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Selbstmord der Zelle
ОглавлениеDie Zeiger der Lebensuhr bestehen aus DNA. Wie aber funktioniert das von Genen gesteuerte Altern in der einzelnen Zelle?
Am Altern sind viele Zellvorgänge beteiligt. Einer der bekannteren ist das »Kappentragen«. Auf beiden Enden der DNA-Moleküle der einzelnen Chromosomen sitzt jeweils eine Art Kappe aus Wiederholungen der Basen folge TTAGGG, welche die DNA vor zersetzenden Stoffen schützt. Die Kappe ähnelt in ihrer Wirkung einem Ritterhelm, der Schwerthiebe abwehrt. Jedes Mal, wenn sich eine Zelle teilt und vermehrt, wird die Kappe vorübergehend abgenommen und nach vollendeter Teilung rasch wieder aufgesetzt. In alternden Zellen beobachtet man manchmal, dass die Schutzkappe von Teilung zu Teilung weniger haltbar zu werden scheint. In sehr alten Zellen ist sie bereits ziemlich brüchig oder verkürzt. Vielleicht wird sie von der Zelle absichtlich beschädigt. Das hat zur Folge, dass DNA-zerstörende Substanzen zuletzt ihren tödlichen Streich gegen die ungeschützte Erbsubstanz führen können.
So könnte sich auch erklären, warum sich alte Zellen nur noch schlecht züchten lassen und nach einer genau festgelegten Anzahl von Teilungen aufhören, sich zu vermehren: Die Schutzkappe der DNA ist zerstört. Selbst Sauerstoff und Wachstumsfaktoren nützen dann nichts mehr.
Doch warum weihen sich Zellen selbst dem Tod? Dafür gibt es drei Gründe. Der erste wurde bereits angesprochen. Beim Heranwachsen einer menschlichen Hand sind Selbstmordopfer notwendig, um die Finger herauszumodellieren. Es ist das gleiche Verfahren, mit dem auch ein Bildhauer aus einem Steinbrocken eine Figur entstehen lässt. Erst das Wegschlagen von Gestein führt zu den Formen des gewünschten Modells. Genauso ist es beim jungen menschlichen Embryo, der noch Schwimmhäute besitzt. Während die Finger und Zehen entstehen, sterben die dazwischenliegenden Hautbereiche ab. Das ist genetisch vorprogrammiert und sinnvoll.
Der zweite Grund für den absichtlichen Zelltod besteht darin, dass stark beanspruchte Zellen ersetzt werden müssen. Das gilt zum Beispiel für Hautzellen, die starkem Abrieb ausgesetzt sind. Aber auch die Zellen der Leber, die das Blut entgiften, können sich abnutzen. Früher oder später werden sie durch frische Leberzellen ersetzt. Alle Zellen des Körpers, die erschöpft sind und nicht mehr voll funktionieren, werden abgeschaltet und durch neue, frische Zellen ersetzt.
Auf diese Weise wird fast unser gesamter Körper mehrmals im Laufe unseres Lebens erneuert. Diese Generalüberholung geht in verschiedenen Organen allerdings verschieden schnell vonstatten. Besonders kurzlebig sind rote Blutzellen: 2,4 Millionen von ihnen sterben in jeder Sekunde in unserem Körper und werden sofort ersetzt. Leber- und Knochenzellen bleiben immerhin einige Jahre funktionstüchtig.
Lebensdauer einiger Zelltypen
Mittlere Lebensdauer | |
Magenzellen | 1,8 Tage |
Luftröhrenzellen | 47,5 Tage |
Lungenzellen | 81,1 Tage |
Rote Blutkörperchen | 120,0 Tage |
Haut des Ohres | 34,5 Tag |
Haut auf den Lippen | 14,7 Tage |
Während eines Jahres bilden sich rein rechnerisch neu:
228 Dünndarmwände
192 Magenausgänge
25 Hautbedeckungen der Lippen
18 Lebern
8 Luftröhren
6 Harnblasen
Nach etwa sieben Jahren sind wir im wahrsten Sinne des Wortes neue Menschen; nur Nerven und Muskeln werden praktisch nicht erneuert. Dass wir dennoch nicht alle sieben Jahre zart wie Neugeborene aussehen, liegt daran, dass sich erstens nicht alle Zellen gleichzeitig und aufeinander abgestimmt erneuern und dass zweitens ein anderes »Programm« das »Erneuerungsprogramm« überlagert. Es heißt Altern und Sterben, und es führt dazu, dass die Erneuerungsrate und -güte abnimmt.
Gäbe es Letzteres nicht, so könnten sich menschliche Körper möglicherweise sehr lange oder gar ewig erneuern und zellulär verjüngen. Warum also muss der mühsam aufgebaute Organismus nach einigen Jahrzehnten sterben?
Die Antwort auf diese Frage ist der dritte Grund für das in der Erbsubstanz programmierte »freiwillige« Sterben der Lebewesen.
Auch wenn es einem lebenden Erwachsenen nicht einleuchtet, dass er zugunsten seiner Art sterben muss, ist das sozial notwendige Geschehen – eben Altern und Sterben – in seiner DNA vorherbestimmt. Der Grund dafür ist, dass sich während der Entwicklung des Lebens ein über dem Einzelnen stehendes Prinzip entwickelt hat: das der Anpassung an veränderte Umweltbedingungen. Unsterbliche Einzelmenschen könnten diese Anpassung nicht leisten, denn sie würden immer wieder nur sich selbst aus der immer gleichen Erbsubstanz herstellen.
Ändert sich die Umwelt, so können möglicherweise nur solche Nachkommen überleben, die wegen der Vermischung des Erbgutes der Eltern und vielleicht auch durch kleine Zufallsabwandlungen (Mutationen) des Erbgutes besser als ihre Ahnen in das neue Umgebungsgefüge passen. Da niemand vorhersagen kann, welche Art von Veränderung stattfindet – Hitze, Kälte, Wind, Umweltgifte oder vermehrte UV-Einstrahlung –, ist die natürlicherweise auf gut Glück betriebene Zeugung von Nachkommen mit verschiedenen Eigenschaften oft erfolgreich. Eltern, die vielgestaltige Nachkommen in die Welt gesetzt haben, sterben zwar, um ihren Nachkommen im wahrsten Sinne des Wortes Platz zu machen, aber ihre Gene, die sie zum (Groß-)Teil vererbt haben, überleben in den Kindern.
Diese treibende Kraft der Arterhaltung – das Erschaffen und Hegen leicht abgewandelter Nachkommen – steht weit über den privaten Interessen der Einzelnen. Deshalb tragen alle in der heutigen Welt lebenden mehrzelligen Wesen das übergeordnete Hauptprogramm in sich, das es ihnen ermöglicht, zu sterben und zuvor Kinder zu zeugen, die ihnen zwar ähneln, aber nicht völlig gleichen. Dieses Programm ist so fest in der Erbsubstanz verankert, dass es, allgemein gesprochen, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
Wie mächtig diese Grundkraft ist, kann man auch daraus erahnen, dass viele Menschen, die keine leiblichen Kinder haben können, einen dringenden Kinderwunsch verspüren.
Es ist die »Stimme der Erbsubstanz«, die dieses Verlangen bewirkt, der oft so genannte biologische Imperativ. – Doch keine Regel ohne Ausnahme. In seltenen Fällen kann es vorkommen, dass Lebewesen eine Art Unsterblichkeit erlangen.