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Wesen, die nicht sterben

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Je weiter Biologen und Erdgeschichtsforscher in die Vergangenheit blicken, umso mehr wundern sie sich. Einst wurde die Welt von seltsam aussehenden Tieren und Pflanzen bevölkert. In urzeitlichen Meeren schwamm beispielsweise ein Krebs mit Namen Marrella splendens, der hinter seinen Facettenaugen furchtbare Hörner, so groß wie sein ganzer Körper, trug. Sein Rücken wurde von einem Paar gezackter Gestänge überdeckt, und seine Kiemen ragten seitlich aus der Körpermitte hervor. Übergroße gebogene Antennen erforschten die unwirtliche Umwelt. Das Tier passt in kein gängiges Schema der Biologie. Dabei lebte es vor nur fünfundsechzig Millionen Jahren, im Vergleich zur gesamten Erdgeschichte also vor recht kurzer Zeit. Die Dinosaurier waren gerade ausgestorben, als dieser skurrile Meeresbewohner auf der Bildfläche erschien.

Ein nicht weniger verwunderliches Wesen, das weder Tier noch Pflanze war, lebte weit früher im heutigen Australien, China und England. Es maß über einen Meter im Durchmesser und war vollkommen platt, zehnmal dünner als eine flach auf den Tisch gelegte Hand.

Die Oberfläche dieser Kreatur war ein wenig gefurcht, und in der Mitte war eine Längsachse zu erahnen. Das war alles. Auf der glatten Oberseite waren weder Kopf noch Antennen, Augen, Mund oder Schwanz zu erkennen. Vielleicht hat sich dieses Geschöpf wie unser heutiger Regenwurm fortbewegt – als riesige platte, gerunzelte Scheibe, die sich zusammenzog und wieder streckte. Nach Regenwurmart liefen ihr dabei vielleicht Muskelwellen über den Körper.

Diese Wurmscheiben krochen vor über sechshundert Millionen Jahren unter Wasser auf dem Grund umher, Millionen von Jahren, bevor es Dinosaurier oder gehörnte Krebse gab. Noch nicht einmal Insekten hatten sich zu jener Zeit in die Luft erhoben, und von Fischen war erst recht noch nichts zu erahnen.

Marrella-Krebse und Wurmscheiben erscheinen uns in Gestalt und Lebensweise bereits absonderlich. Aber schauen wir noch weiter in die Geschichte des Lebens zurück: Zu Urzeiten lebten Wesen, die eine noch weitaus merkwürdigere Eigenschaft besaßen. Sie waren beinahe unsterblich.

Das ewige Leben dieser Tiere birgt allerdings einen Widerspruch. Einerseits sterben »ewige Tiere« tatsächlich nicht (wenn sie nicht gewaltsam getötet werden). Es gibt bei ihnen keine Leichen. Andererseits jedoch besteht das einzelne Lebewesen als solches nicht dauernd fort. Alle Nachkommen der unsterblichen Urtiere sind Kopien desselben gemeinsamen Muttertiers, das sich schlichtweg aufteilt. Die kopierten Nachkommen gleichen der Mutter in allem: Vom Körperumriss bis hin zu ihrer Reaktion auf einen bestimmten Reiz, zum Beispiel eine Erschütterung oder einen Lichtblitz. Sie sind perfekte Abbilder ihrer Vorgängerin. Weil man die Nachkommen durch nichts voneinander und von ihrer Mutter unterscheiden kann, nennt man solche Lebewesen Klone (siehe Box »Klonen und Klonieren«).

Die unsterblichen Überlebenskünstler gibt es heute noch. Man begegnet ihnen tagtäglich, ohne es zu bemerken. In einem Tropfen aus einer Pfütze beispielsweise kann man eines dieser Urwesen auch ohne Vergrößerungsglas gerade noch erkennen: die Hydra. Das vielarmige Wesen kann nahezu jede Verletzung wieder ausgleichen, indem es die zerstörten Teile neu bildet.

Der Name der Hydra stammt aus der griechischen Sagenwelt. Dort gibt es ein Fabelungeheuer, dem für jeden ab geschlagenen Kopf mehrere neue wachsen. Auch in anderen Sagenkreisen taucht diese Idee auf, beispielsweise in den Heldengeschichten der Drachentöter. Diesen Sagen liegt eine Beobachtung zugrunde, die man offenbar schon vor einigen tausend Jahren machte. Auch wenn die antiken Berichterstatter mit der Größe des Monsters übertrieben, waren ihre Beschreibungen eine gute Vorlage für die Namensgebung des echten Tieres. In der Wirklichkeit ist es tatsächlich wie in der Sage: Den Hydren bereitet ein abgeschnittener Kopf keine Sorgen – er wächst einfach nach. Man kann eine Hydra sogar in fast beliebig viele Stücke zerschneiden oder durch ein feines Sieb drücken. Aus den kleinen Stückchen entstehen neue Hydren, oder die Stücke finden wieder zu einem gemeinsamen Körper zusammen.

Hydren vermehren sich, indem sie ab und zu kleine Ausstülpungen an ihrem Stiel bilden. Die Knospen wachsen zu neuen Tieren heran, lösen sich vom Elterntier und setzen sich irgend wo fest. Das Elterntier selbst überdauert die Jahrtausende nicht als einzelnes Wesen. Es überlebt in zahlreichen Teilen an verschiedenen Orten.

Eine andere Sorte unsterblicher Geschöpfe könnten so genannte Kugeltiere der Gattung Volvox sein.

Auch sie leben in Tümpeln und Pfützen. Da sie den Blattfarbstoff Chlorophyll in sich tragen, können sie sich mit Hilfe des Sonnenlichts ernähren. Manchmal vermehren sich die hohlen Kugeltiere in Massen und lassen dann ganze Gewässer grün erscheinen. 1981 entdeckten Jeffrey Pommerville und Gary Kochert, zwei Botaniker an der Universität von Georgia, dass jeder Einzelne der kugeligen Teichbewohner nach vier bis sieben Tagen eines natürlichen Todes stirbt.

Zuvor geben die hohlen Kreaturen in ihr Inneres Tochter-Volvoxe ab. Die Mutterkugel geht zugrunde und entlässt ihre Nachkommen, die dann heranwachsen und in sich wiederum Tochterkugeln bilden. So kann es vermutlich bis in alle Ewigkeit weitergehen, wenn keine Katastrophe dem Treiben Einhalt gebietet. (Hinzu kommt jedoch, dass auch Volvox eine innere Uhr zu haben scheint, die nach mehreren Generationen abläuft.) Der einzige offensichtliche Unterschied zwischen der Unsterblichkeit der Hydra und der des Kugeltieres ist, dass Hydra ihre Töchter nach außen abgibt, das Kugeltier dagegen nach innen. Alle Lebewesen, die in der Erdgeschichte vor den Kugeltieren entstanden sind, teilen sich bei ihrer Vermehrung in zwei neue Tiere auf. Vom Elterntier bleibt keine Spur. Volvox ist das erste Lebewesen, bei dem die Mutter zunächst erhalten bleibt und erst später stirbt. Deshalb sagt man, dass mit der Entstehung der Volvox-Hohlkugeln auch die ersten Leichen auf der Erde entstanden.

Die Teilungen ins ewige Leben – mit oder ohne Leiche – ähneln denjenigen von kopierten Menschen, die in diesem Buch an anderer Stelle vorgestellt werden (Seite 163ff.). Wenn es Wissenschaftlern oder Firmen demnächst gelingt, identische Menschen herzustellen, wiederholen sie im Grunde ein Experiment, das die Natur bereits in den Urtagen des Lebens vorgenommen hat. Der Unterschied: Die Natur hat diese Idee schon vor langer Zeit wieder aufgegeben. Und das aus gutem Grund.

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