähnlich wie beim Schreiben, einer menschlichen Art der Informationsübermittlung: Man kann so viele gleiche Buchstaben aneinander reihen, wie man möchte: Ein Wort oder ein Satz kommt dabei nie heraus.
Der DNA-Faden einer Zelle besteht aus vier verschiedenen Arten von Säurebausteinen. Mit ihnen lassen sich Informationen verschlüsseln und speichern, genauso wie wir es beim Schreiben durch Buchstabenkombinationen tun: Die vier Bausteine des Informationsfadens sind in Dreiergruppen hintereinander angeordnet, bilden also gewissermaßen lauter Wörter aus drei Buchstaben. Lesemoleküle der Zelle nehmen sich dann der Reihe nach jede Dreiergruppe vor und Übersetzen sie in einen Zellbaustein. Es gibt vierundsechzig Dreiergruppen oder »Wörter«, von denen einige allerdings dieselbe Bedeutung haben. Mit ihnen sind alle Bau- und Arbeitspläne der Zellen geschrieben.
Ein bildhaftes Beispiel: Die vier Säurebausteine (»Buchstaben« oder Basen) heißen abgekürzt A (für Adenin). C (für Cytosin) , G (für Guanin) und T (für Thymin). Angenommen, ein Stückchen eines solchen Informationsfadens besteht aus der erfundenen Reihenfolge CCCGTTAAG. Sehr stark vereinfacht gesagt, erkennt der Leseapparat: CCC = Fett. GTT = am. AAG = Fuß. Heraus kommt also: Fett am Fuß. Es handelt sich um eine der Fettzellen, die am Anfang des Kapitels erwähnt wurden.
Die übersetzten Dreiergruppen ergeben in Wirklichkeit natürlich keine Worte oder Anweisungen. Die Zelle benutzt stattdessen Moleküle. Das macht aber eigentlich keinen Unterschied. Fett könnte wirklich entstehen, wenn auch nicht genau wie im angeführten Beispiel. Es sind einige molekulare Umwege nötig, und die Zelle braucht dazu eine Kette von mindestens zehntausend »Buchstaben« (das sind ungefähr dreißig Seiten dieses Buches). Die meisten Anleitungen in lebenden Zellen sind noch viel länger. Sie enthalten sogar Bereiche mit wirren Zeichenkombinationen, die der Leseapparat nicht versteht und durch Tricks »überspringen« muss.
Die Übersetzung der Anweisung in der DNA kann heutzutage schon jeder Schüler durchführen. Dazu nimmt man eine Zelle, bringt sie zum Platzen, zieht den Informationsfaden heraus, indem man Alkohol daraufgießt, und steckt den Faden in ein Plastikröhrchen mit einer Salzlösung. Das Röhrchen kommt in einen Apparat, der gerade halb so groß ist wie eine Waschmaschine. Das Gerät erkennt die »Buchstaben« A, C, G und T und druckt sie der Reihe nach aus. Steckt man das Röhrchen abends in diese Maschine, so ist am nächsten Morgen eine Seite mit einer Unmenge von C, G, A und T fertig gestellt. Wenn man Lust hat, kann man die Dreiergruppen nun selbst lesen. (Im Normalfall überlässt man diese Arbeit jedoch einem Computerprogramm. Es übersetzt oft genauer und stets schneller als ein Mensch.)
Obwohl die Geheimschrift der Zelle beeindruckend ist, sollte uns die dahinter steckende Idee vertraut sein: Auch Menschen verschlüsseln jeden Tag Dinge in einem Code aus Buchstaben. Dass es wirklich ein Code ist, merkt man daran, dass nicht jeder ihn versteht. Das Wort líomóid bedeutet Zitrone. Im Westen Irlands würde jeder wissen, was gemeint ist; der Sprachcode ist dort eben anders als hier.
Heute gibt es ein Wörterbuch für die Zellsprache. Man nennt es oft Codon-Sonne, weil die Dreiergruppen aus Säurebausteinen »Codons« genannt werden und das Schema mit etwas Phantasie wie die Sonne aussieht. Die Übersetzungsregeln der Codon-Sonne sind sehr einfach. Der Grundsatz »Je einfacher, desto besser« gilt in der Natur genauso wie im Alltag. Je einfacher und eleganter etwas aufgebaut ist, desto besser funktioniert es.
Wo auf dem Säurefaden liegt nun die Information für Altern und Sterben? Das erste Problem: Wenn ich die DNA aus einer einzelnen Zelle herausziehen möchte, um diese Anweisungen zu suchen, habe ich drei Probleme: Meine Finger sind zu dick, meine Arme zu kurz und meine Augen zu schwach.
Der Faden ist so dünn, dass ich ihn nicht mit den Fingern festhalten kann. Aus dem gleichen Grund kann ich ihn nicht sehen. Sogar das stärkste Vergrößerungsglas ist zu schwach dafür. Meine Arme sind zu kurz, weil der Faden einer einzigen Zelle zwei Meter lang ist – ich kann ihn nicht am Stück herausziehen. Eigentlich kommt noch ein vierter körperlicher Mangel hinzu. Mein Gehirn ist zu schwach. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein zwei Meter langer Säurefaden in einer Zelle liegt, die so klein ist, dass ich sie mit bloßem Auge nicht einmal sehen kann.
Eine weit ernstere Hürde besteht darin, dass die auf dem DNA-Molekül gesuchte Information so winzig ist. Strecken Sie zwei Meter Zwirn quer über den Tisch aus. Der Zwirn soll die DNA sein. Pieksen Sie mit einer Nähnadel in eine beliebige Stelle des Fadens. Wäre der Faden DNA, so hätten Sie mit einer Handbewegung bis zu fünfzehn Bauanweisungen für verschiedene Zellbestandteile aufgespießt. Diese »Bauanweisungen für Zellbestandteile« nennt man Gene. Manchmal ist ein Gen wirklich dasselbe wie exakt eine Anleitung, meist braucht der Körper aber viele Gene und zusätzlich DNA-Bereiche als Vorlage für ein einzelnes Endprodukt, beispielsweise ein Barthaar oder einen Knochen.
Gene, die zusammengehören oder sich ähneln, müssen nicht nebeneinander liegen. Es ist wie mit einem mehrbändigen Lexikon. Sie können alle Bände voneinander getrennt in der Wohnung aufstellen. Solange Sie die Standorte der Bücher im Gedächtnis behalten, können Sie auf jedes gewünschte Stichwort samt Querverweisen nachschlagen. Auch die Zelle weiß, wo auf der DNA die gewünschten zusammengehörigen Informationen liegen, und bringt sie zueinander.
Zurück zum Experiment mit der Zwirnfaden-DNA. Mit der Nadelspitze haben Sie soeben bis zu fünfzehn Gene aufgespießt. (Sie hatten dabei Glück, denn über 90 Prozent der DNA bestehen aus Nicht-Genen, deren Sinn uns bis heute verborgen ist.) Stellen Sie sich vor, jedes der getroffenen Gene habe eine Nummer, von 1 bis 15. Jede Nummer, also jedes Gen, ist eine Bauanleitung für eine Zutat in einem körpereigenen Rezept. Alle fünfzehn Zutaten ergeben gemeinsam ein nützliches Gesamtes, etwa das Rezept für Teile einer lichtempfindlichen Zelle im Auge oder für ein winziges Hohlkügelchen in der Zelle, das Moleküle transportiert.
Insgesamt enthält der Faden mehrere zehntausend verschiedene Rezeptteile. Stellen Sie sich vor, wie oft Sie in den Faden stechen können, ohne dieselben Zellrezepte ein zweites Mal zu berühren! Und wenn Sie oft genug zustechen, haben Sie auch das Rezept für »Altern ab dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr« getroffen. Wie kann man ein solches Rezept im echten DNA-Faden finden?
Mit Elektronenmikroskopen gelingt es, einzelne zarte Säurefäden sichtbar zu machen. Leider sind sie durch die notwendige Vorbehandlung mit einer dicken Metallschicht zugeschüttet. In Wirklichkeit erkennt man also nur das Metall, das darüber geschichtet ist. Auch hier ist die Information für »Altern« noch nicht zu sehen. Was tun?
Eine alte Genetikerregel lautet: Du findest ein Gen am besten, wenn du dir eine lebende Zelle anschaust, in der das gesuchte Gen nicht mehr arbeitet. Das hört sich widersprüchlich an, es funktioniert aber: Eine Zelle, die anders ist als alle anderen, ist oft leicht zu erkennen. Um das Gen für Altern zu finden, warte ich, bis eine Zelle auftaucht, die nicht altert.
Solche Zellen gibt es. Meistens ist ihr Auftreten jedoch kein Anlass zur Freude. Im Gegenteil. Meistens sind unsterbliche Zellen nichts anderes als Krebszellen.
Wie man aus Bananen DNA gewinnt
Irgendwo in der Erbsubstanz sitzen die Anweisungen für das Altern und Sterben. Wenn man aus einem solchen DNA-Faden die unerwünschten Alterungsbefehle herausschneidet, sollte ein unsterbliches Lebewesen entstehen – möchte man meinen. Dazu muss man zunächst an den Erbfaden gelangen. Eine einfache Methode der DNA-Gewinnung hat der Autor selbst erdacht und erprobt. Man nehme:
1/4 reife Banane
2 1/2 EL Kochsalz
ein dünner Schaschlikspieß (Holz)
einen Esslöffel hochwertiges Vollwaschmittel
Brennspiritus
Bananenviertel mit einer Gabel zerdrücken. Brei in ein Glas (0,3 Liter) geben, mit Leitungswasser auffüllen und einen Esslöffel hochwertiges Vollwaschmittel sowie 2 1/2 gehäufte EL Kochsalz zugeben. Kurz aufkochen umrühren, vom Herd nehmen. Abkühlen lassen und einen Schuss Brennspiritus zugeben. Mit dem Spieß (Spitze auf dem Boden des Glases) langsam rechtsherum rühren.
Um die Spitze wickelt sich nach kurzer Zeit eine geringe, aber gut sichtbare Menge einer gelatineartigen Substanz. Jetzt zieht man die Bleistiftspitze am Rand des Glases nach oben und zupft die Masse ab.
Man kann mehrmals in dem Bananen-Salz-Cocktail fischen. Immer wieder wickeln sich einige tausend Informationsfäden aus DNA und viele Proteine um die Bleistiftspitze. Würde man auf dieser DNA den Todescode finden, herausschneiden und den Rest des Informationsfadens wieder in eine Zelle einbauen, entstünde ein unsterblicher Bananenbaum.
(Der Versuch ist ungefährlich. Wenn Sie die DNA nicht herausgefischt hätten, hätten Sie diese zusammen mit der restlichen Banane verspeist.)